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Blick in den Blätterwald

Der "Droge Theorie" widmet sich die Winterausgabe der "Zeitschrift für Ideengeschichte", und wer von dieser Droge nicht genug bekommt, findet auch in den anderen Heften der ersten Zeitschriftenschau des Jahres genügend Stoff für den Kopf.

Von Richard Schroetter | 24.01.2013
    Am 11. Mai 1973 schmückten die Schaufenster der westdeutschen Buchhandlungen eine neue bläulich schwarze Taschenbuchreihe, die unter dem Kürzel "stw = suhrkamp taschenbuch wissenschaft" sich unerwartet gut verkaufte, und bald zur Standardausrüstung der linken meist studentischen Leserschaft gehörte. Wer mitreden wollte, griff zu diesen Büchern, die keine leichte Lektüre waren. Und man las diese begriffslastigen Derivate à la "Erkenntnis und Interesse", "Minima Moralia", "Das Prinzip Hoffnung" - "Philosophische Grammatik" als sei's die Fortsetzung von Karl May. Theorie diente damals nicht zur Aufklärung, klärt uns die "Zeitschrift für Ideengeschichte" leicht maliziös auf, sondern wurde (unreflektiert-hedonistisch) wie ein Rauschmittel eingenommen, wie Haschisch, Marihuana oder (LSD).

    "Droge Theorie" ist das Winterheft übertitelt. Die Herausgeber Ulrich Raulff und Stephan Schlak erinnern sich, wie:

    Dieser Stoff kickte - auch wenn er aus sperrigem Vokabular zusammengebraut war. In den 60er-Jahren stieg die Zahl der Abhängigen rasend schnell. Erst zirkulierte der Stoff in kleinen autonomen Gruppen, später wurde er in großen Mengen vornehmlich an den Universitäten feilgeboten. Extravenös wurde er eingenommen - durch reine Begriffsarbeit, durch die Exerzitien der Lektüre.

    Der exklusive Drogenlieferant Suhrkamp bekam jedoch bald Konkurrenz. Der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch zeigt in einem brillanten Beitrag wie Anfang 80er-Jahre der kleine Berliner Merve Verlag die Großen aufmischte. Er hofierte eine neue aufmüpfige Leserschaft, der die strengen moralinsauren, weiß gespülten Suhrkamp-Theorien noch viel zu bürgerlich waren. Merve importierte aus Frankreich und den USA die Erzeugnisse Freiheit, Subversion und Lebensfreude in der hipsten Verpackung. Philipp Felsch:

    Die Franzosen, denen wir Worte wie "Diskurs" und "Simulacrum" verdanken, verwandelten die 70er-Jahre in ein großes Gemetzel. Sie ließen den Menschen im Sand verschwinden, sie liquidierten den Autor, sie errichteten das Grabmal des Intellektuellen und dekretierten das Ende des Proletariats. Kein Wunder, dass das irgendwann auf Gegenwehr stoßen musste. In der Bundesrepublik beherrschten die Sachverwalter der Frankfurter Schule das Terrain. Alarmiert durch die Aussicht, ihre intellektuelle Lufthoheit zu verlieren, verschärften sie ihre Kritik an den Pariser Jungtürken, deren "Heideggerei" schon Adorno in den 60ern aufgestoßen war, jetzt, zehn Jahre später, zum Generalvorwurf der Gegenaufklärung.

    Muss denn Hegel immer recht behalten, gibt Felsch unwillig zu bedenken. Nicht unbedingt aber in vielerlei Hinsicht, findet jedenfalls George Steiner. Seine Überlegungen, als "leicht verkohlte Fragmente" deklariert, hat "Sinn und Form", Heft 6 jetzt abgedruckt.

    In acht Fragmenten bilanziert Steiner seine Philosophie gesättigte Erfahrung, eine fragmentierte Welt von der Antike bis heute, über Löwen und Mäuse, über das Böse, über Musik (Arion), die er liebt, und das Geld, das er verachtet, und über den "Freund Tod", dem keiner entrinnt.
    In diesem Textfragment findet sich die scheinbar absurde, in Wahrheit doch elementare Frage, die nur ein Denker (mit einem scharfen Ohr für klappernde Begriffe) stellen kann: "Gibt es Dasein außerhalb der Grammatik?" Die griechische Mythologie, so Steiner, ringe von Beginn an mit dem fruchtbaren Paradox der Verneinung.

    Aber lässt sich Nichtsein denken oder sagen? Parmenides lanciert die westliche Metaphysik auf diese zugleich logische und ontologische, grammatische und substanzielle Untersuchung. (Gibt es Dasein außerhalb der Grammatik?) Gibt es ein schwarzes Loch im Innersten des Seins? Was man nicht in einen Begriff fassen kann, kann man nicht aussprechen; was man nicht aussprechen kann, kann nicht sein. Worauf die Sophisten erwidern, dass die bloße Legitimität und Verständlichkeit der Frage den Status von "Nichts" validiert, dass Null beim Rechnen hilft (obwohl "Null" selbst ein späteres Hilfsmittel ist). Hegels Dialektik kehrt zu den Anfängen der Rationalität zurück. Das Prädikat hat Bedeutung, eben weil es uns sagt, was das Objekt nicht ist. Magritte gibt diesem Postulat ironischen Ausdruck - "Dies ist keine Pfeife". Für Heidegger ist Nichtsein, "das Nicht", der für die Unrast des Menschen ausschlaggebende wesentliche Abgrund und das Unheimliche an der Quelle des Denkens.

    Das Unheimliche hat ganz verschiedene Gesichter. Es führt uns direkt in eine andere Problemzone, die Franz Schuh unumwunden im "Kolik", Heft Nr. 57 anspricht:

    Ich, ein Häufchen Unglück, sitze ohne Magenband vor dem Arzt mit Magenband, bin dick und aus Angst hohl, ausgehöhlt, und mir wird eine andere Eigenschaft seiner stilsicheren Rede zuteil. Mit keinem Wort spricht der Arzt von meinem Übergewicht, aber das nicht aus Diskretion; er spricht mich viel indiskreter an, indem er ständig, wenn er mein Übergewicht meint, von meiner Untergröße spricht. Die Untergröße - der scheinhöfliche Scherz trifft viel mehr ins Herz, als es das gröbste Übergewicht könnte.

    Und Schuh stöhnt auf:

    Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen - was für eine Leerformel weit unterhalb des Niveaus gewöhnlicher Gemeinplätze, und dennoch: so wahr, aber so was von wahr!

    Georges Simenon, den Franz Schuh über alles schätzt, könnte das auch gesagt haben.
    Im "Diogenes Magazin Nr. 12" ist ein Interview mit dem Schöpfer des Kommissars Maigret abgedruckt, darin Simenon Schuh gemäß bekennt:

    Schreiben ist kein Beruf, sondern eine Berufung zum Unglücklichsein. Ich glaube, ein Künstler kann niemals glücklich sein.

    Aber, daran gilt es bei allem verkappten Selbstmitleid zu erinnern, nicht nur die Schreibenden, sondern auch die von ihnen oft glänzend Dargestellten können gerade darüber unglücklich sein. Einen interessanten Fall schildert Judith Elisabeth Weiss in dem jüngsten "Trajekte" Heft (Titel: "Kopf, Schädel, Gesicht"), das vom Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung herausgegeben wird. Es geht um den jüdischen Maler Frank Auerbach, den im April 1939 seine Eltern zusammen mit anderen Kindern nach Großbritannien verschickten. Auerbach wurde gerettet, die zurückgelassenen Eltern Opfer des Holocaust. Der verstorbenen Kultautor WG Sebald, in Frankreich, England und den USA hoch geschätzt, hat das Schicksal des Malers in dem Band "Die Ausgewanderten" auf seine suggestive Weise nacherzählt - und zugleich sie mit seiner eigenen Aufschreib-Geschichte so eng verknüpft, dass zum Teil Auerbach-Aurich und WG Sebald nicht zu unterscheiden sind. Und der von Adorno stammende "Trajekte"-Slogan "in die Worte bricht Geschichte ein" wird unmittelbar Realität. Auerbach selbst, so die Autorin,
    betrachtet Sebalds Erzählung als Missverständnis und "unerträglichen Übergriff in seine Privatsphäre". Er veranlasste für die englische Ausgabe "The Emigrants" die Änderung des Namens Max Aurach in Max Ferber und verweigerte die Reproduktion eines Porträts von Catherine Lampert und eines Fotografiedetails, das sein Auge zeigt. Diese Zurückweisung zwischen Aurach, der Figur, und dem Künstler offenbart das Spannungsfeld von historisch gegebenen Grundstoffen - im Falle Auerbachs die "Wunde" des Holocaust - und einem souveränen künstlerischen Ausdruck, der jeglichen Biografismus verweigert.

    Dem Biografismus als einer veralteten Form linearer Narration widersetzten sich vehement die "Hefte für neue Prosa" "Idiome".

    Nr. 5 macht sich auf die Suche nach neuen ästhetischen Potenzialen. Idiome Herausgeber Florian Neuner beobachtet angesichts des Mainstream der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur "wachsenden Unmut", wenn nicht Langeweile. Ein "ausführliches Werkstattgespräch mit Jürgen Ploog" will "Der Linearität entkommen". Es zeigt jedoch auch das Dilemma der heutigen Avantgarden, deren explosive Potenziale von skrupellosen Kulturmanagern sofort vermarktet werden. Ploog (Jahrgang 1935), jahrzehntelang auch als Pilot tätig, beharrt auf der Technik des harten Schnitts - auch Cut-up genannt, die ihm, dem Flieger, viel realistischer erscheint als das lineare Erzählen.

    Ein Pilot geht mit Daten um, mit Anzeigen, Wetterkarten und technischen Handbüchern, das ist seine faktische Realität. Die Natur liefert lediglich die Illustration dazu. Er bewegt sich ständig im Blindflug: Draußen sieht er nichts, weil dort entweder Wolken sind oder Nacht. Er muss nicht mehr aus dem Fenster schauen. (...) Die Maschine wird nur nach Instrumenten geflogen. Er bezieht sich auf Daten und kalkuliert aus diesen seine Lage im Raum. Ähnlich, denke ich, arbeite ich mit Sprache. Durch das Zerschneiden zerlege ich Texte, Sprachkörper in Bestandteile, die wie Anzeigen auf mich wirken, aus denen Situationen, Szenen und Ideen hervorgehen, mit denen ich mich dann auseinandersetze. (...) Hinzuschreiben, was ich gestern Abend erlebt habe, eine Episode, Schlägerei oder sonst was in einer Kneipe - das ist für Anfänger! Das bleiben Schulaufsätze im Grunde.

    Wie radikal man schon vor 100 Jahren dachte und schrieb, daran erinnert im neuen "Lettre (Winter-)Heft 99" ein Essay über Welimir Chlebnikow, den bedeutenden Poetologen und führenden Vertreter des Moskauer Kubofuturismus. Wassili Golowanow erklärt anhand ornithologischer Zeichen wie die Vögel am Kaspischen Meer in Chlebnikows Sprache eingedrungen sind.

    Im selben Heft berichtet Hausautor Georg Stefan Troller von seinen Begegnungen mit Louis Ferdinand Céline, Karl Valentin, Marlene Dietrich und Jean Paul Sartre und unterweist uns in der Kunst der authentischen Fiktion, die - wir erwähnten bereits Sebald - die Literatur seit Goethe bereichert.

    Viel hat ja Troller schon aus seinem bewegten Leben berichtet, aber dass er als junger Mann den geifernden Antisemiten Louis Ferdinand Celine in Wien zufällig kennenlernte und ihm später dann noch einmal begegnete, ebenso ganz kurz Karl Valentin nach Kriegsende in München, ist ein kleine Sensation. Aber Achtung! Als guter Freund der Aufklärung und der Re-Education lässt Troller schließlich die Katze aus dem Sack:

    Alles Erwähnte hat sich fast so abgespielt, hätte sich zumindest um ein Haar so abspielen können, durfte es aber nicht. Und warum nicht, wo doch der Autor in seiner verflossenen Zeit als einer Art Prominentenjäger anstandslos mit Edith Piaf aufwarten konnte, mit Gréco, mit Romy und Delon, mit Brando und Ingrid Bergman, mit Orson Welles und Coco Chanel? Weil es sich eben nicht ergab, oder doch nur am Rande. Oder weil die betreffenden Personen leider nicht wie erhofft, in mir den einfühlsamen Psychologen sahen oder gar den insgeheim erwünschten Beichtvater. Sondern bloß den altbekannten Vertreter sensationshungriger Medien, was man ja nebenher ebenfalls war.

    "Warum nur lacht' ich heute Nacht. Die Welt wirds nie erfahren, weder Gott noch Teufel sind dazu in der Lage", schrieb der todkranke John Keats. Im "Akzente" Heft 5, das hauptsächlich der aktuellen Lyrik aus Neuseeland gewidmet ist, stehen diese denkwürdigen Zeilen aus der "Ode an die Indolenz" des englischen früh verstorbenen Dichters, die den Tod, das Verschwinden des Subjekts und seine Wiederauferstehung im Medium Kunst beschwören. Wolfgang Held hat einige Keats-Gedichte neu übersetzt, und man merkt wie schwer das ist, wie sich die deutsche Sprache der englischen Poesie widersetzt, die viel wortreicher aber zugleich auch lapidarer ist. Englischsprachige Texte gleich welcher Art sind ins Deutsche transferiert ungleich länger, klingen oft umständlicher, gestelzt und weniger vif.

    Für die letzte "Akzente"-Seite hat Michael Krüger einige surreale Beispiele dazu aus der eigenen Branche herausgefischt, was herauskommt, wenn geschäftstüchtige Verlagsleute englische Buchtitel ins Deutsche übersetzen

    Snowdrops - -> Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
    Poet's Cottage -> Dornentöchter
    The Ecstasy of Influence -> Bekenntnisse eines Tiefstaplers
    Fall Girl -> Die schönsten Dinge
    There is no Dog -> Ok. Mein Gott.


    Haben Sie verstanden? Na dann alles Gute.]

    Literatur

    "Akzente" Heft Nr. 5/2012 - jeweils 7.90 Euro
    "Idiome" Hefte für Neue Prosa nr. 5 - 9,90 Euro
    "Kolik" Nr. 57, 2012 - 12 Euro
    "Lettre" Nr. 99 /2012 - 11.90 Euro
    "Sinn und Form" Heft 6, 2012 - 9 Euro
    "Trajekte" Nr. 25 8,90 Euro
    "Zeitschrift für Ideengeschichte" ("Droge Theorie") Winter 2012, 12,90 Euro; -