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Bitterböse Analyse des New Yorker Literaturbetriebs in den 1920er-Jahren

Es ist ein Buch über das Romaneschreiben, das die zu Herzen gehende Geschichte vom hungrigen Poeten erzählt, der aus der Provinz nach New York kommt. Zum 150. Geburtstag von Edith Wharton liegt "Ein Haus am Hudson River" jetzt erstmals auf Deutsch vor. Allerhöchste Zeit, diesen großen Roman zu lesen.

Von Simone Hamm | 02.04.2012
    Trauben hellvioletter Glyzinien ranken an dem alten Haus empor. Es hat Erker, vorspringende Balkone und Türmchen und ist umgeben von Flieder- und Jasminbüschen, von alten Weiden. Die geben dem Haus seinen Namen: "the willows". Einst hatte hier eine Frau gelebt, deren Porträt noch immer in dem Raum hängt, in dem sie sich am wohlsten fühlte: der Bibliothek. Sie starb, während sie ein romantisches Gedicht von Colderidge las. Nach ihrem Tode blieb das Haus unbewohnt.

    "Ein altes Haus am Hudson River" heißt der Roman Edith Whartons. Im Januar 1862 wurde sie geboren und jetzt, zum 150. Geburtstag der Autorin liegt der Roman zum ersten Mal auf Deutsch vor. - Allerhöchste Zeit, diesen großen Roman zu lesen.

    Jeden Samstag schauen die Nachbarin, Mrs. Tracy oder ihre Kinder in "the willows" vorbei, öffnen die Fenster, putzen Staub. Bei den Tracys ist Vance Weston eingezogen, ein junger Mann aus dem mittleren Westen, der mit ihnen verwandt ist und der sich nach einer Typhusinfektion an der Ostküste auskurieren soll.

    Vance Weston begleitet die Tracy-Kinder - und ist überwältigt.

    In seiner Heimat Illinois ist alles neu, der Vater ist Immobilienmakler, der fortwährend neue Wohngebiete erschließt. Ein altes Haus, in dem Generationen gelebt haben, das wiederum ist neu für Vance Weston.
    Ein Haus, nur anderthalb Stunden von New York entfernt. Und noch eine Entdeckung macht er:

    Vance stand allein in (der) Bibliothek. Er war noch nie in einer Privatbibliothek gewesen, eigentlich wusste er nicht einmal, dass es außerhalb von Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen Büchersammlungen in privatem Besitz gab.

    Er setzt sich an den Tisch in der Bibliothek und beginnt sofort zu lesen, wahllos, fieberhaft, leidenschaftlich. Da spricht ihn eine junge Frau an, Heloise Spear.

    Sie wird seine Mentorin werden, ihn einführen in die Welt der Bücher, ihm Mut machen bei seinen ersten schriftstellerischen Arbeiten. Sie ist und bleibt seine geistige Gefährtin, heiraten aber wird er die Tochter der Tracys, die schöne Laura Lou. Zu groß sind die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Vance und Heloise.

    Edith Wharton gelingt das scheinbar Unmögliche. Sie schreibt drei Romane in einem, deren Sujets unterschiedlicher nicht sein könnten: die zu Herzen gehende Geschichte vom hungrigen Poeten, eines amerikanischen Lucien de Rubempré, der aus der Provinz nach New York kommt und seiner bleichen schwindsüchtigen Frau. Die in Armut leben auch dann, als Vance Westen einen großen Erfolg landet. Denn sein Arbeitgeber, der Herausgeber einer literarischen Zeitung und Ehemann von Heloise Spear zieht ihn über den Tisch. Vance Weston ist den Intrigen, die in New York gesponnen werden, nicht gewachsen.

    Edith Whartons Roman ist auch eine bitterböse Analyse des New Yorker Literaturbetriebes in den zwanziger Jahren, des Jahrmarkts der Eitelkeiten; bisweilen abgründig ironisch geschrieben, dann wieder mit einer messerscharfen Ernsthaftigkeit. Alles muss neu sein. Romane werden rezipiert wie die neueste Kollektion eines Couturiers: in dieser Saison topaktuell, in der nächsten bereits vergessen. Preise wie der berühmte Pulsifer Preis, der an den Pulitzerpreis erinnern soll, werden Schmeichlern verliehen. Vance schmeichelt der Witwe Pulsifers nicht und schrammt haarscharf am Preis vorbei.

    Jetzt hatte er einen Namen, ein Dach über dem Kopf und eine Frau, die ihn vergötterte, dennoch war er innerlich einsamer als je zuvor. War das sein Fehler, oder lag es an diesem schrecklichen System, das ein Talent vergewaltigte und, schon bevor es reif war, jeden Tropfen aus ihm herauspressen wollte, lag es am Prinzip des raschen Umsatzes, das auf Gehirne genauso angewandt wurde wie auf Immobilien?

    Vor allem aber ist "Ein altes Haus am Hudson River" ein Buch über das Romaneschreiben, über die Qual, die Leere, die Glückseligkeit, wenn sich die Seiten fühlen, das Herzklopfen, wenn man zum ersten Mal daraus vorliest. Wie viele seiner Zeitgenossen,will auch Vance Weston den großen amerikanischen Roman schreiben, den ultimativen Roman über New York. Alles andere erscheint ihm altmodisch. Er scheitert kläglich, zerreißt sein Manuskript. Denn er erkennt, dass er die Stadt und die Menschen, die dort leben, nicht wirklich gut genug kennt, um darüber zu schreiben. Seine Stoffe will er im Leben finden. Darüber gerät ihm das Leben zur Stoffsammlung.

    Über allem lag das trostlose, schillernde Licht des Versagens, wie damals, ... als Vance seine Verbitterung in die erste Erzählung gegossen hatte. Vielleicht ertrug er das Leben nur noch als Stoffsammlung für seine Kunst. Für sich genommen wirkte es anhaltend hässlich und unkontrollierbar, ein Schrecken, dem man nicht entkam und dessen man nicht Herr wurde - als müsste man für immer im Dunklen mit einem fratzenschneidenden Idioten kämpfen.

    Im Grunde seines Herzens ist Vance Weston einsam, das ist der Preis für sein Leben als Schriftsteller. Zwischen ihm und den anderen liegt "ein Schleier aus Unwirklichkeit". Trost sind die Bücher, in die er sich flieht. Rückzugsort bleibt the willows, der Ort, an dem die Zeit stillsteht. Hier kann er lesen, hier kann er schreiben. Aber es ist nicht nur ein anheimelnder Ort. Für lange Zeit wird er der Bibliothek verwiesen, weil er Bücher gestohlen haben soll. Er geht nach New York und stürzt aus der Idylle geradewegs in den Abgrund.
    Jahre später wird er sich monatelang nur heimlich nach "the willows" schleichen und seine Frau hintergehen, wenn er sich mit Heloise trifft. Denn er spürt, das diese intellektuelle Nähe zu einer anderen Frau gefährlicher ist als ein Seitensprung.

    Edith Wharton ist eine große Erzählerin, sie schreibt konventionell, linear, opulent. Sie hat sich dem modernen Roman verweigert. Auch im "alten Haus am Hudson River" macht sie sich darüber lustig. Gerade eine einzige Neuerscheinung lässt Vance Weston gelten:

    "Unter Dutzenden von banalen Büchern, die durch Reklame zu fragwürdigem Ruhm gelangt waren, war es das einzige, das so viel Aufsehen verdiente."

    Da sage einer, Edith Wharton denke nicht modern.

    Edith Wharton: Ein Haus am Hudson River.
    Aus dem Amerikanischen von Andrea Ott
    Manesse Verlag. 618 Seiten. 26.95 Euro