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Blick für den Menschen

Vor 100 Jahren wurde Luchino Visconti geboren. Wie kaum ein anderer Filmregisseur verband er Ästhetik und Stilempfinden mit scharfsinniger Gesellschaftsanalyse.

Von Katja Nicodemus | 02.11.2006
    Es ist der Untergang, immer und immer wieder. Untergehende Klassen, Individuen, sich ihrem Ende zuneigende Epochen und Lebensgefühle sind das große Thema von Luchino Visconti. Es sind Gustav Mahlers schwebende Klangteppiche aus "Tod in Venedig", die man gemeinhin mit diesem Visconti-Gefühl assoziiert. Doch dem Untergang rudern auch die gegen ihre Ausbeutung aufbegehrenden Fischer aus "Die Erde bebt" entgegen. Burt Lancaster sieht ihm als Fürst von Salina in "Der Leopard" hellsichtig herannahen. Und Helmut Bergers "Ludwig der II." zelebriert sein eigenes Verschwinden bis zum letzten Augenblick.

    Als Sprössling einer alten lombardischen Adelsfamilie wusste der am 2. November 1906 in Mailand geborene und in luxuriösen Verhältnissen aufgewachsene Luchino Visconti, was die Auflösung einer Klasse bedeutet. Er selbst, der nie seinen vollen Adelsnamen Visconti di Modrone führte, begeisterte sich in jungen Jahren für sozialrevolutionäre Ideen. Es war die Begegnung mit Jean Renoir, die ihn zum Kino bekehrte und vor allem: seinen Blick für den Menschen schärfte. Der Mensch mit seinen Leidenschaften, Schwächen und Sehnsüchten steht im Mittelpunkt seines 1942 entstandenden Regiedebüts "Ossessione".

    "Ossessione", die Geschichte eines Ehebruchs, der zum Mord führt, ist eines der bahnbrechenden Werke des italienischen Neorealismus. Man empfand es als Skandal, dass der Regisseur sich weigerte, sein mörderisches Paar zu verurteilen. Auch später wird er seine Figuren immer in der Umgebung zeigen, die sie zu dem gemacht hat, was sie sind, so wie im 1960 entstandenen Film "Rocco und seine Brüder", wo er fünf jungen Süditalienern folgt, die in Mailands Armenquartieren auf ganz unterschiedliche Weise um ihre Zukunft kämpfen - und scheitern.

    Ob er - wie zu Beginn seines Schaffens - den Untergang der so genannten kleinen Leute schildert oder später den Niedergang der Privilegierten, Reichen, Raffinierten - stets ruht Viscontis Blick mit Interesse, Zuneigung und Offenheit auf seinen Helden. In seinem wohl opulentesten Film, "Der Leopard" über die Auflösung einer sizilianischen Adelsfamilie wird Burt Lancaster zur vollendeten Verkörperung des Visconti-Prinzips. Er spielt den Fürsten von Salina als einen Menschen, der durch und durch mit seiner Klasse verbunden ist und doch ihr Ende voraussieht:

    "Menschen wie ich haben in diesem Land nichts mehr zu suchen. Wir sind eine aussterbende Art - treu verbunden mit dem Hause Habsburg und doch wissend, dass die Aristokratie in diesen neuen Zeiten nicht mehr von Belang ist. Es ist das Ende einer Ära."

    "Der Leopard" ist die größte Regieleistung Visontis, der sein internationales Darstellerensemble mit ungeheurer Natürlichkeit durch Landschaften und Palastfluchten dirigiert. Und er ist ein schauspielerisches Meisterstück von Burt Lancaster, der den stilbewussten, stattlichen und am Ende zutiefst melancholischen Fürsten von Salina spielt, als habe er nie etwas anderes getan, als durch sizilianische Sommerresidenzen zu schreiten.

    "Für die Rolle kam ich nur in Frage, weil der Fürst in Lampedusas Roman als groß, blond, hoch gewachsen, ja von fast riesenhafter Statur beschrieben wird. Als mein Name ins Spiel kam, sagte Visconti: 'Um Himmels Willen! Lancaster, dieser Cowboy und Gangster! Fürchterlich!' Am Ende war es aber das Beste, was ich je gespielt habe. Als Schauspieler musste ich absolutes Neuland betreten, aber auch als Mensch war die Begegnung mit Visconti für mich eine wirkliche Lebenserfahrung."

    Es ist Luchino Viscontis großes Verdienst, dass er seinem Interesse an Menschen, seinem zutiefst humanen Blick, aber auch der analytischen Durchdringung der Welt, in der seine Figuren leben, stets treu geblieben ist. Und man glaubt ihm aufs Wort, wenn er gegen Ende seines Lebens ausführte, dass es kein einfacher Weg gewesen sei:

    "Ich glaube, man muss seiner Linie folgen, und ich bin meiner Linie von Anfang an treu geblieben. Im Grunde wäre es nämlich für mich heute leichter, sehr viel mehr Filme zu drehen als ich es tue. Aber ich mache nur das, was ich für richtig halte."

    Immer wieder wurde Viscontis Faszination für den Untergang missverstanden. Aber dieser große Chronist der Dekadenz war selbst mitnichten dekadent. Im Gegenteil, dem Untergang hat Visconti die letzten Schönheiten des Lebens und seiner Kultur abgetrotzt. Selbst Gustav Aschenbach, der in "Tod in Venedig" im Liegestuhl zu Mahlers Klängen verstirbt, hat in seinen letzten Tagen die erotische Faszination für einen Jüngling erlebt. Und indem alle Visconti-Filme Schönheit beschwören und Schönheit sind, tragen sie eine andere Hoffnung als die sozialen Ordnungen, aus deren Zerfall sie aufsteigen.