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Bitteres Resümee am Lebensabend

Gabriele Kögl lässt ihre Protagonistin, eine Mutter dreier erwachsener Kinder und mehrfache Großmutter, erzählen. Sie ist aus der Gegend ihrer Geburt kaum herausgekommen, und im Grunde genommen hält sie die ohnehin für den einzigen lebenswerten Flecken der Welt.

Von Ursula März | 05.12.2005
    Eine alte Frau resümiert und räsoniert. Wie eine Buchhalterin fasst sie Ertrag und Verlust ihres harten, arbeitsreichen Lebens in der österreichischen Provinz zusammen. Der Verlust scheint den Ertrag zu überwiegen, denn vor allem in einem Punkt, in den Hoffnungen, die sie auf ihre Kinder gesetzt hat, ist ihre Lebensrechnung nicht aufgegangen.

    Zwei ihrer drei Kinder haben getan, was sie für den Ursprung von Missgeschick und selbst verschuldeter Schicksalsverfehlung hält: Sie sind weggegangen, sie haben den Heimatort verlassen, sie haben sich ihr entzogen. Ein Sohn ist nach Deutschland gegangen, nach Berchtesgaden, um eine junge Frau zu heiraten, er wurde von ihr mit einem anderen betrogen und hat sich umgebracht. Fast noch schlimmer empfindet die alte Frau aber, was aus ihrer Tochter geworden ist. Statt am Ort zu bleiben und einen Tierarzt zu heiraten, der sie gern genommen hätte, ist sie nach Wien gezogen, um zu studieren und schließlich Schauspielerin zu werden.

    Jetzt lebt sie arm wie eine Maus und macht der Mutter überdies Schande, denn sie spielt in unanständigen Theaterstücken mit, eines davon heißt "Die Präsidentinnen". Zwar hat die Ich-Erzählerin, die in Gabriele Kögls bitterem Prosamonolog in ihrer reduzierten Sicht und ihrer reduzierten Welt mit dem Leben abrechnet, den Namen der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek vermutlich noch nie gehört. Aber die idiomatische, mündliche Kunstsprache, die die Autorin ihr in den Mund legt, der schroffe Duktus ihrer Grammatik, die durchgehend aggressive Tönung ihrer Sätze und Gedanken erinnern unweigerlich an die berühmteste Schriftstellerin der österreichischen Gegenwartsliteratur, die bereits eine ganze Nachfolgegeneration, zu der die 45-jährige Gabriele Kögl zählt, literarisch geprägt hat.

    "Mutterseele" steht in der Tradition österreichische Tiradenprosa, wie wir sie von Bernhardt, von Jelinek, von Streeruwitz kennen, einer Prosa, die vom Blatt weg als Bühnenmonolog inszenierbar ist. Das Epigonenhafte Gabriele Kögls sticht bisweilen etwas überdeutlich ins Auge. Autonom ist sie im Entwurf der Ambivalenz ihrer Erzählerin. Sie ist aggressiv aus defensiver Lebensenttäuschung.

    Sie ist erbost über die Heimatflucht ihrer Kinder aus Sehnsucht nach ihrer, nach menschlicher Nähe. Sie denkt und urteilt pragmatisch bis zur Seelenkälte und ist erfüllt von Trauer. Sie rührt den Leser und stößt ihn ab, sie erregt Mitleid und Widerwillen. Ihre Widersprüche machen diese alte Frau zu einer interessanten Figur der Literatur.

    Gabriele Kögl: Mutterseele. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen, 2005.
    154 Seiten, 28.50 Euro