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Blender der Weltliteratur

Über China schreiben, ohne dort gewesen zu sein? Für Marco Polo kein Problem. Ob Lügner oder nicht, seine Fantasie habe die Weltliteratur geprägt, sagt der französische Autor Pierre Bayard.

Von Walter van Rossum | 28.08.2013
    Marco Polo war noch nicht einmal 20 Jahre alt, als er von Venedig zu einer langen Reise nach China aufbrach. Über zwei Jahrzehnte hielt er sich in Asien auf. Er stand in den Diensten des chinesischen Kaisers, erkundete die Mongolei und reiste durch damals gänzlich unbekannte Länder des Fernen Ostens. Nach seiner Rückkehr verfasste er die Berichte seiner abenteuerlichen Reisen, und bis heute schlägt er seine Leser in Bann mit wundersamen Geschichten wie dieser:

    "Und nun vernehmt, nach welcher Sitte die Frauen behandelt werden. Ein Ehemann und Vater fühlt sich keineswegs in seiner Ehre verletzt, wenn ein Fremdling oder sonst ein Mann mit seiner Frau, seiner Tochter, mit seiner Schwester oder irgendeinem Weibe seines Haushalts zusammenschläft, sondern er schätzt es sogar. Die Leute glauben nämlich, auch der Gott und die Götzen hätten daran ein Wohlgefallen und würden solches Tun reichlich mit irdischen Gütern vergelten."

    Das mag viele Reisende bewogen haben, umgehend nach China aufzubrechen. Allein, solcher Gastfreundschaft wurde keiner die teilhaftig. Inzwischen gibt es eine Reihe sehr ernst zu nehmender Forscher, die glauben, Marco Polo sei bestenfalls bis Konstantinopel gekommen. So sieht das auch Pierre Bayard. Allerdings ist er keineswegs gewillt, Marco Polo als Fälscher zu verdammen, er preist vielmehr den Schriftsteller, der seine Imagination in China als Realität aufblühen lässt.

    Bayard bestreitet gar nicht, dass Reisen bildet, ganz und gar nicht, doch manchmal erweise man sich und der Welt einen größeren Dienst, wenn man nur seinen inneren Blick in die Ferne schweifen lässt und seine Heimat gar nicht erst verlässt. Und so plädiert sein Buch für die Figur des "sesshaft Reisenden". Für die lassen sich tatsächlich einige prominente Beispiele finden. So erinnert Bayard u. a. an die berühmte amerikanische Kulturanthropologin Margret Mead, die in den sechziger Jahren mit ihren Büchern über die Sexualität in den sogenannten primitiven Gesellschaften nicht nur die US-amerikanischen Puritaner auf die Palme brachte. Margret Mead beschrieb das wilde und freie Leben auf Samoa etwas so:

    "In Wahrheit lachen die Samoaner über Erzählungen von romantischer Liebe, spotten über Treue zur Frau oder Geliebten, die lange abwesend ist. Die romantische Liebe unserer Gesellschaft, untrennbar verbunden mit Vorstellungen von Monogamie, Ausschließlichkeit, Eifersucht und unerschütterlicher Treue, gibt es auf Samoa nicht. Unsere Einstellung ist ein Gemisch, das Endergebnis vieler zusammentreffender Entwicklungslinien unserer Kultur, des Grundsatzes der Monographie, von Vorstellungen der Ritterzeit, der christlichen Ethik."

    Man darf sagen, Margret Meads Berichte über die exotische Liebe hatten erheblichen Anteil an der sogenannten sexuellen Revolution in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Bis jemand auf die Idee kam, den Realitätsgehalt ihrer Geschichten zu überprüfen. Dabei kam heraus, dass die Wissenschaftlerin keineswegs absichtlich gefälscht hatte, sondern Informanten aufgesessen war, die ihr aus bestimmten Gründen genau die Geschichten detailliert erzählten, nach denen sie wahrscheinlich allzu ausdrücklich gesucht hatte. Tatsächlich hatte Mead eine Weile auf Samoa gelebt und insofern könnte sie in Bayards Buch als Beispiel dafür taugen, dass die physische Präsenz eben nicht unbedingt Authentizität garantiert. Doch sonderbarerweise erklärte Bayard sie zu einer sesshaften Reisenden, die zwar vor Ort gewesen sei, aber durch ihre Voreingenommenheit eigentlich die Heimat nicht verlassen habe. Stattdessen lobt der französische Literaturwissenschaftler sie für ihre kreative Fantasie, die außerordentliche Folgen gehabt habe – nämlich, den Aufbruch der westlichen Gesellschaften zu neuen sexuellen Ufern. Bei Mead und Marco Polo handelt es sich um dokumentarische Autoren, die dem Imaginären viel Raum gelassen haben. Doch Bayard zitiert auch zahlreiche literarische Autoren, die in ihren Romanen reale Orte beschreiben, die sie nie gesehen haben. Darunter ein bekannter Deutscher:

    "Die europäische Literaturgeschichte hat dem deutschen Schriftsteller Karl May, 1842-1912, nicht den Platz eingeräumt, der ihm zusteht, während er in seinem Land zu den meistgelesenen Autoren gehört und noch immer Kultstatus besitzt. Als Symbol der deutschen Kultur, in einer Reihe mit Goethe und Schiller, wird er von Intellektuellen entgegengesetzter politischer Lager verehrt, die sich alle in seiner Weltsicht wiedererkennen."

    Auch wenn man nicht genau weiß, was ein "Symbol deutscher Kultur" sein soll, muss man sich fragen, ob Karl May auch nur annähernd als typischer Repräsentant deutscher Kultur taugt. Es mag zwar einen gewissen Karl-May-Kult in Deutschland geben – wie es auch eine Wissenschaft über Entenhausen gibt –, so findet er jedoch gewiss nicht in einer Reihe mit Goethe und Schiller statt, sondern genau außerhalb, jenseits davon. Doch damit nicht genug. Karl May – so behauptet Bayard – hätte gar nicht diese Romane mit ihren Visionen von Völkerverständigung schreiben können, wenn er zuvor den Boden der Vereinigten Staaten betreten hätte. Ebenso hätte er auch gar nicht das reale Verhältnis von Weißen und Indianern schildern können, das wir heute als das wahre anerkennen. Das sind allerdings verdammt steile Thesen, die der raffinierte Essayist auch gar nicht erst zu beweisen versucht – zu denen einem allerdings aus dem Stand ein paar Dutzend Gegenbeispiele einfallen: Als gäbe es nicht Hunderte von Romanen, die Konflikte durchschauen, weil die Autoren sie aus nächster Nähe erlebt haben.

    "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist" beginnt als amüsant anekdotisches Verblüffungsspiel, das sich allerdings mit zunehmender Spieldauer in verschrobene Theoriespiralen verdreht. Dabei scheint es, als habe Bayard bereits bei den theoretischen Essentials den Überblick verloren. So verwechselt er etwa laufend das Imaginäre und das Fiktive. Wenn Marco Polo erfundenen Blödsinn über China verzapft, verkauft Bayard das als heimlichen Sieg des Imaginären. Allein, worin besteht der Gewinn? Und man mag Margret Mead für die Folgen ihrer Theorien schätzen, doch in erster Linie handelt es sich um schlechte Wissenschaft und nicht um gelungene Imagination.

    Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich Bayards Buch bald als theoretische Schimäre voll grinsender Metaphern, irrlichternder Bezüge und allzu offensichtlicher Widersprüche. Und es macht eigentlich nur dann Sinn, wenn man es als vergiftete Fortsetzung von "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat" liest und versteht. Dann könnte man z. B. gewisse Kritiker zitieren, die Weisheit und Eleganz dieses Buches rühmen – und also das Buch entweder nicht gelesen haben oder es gelesen haben, ohne es verstanden zu haben. Und so gesehen wäre "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist" dann ein geniales Büchlein: das gefälschte Lob der Fälschung als echter Tiefsinn verkauft. Das sagt zwar nichts über Bücher, sondern über Leser – also über uns. Prösterchen!

    Pierre Bayard: Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist.
    Aus dem Französischen von Lis Künzli. Verlag Antje Kunstmann. München 2013. 215 Seiten, ISBN 978-3888978258