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Biologie
Tiere haben Persönlichkeit

Der eigene Dackel ist furchtsam und unselbstständig, der von nebenan forsch und eigensinnig - Tiere unterscheiden sich in ihrem Verhalten und ihrem Charakter. Was für Tierhalter selbstverständlich ist, haben Biologen jedoch lange Zeit ignoriert oder als unwissenschaftliches Laiendenken abqualifiziert. Es schien nicht zur klassischen Evolutionstheorie zu passen.

Von Martin Hubert | 02.11.2014
    Den Schnabel voller Kot vom Nachwuchs fliegt eine Kohlmeise (Parus major) am 08.05.2014 aus einer Maueröffnung in Petersdorf im Landkreis Oder-Spree (Brandenburg).
    Eine Kohlmeise bei der Reinigung des Nests (picture alliance/dpa, Patrick Pleul)
    Ein dichtes Waldgebiet in Bayern, zwischen dem Starnberger und dem Ammersee. In der Ferne thronen die Alpen, die Luft riecht nach Laub, Rinde, dunkler Erde. Niels Dingemanse, ein Niederländer, und seine amerikanische Mitarbeiterin Robin Abbey-Lee arbeiten sich mit großen Schritten einen steilen Hang hinauf.
    "Wir wollen gleich die erste Falle aufstellen."
    Die Vögel, die über diesem Waldgebiet kreisen, können jeden Morgen das gleiche Schauspiel beobachten. Die Ornithologen vom Seewiesener Max-Planck-Institut schwärmen aus in alle Richtungen zu insgesamt 600 Nistkästen. Egal ob die Sonne brennt oder Eiseskälte herrscht, ob es Bindfäden regnet oder Schneematsch den Boden in eine Rutschbahn verwandelt. Sie arbeiten an einem Langzeitprojekt, das sie zwingt, ihre Versuchstiere lückenlos zu beobachten. Aus ihrem Verhalten schließen sie - auf den Charakter.
    Eine Kohlmeise sitzt auf ihrem Nest. Zu sehen sind auch Jungvögel.
    Eine Kohlmeise sitzt auf ihrem Nest (MPI für Ornithologie, Seewiesen/Alexia Mouchet)
    Niels Dingemanse und Robbin Abbey-Lee haben ihr Ziel erreicht: den Nistkasten eines Kohlmeisenpaares. Ein kurzer Blick zeigt, dass hier gerade mehrere Eier ausgebrütet werden. Die Eltern sind ausgeflogen, Dingemanse kann in Ruhe seine Falle anbringen.
    "Trap is set."
    Wenn eine Kohlmeise in den Nistkasten zurückkehrt, soll sie einen Türmechanismus auslösen, der sie einschließt. Robin Abbey-Lee will sie dann einfangen und kurz mitnehmen - zu Forschungszwecken. Damit die Vögel aber überhaupt zum Nistkasten kommen, müssen die beiden Forscher erst einmal wieder den Hang hinunterstapfen und sich verstecken. Einige Zeit später geht es erneut nach oben.
    Dingemanse: "Sehen Sie, die Falltür ist geschlossen."
    Abbey-Lee: "Keine Kohlmeise gefangen. Entweder hat sie die Falle erst beim Rausfliegen angestoßen oder manchmal gucken sie einfach nur in den Kasten, ohne richtig hineinzuschlüpfen."
    Schlaue und vorsichtige Kohlmeisen. Persönlichkeitsforschung an Tieren ist schwierig und aufwändig. Man ist gerade erst dabei, diese Forschung zu etablieren und die Begriffe zu definieren.
    "Wir definieren die Persönlichkeit von Tieren darüber, dass sie sich dauerhaft in ihrem Verhalten voneinander unterscheiden. Wenn wir das Verhalten eines Tieres messen, dann sollte sich aus der ersten Beobachtung vorhersagen lassen, wie es sich im Unterschied zu anderen künftig verhalten wird."
    Wissenschaftliche Bestätigung für Tierbesitzer-Erfahrung
    Bei Hunden, Katzen, Vögeln und Ameisen, bei Fischen, Schweinen, Schimpansen und Gorillas, ja sogar bei Spinnen und Läusen finden sich Tiere, die entweder dauerhaft mutig oder vorsichtig, scheu oder tapfer, aggressiv oder friedfertig sind. Sie bestätigen damit, was Tierbesitzer schon seit langem wissen: dass Katze Susi scheuer ist als Kater Rudolf, oder eigene Dackel mutiger als der von nebenan.
    Dingemanse: "Merkwürdigerweise haben sich die Verhaltensbiologen aber lange Zeit nicht ernsthaft für diese individuellen Unterschiede interessiert. Wir verstehen also noch überhaupt nicht, warum es sie gibt und beginnen erst, das genauer zu erforschen."
    Das Seattle Aquarium in Washington. In einem 60-Liter-Becken treiben 44 Oktopusse mit rötlichen, etwa 10 cm langen Körpern und drei Mal so langen Fangarmen. Plötzlich wird das Becken geöffnet und Wissenschaftler rücken den ahnungslosen Tiere mit Bürsten zu Leibe. Sie reiben damit über deren glitschige Körper und Fangarme. Dokumentiert ist: Einige Tiere reagieren auf die Bürstenattacke mit Flucht - andere werden aggressiv.
    Im Seewiesener Waldgebiet konnte Robin Abbey-Lee inzwischen eine Kohlmeise mit Hilfe der Nistkastenfalle einfangen. Sie hat den Vogel behutsam aus dem Kasten geholt und beginnt ihn nach allen Regeln der Kunst zu untersuchen.Jeden Tag misst Robin Abbey-Lee die Körpergröße und das Gewicht. Sie registriert die Atemfrequenz und nimmt Blut ab. Alle diese Daten werden täglich neu in eine Datenbank eingegeben und mit den Daten der anderen Kohlmeisen im Projekt verglichen. Notwendige Basisarbeit, meint Niels Dingemanse. Denn es kann viele Ursachen dafür geben, warum Tiere unterschiedliche Eigenarten ausbilden.
    "Die erste und einfachste Idee, der wir nachgehen, lautet, dass sich einzelne Tiere in elementaren Zuständen und Eigenschaften unterscheiden. Zum Beispiel in ihrer Größe, ihrem Gewicht oder in ihrer Stoffwechselrate, wie schnell sie also Energie verbrauchen. Einige dieser Zustände bleiben relativ konstant, andere verändern sich immer wieder."
    Es existieren offenbar Zusammenhänge zwischen körperlichen Merkmalen und individuellem Verhalten. Max Wolf vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei warnt jedoch vor voreiligen Kurzschlüssen, etwa vor der Behauptung, ein Tier mit höherer Stoffwechselrate besitze auch mehr Energie, daher müsse es auf jeden Fall aktiver und mutiger sein.
    "Das hat man am Anfang gedacht, dass aktivere Typen eben auch einen viel höheren Metabolismus haben als weniger aktive Typen, aber man stellt jetzt mehr und mehr fest, dass das nicht ganz so einfach ist, und das ist eben ein aktives Forschungsgebiet, wo wir jetzt gerade dabei sind diese Zusammenhänge besser aufzuklären."
    Verschiedene Persönlichkeiten erhöhen die Gruppenintelligenz
    Wie beim Menschen werden die persönlichen Eigenschaften von Tieren immer auch geprägt durch die Wechselwirkung mit der Umwelt. Erleben die Tiere dort häufig den Angriff von Fressfeinden oder nicht, werden sie im Nest gut oder schlecht versorgt?
    Bei Ratten umfasst ein Wurf in der Regel acht bis 14 hungrige Junge. Je weniger Geschwister eine Ratte hat, desto besser kann sich die Mutter um sie kümmern. Sie wird dann besser ernährt und schwerer. Studien zeigen: Solche Ratten sind auch mutiger und neugieriger. Bei Kaninchen hält das bis ins Erwachsenenalter an, selbst wenn dann ganz andere Umweltbedingungen für sie herrschen. Die Anzahl der Geschwister prägt Ratten und Kaninchen lebenslang.
    Der Berliner Biologe Max Wolf gehört zu den Wissenschaftlern, die dem Gebiet der Tierpersönlichkeitsforschung vor circa zehn Jahren Leben eingehaucht haben. Er nahm ernst, was Biologen aufgrund dogmatischer Annahmen lange Zeit ignoriert hatten. Tiere einer Art und einer Gruppe unterscheiden sich.
    "Wissenschaftler, die sich mit Tierverhalten beschäftigen, sehr lange sind die davon ausgegangen, dass die Verhaltensunterschiede zwischen Tieren, dass das eher etwas ist, was wir noise nennen, also Schwankungen, die eigentlich nicht irgendeinen systematischen Grund haben, sondern eben zufällige Schwankungen im Verhalten sind. Und man ist sehr lange davon ausgegangen, dass im Prinzip die meisten Tiere innerhalb einer Gruppe, die im gleichen Habitat lebt, dass die eigentlich einen ähnlichen Verhaltenstyp zeigen sollten."
    Zehn Meisenküken sperren im Nest ihre Schnäbel auf.
    Junge Meisen drängen sich im Nest (MPI für Ornithologie, Seewiesen/Ying Chi Chan)
    Die Tiere einer Gruppe sollten sich deshalb ähneln, weil sie sich alle in gleicher Weise optimal an ihre Umwelt angepasst hätten. In einer gefährlichen Umwelt mit vielen Fressfeinden sollten also alle eher vorsichtig und zurückhaltend sein, in einer Umwelt ohne Gefahren dagegen mutig und neugierig. Nun stellt sich Max Wolf die Frage: Wie können sich Tiere ein und derselben Gruppe an ihre Umwelt anpassen und dabei individuelle Unterschiede ausbilden? Er geht das Problem vor allem als Theoretiker an und führt Besucher in seinem Berliner Büro zuerst einmal an seinen Computer.
    "Ja hier sieht man, ich mache hier gerade mal was auf, hier sieht man ein typisches Computersimulationsprogramm, was ich dazu verwende, um den evolutionären Prozess zu untersuchen und verschiedene Faktoren oder die Konsequenz von verschiedenen Einflussfaktoren wie zum Beispiel Gruppen, Nahrungsangebot, Sozialstruktur zu untersuchen. Hier sieht man ein typisches Ergebnis einer solchen Computersimulation."
    Auf dem Bildschirm erscheinen Tabellen, Koordinatensysteme, Linien, die sich schneiden und überkreuzen. Max Wolf simuliert die Evolution. Er sucht nach den Bedingungen für dauerhafte Persönlichkeitsunterschiede. Variiert dafür die Größe einer Tiergruppe, Feinde, Nahrungsvorräte. Spielt durch, ob Genveränderungen auftreten oder sich die Umwelt verändert. Dann berechnet er, wie diese Bedingungen miteinander wechselwirken und auf das Leben der Tiergruppe zurückwirken. Auf jeden Fall, hat Wolf herausgefunden, bringen Persönlichkeitsunterschiede evolutionäre Vorteile - und zwar für die Gruppe. Je breiter die Persönlichkeitsstruktur der Gruppe aufgestellt ist, desto überlebensfähiger ist sie auch.
    "Ganz generelle Vorhersage wäre hier, dass diversere Gruppen eine höhere Anpassungsfähigkeit haben an Umweltveränderungen, weil unterschiedliche Verhaltenstypen unterschiedlich gut in unterschiedlichen Umwelten sind und eine Gruppe, die eben verschiedene Verhaltenstypen hat, hat das Ausgangsmaterial, um in unterschiedlichsten Umwelten einen erfolgreichen Verhaltenstypus zu zeigen."
    Keine Umwelt bleibt immer gleich: zum Beispiel können Fressfeinde einwandern oder die Vorräte knapp werden. Die vorsichtigen Tiere erhalten dann den Tierstamm, weil sie nicht so leicht gefressen werden. Die mutigen können neue Nahrungsquellen erschließen, wenn die alten zur Neige gehen. Insgesamt, so Max Wolf, mache dieser Mix die Gruppe auch schlauer.
    "Eine Hypothese hier wäre, dass Diversität in Gruppen dazu führt, dass Entscheidungen langsamer getroffen treffen, weil sich hier unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Verhaltenstypen erst miteinander abstimmen müssen, aber dass Diversität oft dazu führt, dass akkuratere Entscheidungen getroffen werden, weil unterschiedliche Teilaspekte oder Bewertungen integriert werden können, dadurch dass diverse Wahrnehmungen vorliegen."
    Wenn manche Tiere auf bestimmte Reize erschrocken reagieren, andere aber nicht, kann es sein, dass die Gruppe tatsächlich erst dann panisch flüchtet, wenn wirklich ein Fressfeind auftaucht, und nicht schon, wenn der Wind die Büsche bewegt. Persönlichkeitsunterschiede ermöglichen es, eine Situation auf der Grundlage verschiedener Perspektiven zu beurteilen. Sie erhöhen sozusagen die Guppenintelligenz. Bedeutet das, dass nur in sozialen Gruppen zusammenlebende Tiere Persönlichkeitsunterschiede entwickeln? Die Studienlage ist momentan so unübersichtlich, dass Max Wolf nicht hundertprozentig sagen kann, wie weit das empirisch zutrifft:
    "Aber es ist trotzdem so, dass man heute denkt, zumindest aus der biologischen Forschung, dass soziale Prozesse einer der ganz wesentlichen Faktoren sind, die dazu führen, dass wir Persönlichkeitsunterschiede beobachten. Also, wenn Individuen solitär leben in einer Umwelt, würde man eigentlich erwarten, dass alle Individuen wirklich den gleichen Verhaltenstyp ausprägen. Das Interessante ist eben, dass wenn Tiere in der Gruppe zusammenleben, dann gibt es eben nicht nur eine Umwelt, dann führte nämlich die Interaktion zwischen den Individuen dazu, dass unterschiedliche Individuen unterschiedliche Umwelten erfahren."
    Persönlichkeit als Produkt der sozialen Arbeitsteilung
    Ein Ansatz, mit dem die Forscher argumentieren, ist das Konzept der sozialen Nischen. Es besagt, dass sich Tiere persönlich voneinander unterscheiden, weil sie in ihrer Gruppe eine Nische finden müssen, die noch nicht besetzt ist.
    Ein See, in dem Fische ihr Futter suchen. Die meisten machen das am Rande des Sees: Denn hier gibt es wenige feindliche Fische, die Jagd auf sie machen. Die Fressfeinde tummeln sich eher in der Mitte des Gewässers. Es ist also ganz natürlich, dass die meisten Fische am Rand des Sees bleiben. Allerdings müssen sie dort dann mit vielen anderen vorsichtigen Artgenossen um das Futter konkurrieren. Diese Konkurrenz wäre in der Mitte weniger ausgeprägt.
    Wolf: "Wenn viele Tiere am Rande des Sees sind, weil es hier weniger Risiko gibt, dann wird es sozusagen attraktiver für ein einzelnes Tier, in die Mitte des Sees zu gehen, zu dem risikobehafteteren Ort, weil es hier der Konkurrenz ausweichen kann der anderen Tiere. Was dazu führt, dass einige Tiere risikofreudiger erscheinen, weil sie so der Konkurrenz ausweichen und in die Mitte des Sees gehen und die anderen Tiere am Rande des Sees bleiben und dort Futter suchen."
    Die Fischgruppe im See teilt sich in zwei Persönlichkeitstypen auf. Die einen bleiben eher ängstlich und zurückhaltend, die anderen lernen in gefährlicheren Gefilden mutig, aufmerksam und aktiv zu sein. Die Biologen sprechen vom Prinzip der frequenzabhängigen Selektion. Das bedeutet, dass persönliche Eigenschaften auch davon abhängen, wie viele andere Tiere bereits ein bestimmtes Verhalten zeigen.
    "Man könnte sich vorstellen, dass ich ein relativ aggressives Verhalten zeige und dadurch meinen sozial kompetenten Interaktionspartner dazu bringe, relativ defensiv zu sein. Weil wenn er mit einem aggressiven Verhaltenstyp interagiert, sollte er sich besser zurückhalten, um keine Eskalation herauszufordern. Und dadurch kann ich mir möglicherweise Ressourcen unter den Nagel reißen, weil der andere sich zurückhält, weil er bemerkt, dass ich aggressiv bin."
    Wenn sich jedoch sehr viele Tiere aggressiv verhalten, kann es umgekehrt für einige von ihnen lohnenswert sein, sozial zu agieren. Sie können dann Konflikte mit den aggressiven Tieren durch sensibles und empathisches Verhalten entschärfen.
    "Und das haben wir untersucht mit mathematischen Modellen und Computersimulationen und haben festgestellt, dass man vorhersagen kann, ganz generell in vielen Situationen, dass man diesen Mix aus sozial kompetenten und nicht kompetenten Tieren erwarten würde."
    Die Tatsache, dass es entweder schon viele soziale oder viele unsoziale Tiere gibt, führt dazu, dass manche Tier die entgegengesetzte Persönlichkeitseigenschaft ausbilden. Persönlichkeit ist sozusagen auch ein Produkt "sozialer Arbeitsteilung".
    Ein zitterndes Spinnennetz in einem Berliner Labor. Wissenschaftler haben es mit einem künstlichen Luftzug in Schwingungen versetzt. Die erschrockenen Tiere glauben nun, ein Vogel käme angeflogen und nehmen ihre Bedrohungshaltung ein. Sie ziehen ihre dürren Bein an und verknoten sich zu einem bewegungslosen Punkt. Manche lösen sich daraus relativ schnell - die Mutigen. Andere - die Ängstlichen - verharren länger. Die Mutigen werden dabei mit der Zeit immer mutiger und die Vorsichtigen immer vorsichtiger. Und zwar umso offensichtlicher, je besser sich die Tiere untereinander kennen. Offenbar baut jede Spinne die Verhaltensweise aus, in der sie sich von den anderen sowieso schon unterscheidet.
    Aggression nach Versorgungslage
    Wieder im Waldgebiet von Seewiesen. Niels Dingemanse flüstert, während er das Experiment beschreibt, das gerade angelaufen ist. Ganz in der Nähe hängt ein Nistkasten an einem Baum. Vor dem Nistkasten haben Dingemanse und Robin Abbey-Lee die lebensechte Attrappe einer besonders großen und starken Kohlmeise aufgestellt, einen Konkurrenten für das Männchen, das den Nistkasten benutzt. Zusätzlich spielen sie aus einem Lautsprecher aggressive Gesänge des Konkurrenten ein. Wird das Kohlmeisen-Männchen zu seinem Nistkasten kommen, um den Konkurrenten anzugreifen und zu verjagen?
    Tatsächlich erscheint das Männchen und fliegt um den Baum herum. Es greift den künstlichen Konkurrenten aber nicht an. Es gibt noch nicht einmal Alarmrufe von sich, sondern pfeift seinen ganz normalen Gesang. Anders als in anderen Experimenten, in dem die Vögel die Attrappe regelrecht zerrissen. Niels Dingemanse und seine Mitarbeiter führen diesen Aggressionstest zu verschiedenen Zeiten der Brutsaison durch, um herauszufinden, wann ein Vogel sich eher mutig und aggressionslustig verhält, wann eher scheu und zurückhaltend. Dahinter steckt eine bestimmte Annahme zur Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden bei Tieren, die Theorie der „asset protection": Tiere schonen ihre Ressourcen um die eigene Fitness zu erhöhen.
    Kohlmeise (r.) beim Aggressionstest mit einer Meisenattrappe.
    Kohlmeise (r.) beim Aggressionstest mit einer Meisenattrappe. (MPI für Ornithologie, Seewiesen/Jan Wijmenga)
    Dingemanse: "Das bedeutet, dass man sicherstellen sollte, seine Ressourcen nicht zu vergeuden, wenn man viel davon hat. Stellen Sie sich einen Vogel vor, der viele Ressourcen besitzt. Er ist zum Beispiel jung und hat noch lange zu leben und lebt in einem hervorragenden Territorium mit üppigen Nahrungsquellen, die er nutzen kann, um viele Nachkommen hervorzubringen. Nachwuchs zu zeugen und aufzuziehen ist aufwändig, man muss hart dafür arbeiten. Die Idee ist nun, dass Tiere mit guten Zukunftserwartungen sicherstellen sollten, lange genug zu leben, sodass sie ihre Ressourcen in wirkliche Fitness umwandeln können, also in eine große Zahl von Nachkommen."
    Für die Persönlichkeitsentwicklung hieße das: Tiere mit hoher Fitnesserwartung sollten eher vorsichtig und zurückhaltend sein, um ihre goldene Zukunft nicht zu gefährden. Tiere mit geringer Zukunftserwartung sollten sich dagegen risikofreudig und mutig verhalten. Dadurch hätten sie die Chance, mehr Ressourcen anzuhäufen, mehr Weibchen oder mehr Futterquellen. Max Wolf hat diese Theorie in Berlin in seinen Computersimulationen durchgespielt.
    "Wir haben Populationen simuliert, wo sich Individuen in ihren Fitnesserwartungen unterscheiden und haben untersucht, wie sich die Risikofreudigkeit dieser Individuen entwickelt im Laufe der Evolution. Das heißt wir haben diese Tiere mit unterschiedlichen Verhaltenskontexten konfrontiert, wo sie eine gewisse Aggression zeigen, wo sie auf Futtersuche sind und wir haben den Tieren die Möglichkeit gegeben in unseren Modellen, unterschiedliche Risikofreudigkeiten an den Tag zu legen. Was wir festgestellt haben: dass Tiere, die hohe Fitnesserwartungen haben, dass die auch konsistent weniger risikofreudig sind in den unterschiedlichsten Verhaltenskontexten als Tiere, die eine geringeres Fitnesserwartung haben."
    Im Wald von Seewiesen bereitet Robin Abbey-Lee ein Experiment vor, mit dem sich die Theorie der Fitnesserwartung testen lässt: den so genannten Explorations- oder Erkundungstest. Sie sperrt eine Kohlmeise in einen Käfig, in dem verschiedene Gegenstände liegen. Sofort beginnt der Vogel aufgeregt hin und her zu hüpfen und zu fliegen, um die unbekannte Gegend zu erkunden. Eine Videokamera nimmt das auf.
    "Wir zählen dann hinterher, wie oft die Tiere sich in bestimmten Regionen des Käfigs aufhalten, wie oft sie auf den Boden hüpfen und ähnliche Dinge. Es geht darum, ihr Erkundungs- und Aktivitätsverhalten in einer neuen Umgebung zu erheben. Und wir glauben, dass das mit anderen Persönlichkeitseigenschaften wie Mut und Aggressivität zusammenhängt, die wir ja ebenfalls messen."
    Insgesamt belegen die Seewiesener Freiluftexperimente zum Aggressions- und Erkundungsverhalten von Kohlmeisen die These von der Fitnesserwartung recht gut. Niels Dingemanse versetzte Tiere zum Beispiel in Umgebungen mit vielen oder wenigen Fressfeinden oder versorgte sie sehr gut oder sehr schlecht mit Futter.
    "Tiere, bei denen wir die Ressourcen- und Fitnesserwartung willkürlich erhöht haben, werden tatsächlich danach vorsichtiger, passiver und scheuer - Tiere, deren Ressourcen wir verringert haben, werden mutiger und aggressiver. Das ist ein Beleg für die adaptive Persönlichkeitstheorie."
    Die bisherige Forschung zur Tierpersönlichkeit zeigt: Viele Faktoren wirken auf die Tiere ein: körperliche Anlagen, die Umgebung und soziale Nischen. Das macht das Verhalten der Tiere relativ gut vorhersehbar - aber eben auch nicht in jedem Fall. Das Wechselspiel zwischen Blattläusen und ihren Fressfeinden, den Marienkäfern, ist ein Spiel auf Leben und Tod. Nähert sich ein Käfer, kann sich die Laus von der Pflanze, von der sie sich gerade ernährt, in die Tiefe stürzen. Sie entkommt dann der Gefahr, muss aber mühsam eine neue Nahrungsquelle suchen. Bleibt sie sitzen und trotzt der Gefahr, kann sie gefressen werden. Dabei lassen sich dreierlei Persönlichkeitstypen unter den Blattläusen beobachten. Manche lassen sich ängstlich immer fallen, andere bleiben mutig immer sitzen - und der dritte Typ macht mal das eine und mal das andere.
    Konstanten und Schwankungen der Persönlichkeit
    Manchmal verhalten sich mutige Tiere scheu und vorsichtige Tiere tollkühn - Nicht selten gibt es Tiere, die in ihrem Verhalten flexibel sind. Tierpersönlichkeitsforscher müssen also erklären, warum Tierpersönlichkeiten statistisch gesehen sehr konstant, aber auch flexibel sein können. Persönlichkeitsforschung ist eine komplexe Angelegenheit. Das musste auch die Humanpsychologie einsehen, die die menschliche Persönlichkeit schon seit Jahrhunderten kategorisiert.
    Am Rand des Stadtzentrums befindet sich neben hohen Bäumen das Institut für Psychologie der Universität Göttingen. Im zweiten Stock residiert der Humanpsychologe Lars Penke in einem großen halligen Büro und schildert wie schwierig es ist, die Eigenarten von Menschen zu verstehen.
    "Die sind nicht völlig konsistent! Also, wenn Sie probieren, zum Beispiel selbst etwas vermeintlich einfaches wie Schüchternheit herunter zu brechen auf bestimmte Verhaltensweisen, dann ist das Verhalten, was Leute zeigen, trotzdem extrem heterogen. Manche machen das, manche machen das nicht, manche machen es mehr, manchmal weniger - ist gar nicht so einfach."
    Psychische Verhaltensweisen sind nie hundertprozentig determiniert und vorhersagbar, unterstreicht Lars Penke. Es gibt zwar einen statistisch nachweisbaren Trend, ob sich eine Person eher mutig, schüchtern oder neugierig verhält. Dahinter stehen körperliche und genetische Anlagen, die Sozialisation und generelle Lebenserfahrungen - in bestimmten Lebensphasen oder Situationen aber kann der Schüchterne mutig und offen, der Mutige feige handeln. Studien zeigen, dass sich die Persönlichkeit auch über die Lebensphasen hinweg verändern kann. Unterschiedlichste Methoden und Theorien sind entwickelt worden, um das zu verstehen - einen Konsens gibt es nicht. Humanpsychologen wie Lars Penke nehmen daher interessiert zur Kenntnis, dass die Tierpersönlichkeitsforscher auf das gleiche Problem stoßen und evolutionäre Erkenntnismodelle darauf anwenden
    Zehn Meisenküken sperren im Nest ihre Schnäbel auf.
    Meisenküken im Nest (MPI für Ornithologie, Seewiesen/Jan Wijmenga)
    "Von den verschiedenen Modellen, die möglich sind, um diese Unterscheide zu erklären, finde ich am interessantesten die Idee, dass die sich unterscheiden, je nachdem, in welcher Nische man sich aufhält. Diese Nischen können zeitlich variieren, können auch räumlich variieren und haben sicherlich auch mit sozialen Nischen zu tun. Und so gibt es sicherlich in vielen Populationen eine Balance darin, wie gut eine bestimmt Persönlichkeit da funktioniert oder gerade nicht mehr funktioniert."
    Lars Penke hat Kontakt mit Niels Dingemanse aufgenommen. Sie werden sich treffen, um die unterschiedlichen Begriffe und Konzepte der menschlichen und tierischen Persönlichkeitsforschung zu vergleichen. Und werden dabei auch durch den Wald um Seewiesen gehen, um zu sehen, welche Früchte die Methoden der Feldforschung versprechen.
    "Ich denke, das ist eine sehr hilfreiche Erfahrung, dass jetzt zwei Felder die gleiche Thematik erstmal relativ unabhängig voneinander beackern, und dann gucken, wie man das Ganze zusammen bringen kann."
    Max Wolf: "Das ist ganz interessant, dass es sensible Tiere gibt, Tiere die sehr stark reagieren auf Umweltveränderungen und andere Tiere, die im Prinzip Umweltveränderungen ignorieren. Das ist eine Beobachtung, die man sehr viel bei Nagetieren gemacht hat - und beim Menschen."