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Blick in die Unendlichkeit

In den Geschichten des Zürcher Schriftstellers Tim Krohn dreht sich alles um die melancholische Gemütsverwirrung von Jugendlichen, die sich einer undurchschaubaren Welt ausgesetzt fühlen. In novellenartigem Ton erzählen sie zum Beispiel von einer schon inzestuösen Mutter-Sohn-Beziehung.

Von Eva Pfister | 04.07.2005
    Zum Meer schafft er es nie, der elfjährige Jens in Tim Krohns Titelgeschichte "Heimweh". Aber die Sehnsucht ist schon gestillt, wenn er mit seiner Mutter Josefa an einem trüben Nachmittag den Genfer See betrachtet. Dessen französisches Ufer verschwimmt nämlich im Nebel und so geht der Blick in die Unendlichkeit. Erfüllung bieten die Ferientage aber vor allem deshalb, weil Mutter und Sohn ein so inniges Verhältnis haben, dass sie alles genießen können: die Fahrt mit dem alten Auto, den Einkauf im Secondhand-Laden oder das Nichtstun im billigen Hotelzimmer. In seiner oft etwas altmodisch anmutenden Prosa beschreibt Tim Krohn dieses Verhältnis mit den Worten: "Es war etwas Sonderbares um die beiden, die nichts weiter zu brauchen schienen und kaum Freunde hatten...". In der Tat sonderbar, ja fast inzestuös erscheint diese Mutter-Sohn-Beziehung. Sie schließt einen Partner für Josefa ebenso aus wie Spielkameraden für Jens. Dafür schminkt sich der Elfjährige gern, zieht manchmal Frauenkleider an und wird von seiner Mutter liebevoll "lilla flicka" genannt, ein schwedisches Kosewort für kleine Mädchen.

    Josefa kommt nämlich aus Schweden, sie blieb in der Schweiz hängen auf dem Weg nach Cannes, wo sie sich für den Film entdecken lassen wollte. Im Tessin brach ihr Auto zusammen; ein Mann versprach ihr einen Topolino für die Weiterfahrt, aber vorher wurde sie schwanger, und der Tessiner Familienvater verschaffte ihr eine Stelle im fernen Zürich. Jens hat ihn nie kennen gelernt, aber auch nicht vermisst, und als er eines Tages seiner Mutter vorschlägt, nach Schweder zu ziehen, scheint er eher ihr Heimweh zu spüren. Mitten im Aufbruch in ein neues Leben bricht die Katastrophe über sie herein: Josefa stirbt.

    Es ist eine sehr anrührende Geschichte, die Tim Krohn in "Heimweh" erzählt, und dass sie auch noch ermutigend endet, macht sie beinahe kitsch-verdächtig. Dafür ist sie aber zu subtil und auch zu kunstvoll erzählt. Der Prosa im alten Novellen-Ton, den der Autor vielleicht Gottfried Keller abgelauscht hat oder Conrad-Ferdinand Meyer, in dessen Namen er schon einen Preis entgegennehmen konnte; dieser Prosa stehen sehr lebendige und heutige Dialoge gegenüber. Und dass die Mutter-Sohn-Beziehung nicht problematisiert wird, hat mit der dominierenden Erzählperspektive aus der Sicht des Elfjährigen zu tun, für den diese Liebe etwas Selbstverständliches ist.

    (Das zeigt sich auch in seiner Unbefangenheit, mit der er die tote Mutter schmücken will. Er wählt ein Paar goldene Ohrclips aus, denn die "haben im Leben gedrückt", so erklärt er den eher entsetzten Erwachsenen vor der Beerdigung. )

    Auch die Protagonisten in den andern beiden Texten dieses Buches haben ihre Mutter verloren, und so fühlt Tim Krohn sich in einer Nachbemerkung bemüßigt, zu betonen, dass seine Mutter lebe und bei guter Gesundheit sei. Außerdem verrät der Autor, dass die Geschichte mit dem Titel "Ostfront" auf einer wahren Begebenheit beruht. Ein Sechzehnjähriger schlich sich 1944 von einem Ostschweizer Dorf über die nahe Grenze ins Deutsche Reich, um mitzukämpfen gegen die vorrückenden Russen. Vielleicht ist es auch eine Art Heimweh, was Joggeli Hauser, wie Tim Krohn seinen naiven Helden nennt, antreibt, denn seine verstorbene Mutter war Deutsche. Vor allem ist es jedoch der pubertäre Traum vom Heldenleben und vom Heldentod. Aber statt ihn bewundernd aufzunehmen und dankbar an die Ostfront zu schicken, steckt man den Jungen jenseits der Grenze erst einmal ins Gefängnis, nimmt x Mal seine Absichten zu Protokoll und scheint eher ratlos, was man mit dem tumben Tor anstellen soll, der dauernd rot wird. So tappt Joggeli Hauser durch die Bürokratie am Rande des NS-Staates, die aus dieser grotesken Perspektive wahrscheinlich noch nicht geschildert wurde.

    Der dritte Text in "Heimweh" ist eine Miniatur mit dem Titel "Das erste Bild". Dieser Geschichte vom kranken Jungen, der heimlich sein erstes Ferienfoto schießt, liegt eine Erinnerung zugrunde liegt, so erläutert Tim Krohn im Nachwort, die ihn früh gelehrt habe, das bisschen Glück, das der Mensch in seinem Leben benötigt, nicht von anderen zu erwarten, sondern es sich selbst zu schaffen. Man kann die drei Erzählungen alle unter diesem eher pädagogischen Motto lesen, und auch die ermutigenden Schlüsse verweisen auf das mögliche Vorbild des Entwicklungsromans aus dem 19. Jahrhundert. Aber die Stärke der Geschichten in "Heimweh" liegt vor allem in der treffenden Schilderung der melancholischen Gemütsverwirrung von Jugendlichen, die sich allein in einer undurchschaubaren Welt ausgesetzt fühlen.

    Zur Abmoderation:
    Tim Krohn: "Heimweh" ist erschienen als Band 19 der marebibliothek (Autoren erzählen ihre Geschichte vom Meer. Hsg.v. Denis Scheck) im Hamburger mare-Buchverlag, hat 192 Seiten und kostet 18 Euro