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"Bis zuletzt uneinsichtig"

Erich Honecker, langjähriger Staatsratsvorsitzender der DDR, wäre am 25. August 2012 100 Jahre alt geworden. Karl-Wilhelm Fricke, ehemaliger Leiter der Ost-West-Abteilung im Deutschlandfunk, rechnet Honecker dessen aufrechte Haltung in der nationalsozialistischen Diktatur an, betont aber auch, dass er als "gläubiger Kommunist" keine Skrupel vor Gewalt im Innern und nach außen gehabt habe.

Karl-Wilhelm Fricke im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.08.2012
    Christoph Heinemann: Am 25. August 1912, morgen vor 100 Jahren, wurde Erich Honecker im saarländischen Neunkirchen geboren. Offiziell war er nicht der oberste Bauer, sondern bis zum 17. Oktober 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Staatsrats der DDR - 18 Jahre lang, was aus heutiger Sicht auch insofern verwunderlich ist, da Erich Honecker nicht gerade als Charismatiker in Erinnerung geblieben ist, auch nicht rhetorisch.

    O-Ton Erich Honecker: "Den Sozialismus, so sagt man bei uns immer, in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf."

    Heinemann: Dieses Zitat war jetzt noch einigermaßen knackig, aber stellen Sie sich in diesem Duktus nichtssagende Parteitagsreden vor. - Karl-Wilhelm Fricke ist der ehemalige Leiter unserer Ost-West-Redaktion, einer der besten Kenner der Geschichte des SED-Regimes und Opfer dieses Regimes. Er war selbst im berüchtigten Gefängnis Bautzen eingesperrt. Mit ihm habe ich gestern das folgende Gespräch geführt. - Herr Fricke, Helmut Schmidt hat einmal die Frage gestellt: Wie konnte sich dieser mittelmäßige Mann Erich Honecker so lange an der Spitze des Politbüros halten? Wie erklären Sie sich das?

    Karl-Wilhelm Fricke: Das ist eine wirklich entscheidende Frage, denn im Grunde ist er ein mittelmäßiger Mann, wie Helmut Schmidt gesagt hat, tatsächlich. Er ist rhetorisch nicht begabt, im Gegenteil. Er verschluckt die Silben und er ist auch nicht von strategischem Weitblick. Er hat keine großen ideologischen Höhenflüge gezeigt. Er war eigentlich ein Parteiarbeiter, jederzeit zuverlässig, politisch sozialisiert, als Funktionär des kommunistischen Jugendverbandes und später der KPD, in die er 1930 schon eingetreten ist. Was ihm anzurechnen ist, ist seine aufrechte Haltung in der nationalsozialistischen Diktatur. Er war im illegalen Kampf gegen Hitler und er war gleichzeitig verfolgt. Er hat also dann neun Jahre hinter Gittern gesessen, er war in Brandenburg-Görden. Er war dann eine Zeit lang auch in Berlin-Lichtenberg im Gefängnis und ist dann 1945 aus Brandenburg-Görden befreit worden von der Roten Armee. Das hat natürlich sehr starke Bindungen an die Sowjetunion damals und Stalin wohlgemerkt geschaffen, wobei man hinzufügen muss, dass Erich Honecker zweimal in der Sowjetunion zur Schulung war: einmal 1930/31 in der Internationalen Lenin-Schule in Moskau und dann 1955/56 noch mal in der Parteihochschule der KPDSU.

    Heinemann: Staats- und Parteichef wurden Ostblockpolitiker ja nur mit Moskaus Segen. Was erwartete die Sowjetführung 1971 von Erich Honecker?

    Fricke: Honecker hatte sich in Moskau empfohlen als absolut zuverlässiger Bundesgenosse der Sowjetunion.

    Heinemann: Das war Ulbricht nicht mehr?

    Fricke: Das war Ulbricht auch immer, zu jeder Zeit. Das war das Geheimnis auch seiner eigenen Macht. Aber Ulbricht hat im Laufe der Zeit nach Festigung seiner Position Eigenwilligkeiten entwickelt. Er wollte einen Reformkurs steuern, den Erich Honecker für gefährlich hielt, und nicht nur er hielt ihn für gefährlich, sondern auch Leonid Breschnew, der damalige Chef der KPDSU in Moskau. Und dann hat Moskau das Plazet gegeben, Ulbricht abzulösen. Die Entscheidung ist in Moskau gefallen, nicht in Berlin.

    Heinemann: Und sein Gesellenstück hatte Honecker mit dem Bau der Mauer abgeliefert?

    Fricke: Das ist richtig, genau. Er war der Chef des Stabes. Er hat das alles organisiert, und er war eigentlich der Vollstrecker des Abgrenzungswillens Walter Ulbrichts.

    Heinemann: Man hat immer gesagt, der Reformer Erich Honecker. Gab es einen Unterschied zwischen den späten Ulbricht- und den frühen Honecker-Jahren?

    Fricke: Ja, es schien so. Honecker hatte dann einen sozialpolitischen Kurs eingeleitet, der auf eine gewisse Liberalisierung hoffen ließ. Sie trat dann allerdings nicht ein, sondern wurde sehr schnell dann ernüchternd zurückgenommen. Es gab also ein literaturkritisches Plenum des ZK, wo der kulturpolitische Kurs zunächst Ulbrichts revidiert wurde. Honecker hatte die Erklärung nach seinem Machtantritt abgegeben, dass als Künstler, als Dichter und Schriftsteller, es keine Tabus gibt, wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht. Das hat er dann sehr schnell revidiert. Man hatte also in der Tat allzu revisionistische Tendenzen. Er hat Filme verboten, er hat Schriftsteller verboten, als diese nach seiner Auffassung zu stark wurden.

    Heinemann: Der Historiker Martin Sabrow hat ihn im "Spiegel" folgendermaßen charakterisiert: "Machtsicherung war ihm wichtiger als die Weltrevolution."

    Fricke: Da hat er recht. Da würde ich ihm uneingeschränkt zustimmen. Das ist sogar ein typischer Charakterzug Erich Honeckers aus meiner Sicht gewesen. Er war skrupellos in der Sicherung der Macht. Das galt gegenüber dem Westen, das galt aber auch nach innen in der DDR und das galt dann auch gegenüber Moskau, als er glaubte, sich Eigenmächtigkeiten erlauben zu müssen unter dem Regime Michail Gorbatschows.

    Heinemann: Wie sah die Arbeitsteilung zwischen den beiden mächtigsten DDR-Erichs aus, zwischen Honecker und Stasi-Chef Mielke? Kann man sagen, der Schöne und das Biest?

    Fricke: Ja, das kann man sagen. Es ist in der Tat so, dass Honeckers Macht sich im Wesentlichen auf zwei Genossen im Politbüro stützte: einmal auf Günter Mittag, dem ziemlich mächtigen Wirtschaftsboss, der dann allerdings sehr krank geworden ist in den letzten Jahren seines Lebens, und Erich Mielke. Erich Mielke war eigentlich die absolute Sicherheitsgarantie für das Regime Erich Honecker.

    Heinemann: Wer war denn dafür verantwortlich, dass die DDR wirtschaftlich gegen die Wand oder gegen die Mauer gefahren wurde?

    Fricke: Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass Honecker uneinsichtig geworden war und dass er sich hat verleiten lassen, die westlichen Kredite anzunehmen, um sein sozialpolitisches Programm durchzusetzen. Aber er hat dann nicht bedacht, dass man im Grunde genommen bei einer sinnvollen Haushaltsführung nur so viel ausgeben kann, wie erwirtschaftet wird. Dieses Gesetz hat er missachtet. Er sah sich eben in der Konkurrenz: einmal mit der Entwicklung in Polen, mit der Entwicklung in Ungarn und natürlich dann auch unter dem Eindruck der Entwicklung in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow.

    Heinemann: Im September 1987 dann die lange geplante und gewünschte Reise in die Bundesrepublik, und Erich Honecker spricht in seinem Geburtsort im saarländischen Neunkirchen:

    O-Ton Erich Honecker: "Die Deutsche Demokratische Republik ist aktives Mitglied der Teilnehmerländer des Warschauer Vertrages und die Bundesrepublik Deutschland ist fest im westlichen Bündnis verankert. Dass unter diesen Bedingungen die Grenzen nicht so sind, wie sie sein sollten, ist nur allzu verständlich. Aber ich glaube, wenn wir gemeinsam hinwirken, entsprechend dem Kommuniqué, was wir nunmehr in Bonn unterzeichnet haben, und in Verbindung damit, eine weitere friedliche Zusammenarbeit erreichen, dann wird auch der Tag kommen, an dem Grenzen uns nicht mehr trennen, sondern Grenzen uns vereinen."

    Heinemann: Also 1987 war das, und da haben einige aufgehorcht. Der Historiker Martin Sabrow schreibt jetzt im "Spiegel", Honecker habe sich eine konföderative Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland vorstellen können, sei es auch nur, um seinen Laden zu retten. Sehen Sie das auch so?

    Fricke: In diesem Punkte teile ich die Auffassung von Martin Sabrow nicht. Im Gegenteil: Honecker ging von der Illusion aus, ein wiedervereinigtes Deutschland muss ein sozialistisches Deutschland sein. Das war seine Vision, sein Ziel, an das er geglaubt hat bis in seine letzten Tage hinein. Und ich glaube, im Westen hat es damals ein kolossales Missverständnis gegeben mit dem Begriff der friedlichen Koexistenz. Honecker wollte friedliche Koexistenz beider deutscher Staaten, aber friedliche Koexistenz begriff er auf staatlicher Ebene nicht etwa als Frieden im Klassenkampf, sondern als Klassenkampf im Frieden. Es war eine verdeckte Kampfansage auch, nur mit anderen Mitteln.

    Heinemann: Sie haben seine letzten Tage gerade angesprochen. Der SED-Funktionär Günter Schabowski hat sich ja zu Schuld und auch zu Fehlern bekannt. War Erich Honecker bis zu seinem Lebensende in irgendeiner Weise einsichtsfähig?

    Fricke: Absolut unmöglich sehe ich das. Ich kann es jedenfalls nicht erkennen. Und seine Hinterlassenschaften - er hat ja mehrere Schriften hinterlassen, Moabiter Notizen, dann noch mal letzte Briefe an Margot Honecker und so weiter, die jetzt auch veröffentlicht sind -, daraus geht eigentlich nur hervor, dass er bis zuletzt uneinsichtig gewesen ist und den Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR im Wesentlichen auf Verrat zurückgeführt hat, einerseits des sowjetischen Bundesgenossen, also insbesondere Gorbatschow und Schewardnadse, und andererseits einiger Genossen. Er hat sogar in einer seiner Publikationen heftige Angriffe auch gegen seinen Nachfolger Egon Krenz artikuliert.

    Heinemann: Herr Fricke, Frage an den Zeitzeugen: Was sollten Schülerinnen und Schüler in 50 Jahren über Erich Honecker in den Geschichtsbüchern lesen?

    Fricke: Das ist eine interessante Frage. Man kann sagen, er war ein gläubiger Kommunist, der seine Ziele mit aller Macht durchzusetzen entschlossen war. Das lässt sich ablesen zum Beispiel an einer Verfassungsänderung, die unter seiner Ägide durchgeführt wurde, wo er in Artikel VI stipuliert hat, dass die DDR für immer und unwiderruflich mit der UdSSR verbündet sei. Aber es lässt sich auch an seiner Haltung zum Schießbefehl ablesen, die ja schließlich dann zu seiner strafrechtlichen Verfolgung geführt hat. Schon Marx sagte, die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Das ist der Hinweis auf die Möglichkeit von Anwendung von Gewalt als revolutionäres Mittel, und Revolution war natürlich angesagt, nicht nur Evolution, nicht nur Reform. Das hat Honecker, glaube ich, auch so verinnerlicht gehabt, dass er da gar keine Skrupel hatte, wenn es nötig sein musste, seiner Meinung nach, sowohl Gewalt im Innern als auch nach außen.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.