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Blick auf die "neue Arktis"?

Polarforschung. - Im vergangenen Herbst wich das arktische Meereis so stark zurück wie nie zuvor, seit es Aufzeichnungen gibt. Eine Expedition des deutschen Forschungseisbrechers "Polarstern" zeigte, dass dieses Ereignis Folgen bis in die Tiefsee nach sich zog. Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung berichtet im Gespräch mit Monika Seynsche.

Professor Antje Boetius im Gespräch mit Monika Seynsche | 15.02.2013
    Seynsche: Frau Boetius, wo kommen diese Klumpen auf dem Meeresboden her?

    Boetius: Ja, wir waren in den tiefen Becken des arktischen Ozean und waren überrascht: wo auch immer wir geguckt haben, 3000 oder 4000 oder 5000 Meter Wassertiefe, der Boden war übersät von grünen Algenklumpen. Und als wir die dann beprobt haben und darunter den Boden angeschaut haben, da kam heraus das sind Algen aus dem Eis, das sind die berühmten Eisalgen Melosira, Kieselalgen, die dort riesige Teppiche bilden, unter dem Eis wachsen und auch nur im Eis vorkommen.

    Seynsche: Und wie kommen sie da unten hin. Also, was es mit dem Eis passiert?

    Boetius: Das war die große Frage. Wir waren ja letzten Sommer 2012 mit "Polarstern" in der zentralen Arktis zu Zeiten des größten jemals beobachteten Meereis-Minimums. Bei diesem Eisminimum ist die Eisdecke sehr stark abgeschmolzen, nicht nur in der Dimension, sondern auch in der Dicke des Eises. Und unsere Hypothese ist, dass diese riesige Schmelze, die so noch nie vorgekommen ist, dazu geführt hat, dass die Eisalgen ausgeschmolzen sind, es ihnen nicht mehr gut ging, und sie deswegen, weil sie aus so schwer sind, zum Tiefseeboden gesunken sind.

    Seynsche: Warum wachsen die so viel. Sie hatten gesagt, das Eis wird dünner. Das heißt, mehr Licht gelangt dadurch?

    Boetius: Genau. Also noch vor zehn Jahren war das arktische Eis im Mittel circa fünf Meter dick. Durch die Erwärmung und durch die großen Eisschmelzen der letzten Jahre, das letzte große Eisminimum war ja 2007, ist diese Eisdecke inzwischen auf weniger als 1 m dicke geschrumpft. Und da kommt viel mehr Licht durch. In der Arktis ist ja das Problem der Algen schlechthin, die haben nur drei Monate im Jahr, wo ihnen Sonnenlicht zur Verfügung steht, und das wird vom Eis weggefiltert. Und wenn es jetzt aber mehr durchkommt, können auch viel mehr Algen wachsen.

    Seynsche: Und dieser Algen sterben dann wieder und dann gibt es wieder mehr zu fressen?

    Boetius: Genau, normalerweise sterben sie dann zum Ende des Jahres, zum Winter hin, werden dann von den kleinen Krebstieren und den Fischen unter dem Eis aufgefressen. Und die scheiden dann wieder Nährstoffe aus und dann entsteht…, im nächsten Frühjahr wachsen dann wieder neue Algen. Das ist der stetige Kreislauf, der bestimmt in den letzten Jahrhunderttausenden funktioniert hat. Wenn nun aber Eisalgen wachsen, die riesengroß und schwer sind und die, wenn es ihm nicht gutgeht, gar nicht sofort um gefressen werden, sondern die alle runtersinken, dann nehmen die die Nährstoffe mit. Und die Nährstoffe werden unten in der Tiefsee wieder freigesetzt, kommen aber erst einmal nicht zurück an die Oberfläche.

    Seynsche: Bleiben wir mal beim Tiefseeboden. Da liegen jetzt riesige Algenklumpen herum. Das ist doch eigentlich wunderbar für die Lebewesen, die dort unten leben. Die haben reichlich Nahrung, oder?

    Boetius: Das denkt man erst einmal so. Aber was, wenn die Lebensgemeinschaft in der Tiefsee so etwas noch nie erlebt hat? Die sind ja eigentlich nicht vorbereitet auf so viel Nahrung. Und tatsächlich haben wir auch mit unseren Kamerasystemen festgestellt, dass in der Tiefe der Arktis gar nicht so diese typischen algenfressenden Tiere vorkommen. Im Atlantik würde man zum Beispiel Würmer und Muscheln und Krebse jede Menge sehen, Tiefseefische. Und all das haben wir nicht gefunden. Wir haben zwei Arten von so genannter Megafauna, also großer sichtbarer Tiere gesehen, die mit denAlgenklumpen etwas anfangen konnten. Und der Rest blieb für die Bakterien übrig.

    Seynsche: Das heißt, es wird abgebaut. Dann fehlt wahrscheinlich Sauerstoff dort unten?

    Boetius: Ja, das war dann das nächste Erstaunliche. Als wir es dann geschafft haben, das war natürlich eine Herausforderung unter dem Eis in der Tiefsee unsere Geräte aufzustellen, in vier Kilometern Tiefe. Als wir gemessen haben, wie viel Sauerstoff es gibt unter dem allem Klumpen und daneben, haben wir gesehen: Wo sonst der Sauerstoff einen Meter tief in den Meeresboden eindrang, wir auf einmal nur noch wenige Millimeter haben. Und dann war der Sauerstoff aufgezehrt. Also haben die Bakterien schon kleine anoxische Flecken im Meeresboden gemacht.

    Seynsche: Was bedeutet dass zum einen für die Tiefseebewohner, zum anderen aber für das gesamte Ökosystem? Sie sagten, diese Flecken sind in vier Kilometern Tiefe, da kann man sicher denken, dass ist eine ganze Zeit, bis es dann irgendwann mal wieder oben Auswirkungen hat?

    Boetius: Ja, theoretisch schon. Erst einmal sieht man hier, dass ein Effekt, wo man gedacht hat, der findet nur an der Oberfläche statt, nämlich Eisschmelze, dass der auch schon in der Tiefsee innerhalb von einem Jahr alles verändern kann. Wir waren jetzt natürlich nur einmal da. Das ist genau die Herausforderung: Wie findet man jetzt heraus, hat man jetzt nur einmal etwas Besonderes gesehen oder sind wir gerade dabei, die neue Arktis zu sehen, das, was jetzt in den nächsten Jahrzehnten einfach immer so sein wird. Das müssen wir natürlich weiterhin untersuchen.