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Biografie über Frieder Weissmann
Der vergessene Maestro

Der deutsch-russisch-jüdische Dirigent und Pianist Frieder Weissmann, der 1933 fliehen musste, hat eine beachtliche internationale Karriere vorzuweisen. Um so befremdlicher, dass Musikgeschichtsbücher seinen Namen kaum nennen. Das ist nun anders: In seiner Biografie "Der vergessene Maestro" beleuchtet Rainer Bunz das Leben Frieder Weissmanns.

Von Stefan Amzoll | 21.06.2016
    Zwei Hände dirigieren ein Orchester.
    Einst gefeiert, heute vergessen: der Dirigent Frieder Weissmann (picture-alliance/ dpa / Hermann Wöstmann)
    Ein Junge kommt in einem mal russisch, mal polnischen Gebiet zur Welt und entdeckt als Knabe eine Musik, die so gar nicht nach der seiner Heimat klingt. Sie ist romantisch, spielt in großen Sälen und wird von einem gehobenen Publikum heiß verehrt. Da möchte er hin. Samuel Weissmann heißt er, erlernt früh das Klavierspiel und ist auch sonst begabt. Zum Jüngling gereift, interessieren ihn Kunst, Geschichte, Philosophie, Jurisprudenz. Samuel stammt aus dem Ostjudentum. Beide Eltern sind russische Juden und wünschen, dass die Kinder was werden. Aber sie werden verfolgt und gedemütigt, Morde an Juden grassieren, und darum entschließt sich die Familie, nach Deutschland, nach Hessen auszuwandern.
    1914 bricht bei dem 21jährigen Weissmann, geboren 1893 im Hessischen Langen, Jubel aus. Er hegt - die Propagandamaschine läuft auf Hochtouren - patriotische Gefühle und will wie viele seinesgleichen als Freiwilliger an die Front. Aber dahin zu kommen, hat seine Tücken. Juden werden zwar gezogen und wurden genauso verheizt wie ihre deutschen Kameraden, aber in Deutschland lebenden Russen bleibt das erwartete Glück, im Felde zu siegen, versagt. Pech? Nein. Triumpf für Samuel. Solche Leute wie er galten spätestens seit der Schlacht bei Tannenberg als zuerst unerwünschte, dann feindliche Ausländer, die abgeschoben gehörten. Er hätte "naturalisiert" werden müssen, eingebürgert, weg vom Russentum, hin zum preußischen Staatsbürger und Soldaten, was ihm verwehrt wird. Ironie der Geschichte: Wäre er Freiwilliger geworden und etwa an der Marnefront gefallen, tausende Platteneinspielungen mit E- und U-Musik, die er über Jahrzehnte weg gemacht hat, hätten sich sowenig in Realität verwandelt wie jene genannte, überaus fleißige Biografie des Rainer Bunz.
    Karrierestart in Frankfurt
    Statt im Kriege zu verbluten, hätte er Vorstellungen der Frankfurter Oper besucht, sagt der Autor, hätte Wagners "Parsifal", "Lohengrin", "Meistersinger" gesehen und wäre pianistisch so weit durchgebildet gewesen, dass er an dem Hause als Korrepetitor arbeiten durfte.
    Rainer Bunz fädelt jede für ihn greifbare Einzelheit auf. Manches von dem, was er beschreibt, hat mit seinem Delinquenten nur sehr indirekt zu tun. Viele Nebenfiguren treten auf den Plan. Hintergrundgeschehnisse, so relevante wie überflüssige. Oft kann der Autor aus Mangel an biografischen Fakten nur Vermutungen anstellen über Beweggründe und Entscheidungen seiner Figur, was die Lektüre in einigen Zügen problematisch erscheinen lässt. Gleichwohl schließt das Buch eine Lücke, denn über Frieder Weissmann ist kaum geforscht worden. Rainer Bunz weckt ihn gleichsam aus dem Schlaf, entdeckt ihn wieder, verlebendigt ihn. Eine Neuausgabe müsste allerdings entschlackt werden, damit der Text lesbarer wird.
    Musik 1: Beethoven: 8. Sinfonie, 2. Satz Scherzando
    Problematische Quellenlage
    Grosses Problem des Autors ist die defizitäre Situation des Quellenmaterials. Im Prinzip hätte er nur auf deutsche bzw. europäische Quellen zurückgreifen können. Das meiste aus dem persönlichen Archiv des über die Kontinente getriebenen Dirigenten sei verschollen. Zurück geblieben wäre ein schmaler Nachlass, der, wie er schreibt, "für die detaillierte Rekonstruktion seines Lebens kaum ergiebig ist." Tagebücher und andere Aufzeichnungen seien darin nicht zu finden, geschweige Partituren eigener Werke. Weissmann hat auch komponiert, was sein Musikertum erhöhte. - Es erstaunt, dass dennoch ein 420 Seiten starker Band herausgekommen ist.
    Plastisch zeichnet der Autor die Odysseen des Dirigenten nach. Weissmann entwickelt sich von der Pieke an. In Stettin erhält er 1916 wie Jahre zuvor Anton Webern seine erste Kapellmeisterstelle. Was er dort tatsächlich aufgeführt hat, ließe sich heute nicht mehr nachvollziehen, muss der Autor eingestehen. Besser erklärbar sei seine Umtaufung im gleichen Jahr, als eine Welle der Judenfeindschaft überall in Deutschland, auch an den deutschen Fronten hereingebrochen war. Das soll Weissmann veranlasst haben, seinen Vornamen Samuel in Friedrich oder Frieder umzuwidmen. Eine Schutzmaßnahme, aber auch ein Akt der Abkehr vom Ostjudentum, aus dem er kam und mit dessen Kultur er schon vorher nichts gemein haben wollte. Sein Erweckungserlebnis ist die IX. Sinfonie von Beethoven. Heilig ist ihm die Musik von Brahms, Bruckner, Mahler, Strauss. Die Kultur der bürgerlichen Glanzzeit, obwohl fragwürdig geworden durch den Blutzoll von Millionen Kriegstoten, erhob ihn und befestigte seine Ideale als Dirigent und Pianist.
    Ein Fülle Hintergründe entfaltet jedes der 8 Kapitel, die chronologisch Revue passieren. Entscheidend für den Aufstieg des reproduzierenden Künstlers sind die Jahre der Weimarer Republik. Die Spielzeit 1921/ 22 führt ihn an die Berliner Staatsoper, wo er korrepetiert. Er lernt Marlene Dietrich kennen, bricht aber den Kontakt schnell wieder ab. In der Hauptstadt leitet er bald das Berliner SO, bald die Berliner Philharmoniker. Große Stars wie Lotte Lehmann oder Richard Tauber stehen ihm zu Gebot.
    Faible für die Schallplatte
    Musik auf Schallplatte zu bringen, darin sieht er seine größte Chance und nutzt sie. Die Carl Lindström AG, seinerzeit der größte europäische Plattenhersteller, nimmt ihn als erste Firma unter Vertrag. Wagner-Opern kommen unter ihm vors Mikrophon, die Sinfonien Beethovens und Bruckners, Musik von Strauss und vieles mehr. An die 2000 Einspielungen bei Firmen in Deutschland, Europa, später den USA, gehen auf sein Konto. Eine stupende Leistung.
    Selbstredend muss der Jude Weissmann 1933 Deutschland verlassen. Beschäftigung findet er in Holland. Fortan pendelt er zwischen Europa und Argentinien, zwischen den USA und Europa. Im US-Betrieb lernt er die harten Bandagen des Music - Business kennen.
    Fast 20 Jahre, von 1939 bis 1958, suchte er sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten als Dirigent hinaufzuarbeiten. Was ihm nach des Autors Beschreibungen - trotz mancher Widerstände und Enttäuschungen - glänzend gelungen sein muss. Immerhin konnte er periodisch als Gastdirigent des New York City Symphony Orchestra und zahlreicher anderer US-Klangkörper sowie als Schallplatten-Dirigent auftreten und die Hauptwerke der Klassik und Romantik dirigieren. Zurück nach Europa, trieb es ihn bis ins hohe Alter musikalisch um. Frieder Weissmann starb 1984 in Amsterdam. Das Leben dieses Künstlers wieder ins Gedächtnis gerufen zu haben trotz magerer Quellenlage, das ist das große Verdienst des Autors.
    Rainer Bunz: Der vergessene Maestro - Frieder Weissmann
    Books on Demand Norderstedt, 432 S.
    ISBN 978-37407-090899-3