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Blinder Fleck in der Ukraine, Verbrechen für Polen

Vor 70 Jahren begannen Massaker in Wolhynien: Ukrainer töteten bis 1945 schätzungsweise 100.000 Polen. Während die Ukraine sich nach wie vor ausschweigt, eine Diskussion bislang ausbleibt, nimmt das Gedenken in Polen zum Teil skurrile Züge an. Am Samstag soll das Massaker nachgestellt werden.

Von Sabine Adler | 17.07.2013
    Wenn es donnert und knallt, raucht und pfeift, fühlen sich tausende Polen in ihrem Element.
    Jedenfalls die, die aus lauter Spaß am Wochenende aufs Schlachtfeld ziehen.

    Andrej Szeramt betreibt seine Schneiderrei nicht weit vom Warschauer Königsschloss. Wer eine Uniform braucht, egal wofür, kann kommen.

    "Diese Uniform hat ein Polizist bestellt, der in Rente geht. Zur Erinnerung an seinen Dienst, er wird sie nicht mehr tragen. Wir nähen auch Uniformen für Filmaufnahmen, zum Beispiel für den Reichsaußenminister Ribbentrop. Wir nähen aktuelle Uniformen und historische, aus allen Epochen, nach Gemälden Zeichnungen, Fotos. "

    Morgen findet zum ersten Mal die sogenannte Rekonstruktion des Massakers von Wolhynien statt, bei dem Ukrianer vor 70 Jahren rund 100.000 Polen ermordet haben. Dem Schneider und selbst ausgefuchsten Schlachtenbummlern ist schleierhaft, was genau nachgestellt werden soll. Mirosław Majkowski, Mitorganisator sogenannter Rekonstruktionen, bleibt verdächtig vage.

    "Wir fangen in der Abenddämmerung an. Die Nacht ist unser Verbündeter, um nicht zu zeigen, was dort passierte. Wir hören und teilweise sehen wir auch etwas. Den Rest werden wir vermuten."

    Augenzeugen aus jenen Tagen haben andere Sorgen. Sofia Schwal verlor ihre Familie, wuchs im Waisenheim auf und hat immer noch nicht ihren Frieden gefunden.

    "Wenn ich hier herkomme, nehme ich einen Spaten mit und fange an zu graben, in der Hoffnung auf Überreste zu stoßen. Die ich dann richtig begrabe, auf dem katholischen Friedhof in Poryck (Porizk), auch wenn ich weiß, dass die ukrainische Regierung Exhumierungen derzeit nicht zulässt.”"

    Dem ukrainischen Historiker Andrej Portnow ist fast peinlich, wie ungleich Polen und sein Land der tragischen Ereignisse vor 70 Jahren gedenken. Nicht nur, weil in der Ukrainie niemand auf die Idee käme, sie als Schlacht nachzustellen.

    ""Wenn die ukrainische Regierung in diesem Jubiläumsjahr etwas tun möchte, sollte sie einer internationalen Historiker-Kommission zustimmen und Ausgrabungen in den ehemaligen polnischen Dörfern starten. Denn diese Dörfer sind vollständig zerstört worden, die Toten wurden – wenn überhaupt - in Massengräbern verschart. Deswegen gibt es auch keine genauen Zahlen über die Opfer und die Schauplätze."

    Während Polens Parlamentsabgeordnete darüber stritten, ob das Ganze nun als Völkermord bezeichnet werden darf, und sich für die abgemilderte Formulierung entschieden, ein Verbrechen mit Anzeichen von Völkermord. Während dessen herrschte in der Ukraine Stille und: Ahnungslosikgeit, beklagt der Historiker Portnow.

    Andrej Portnow
    "In der Sowjetzeit stand über das Morden in Wolhynien nichts in den Lehrbüchern. Wer nicht aus Wolhynien kam, wusste nichts. Laut Umfrage sind das immer noch 50 bis 60 Prozent der ukrainischen Bevölkerung."

    Die Polen sind über die Gleichgültigkeit enttäuscht, Präsident Komorowski stand ohne seinen Kiewer Amtskollegen am vorigen Sonntag in Wutzk und musste sich von der ukrainischen nationalistische Partei Swoboda noch als Personen non grata beschimpfen lassen, als er in das ukrainische Dorf kam.

    Wolhynien, der Krieg im Krieg, ist für die Ukrainer ein blinder Fleck und wunder Punkt zugleich. Dass wenigsten die Kirchen zur Versöhnung aufriefen, ist für den Historiker Portnow kein Trost.

    "Die Kirchen haben die Morde verurteilt, aber viel zu vorsichtig und euphemistisch. Die Erklärung ist das, was wir von Polen und Deutschland kennen: Wir vergeben und bitten und Vergebung. Die berühmte Formulierung. Nur hier geht es nicht nur um die Verurteilung der Gewalt, sondern um das geschichtliche Verständnis der ukrainischen Aufstandsarmee. Man muss die Dinge beim Namen nennen. Das war ein geplanter Massenmord der ukrainischen Aufstandsarmee, die auch Anschläge gegen die deutschen wie gegen die sowjetischen Truppen verübt hat, und die bis in die 50er-Jahre hinein Widerstand gegen die Sowjetmacht in Galizien geleistet hat. Wie wir heute auf diese Armee sehen, wird unser Selbstverständnis als ukrainische Nation bestimmen. Bis jetzt halten nicht nur die Nationalisten, sondern auch demokratischen Oppositionelle diese Aufstandsarmee als Vorkämpferin für eine unabhängige Ukraine. Es geht also um noch mehr, als die für Polen so wichtige Anerkennung der Schuld."

    Stanislaw Filipowitsch erinnert sich an das Wüten der Ukrainer.

    "Diesen Völkermord werde ich bis ans Ende meiner Tage nicht vergessen: Wie sie in die Kirche in Poryck kamen und das Feuer auf die Leute eröffnet haben, Granaten warfen, fast die ganze Kirche ermordeten."
    Meletej Semeniuk, der in der ukrainischen Aufstandsarmee gekämpft hat, will von Schuld nichts hören.

    "Wolhynien war nicht polnisch, sondern ukrainisch, genau 16 Prozent waren Polen, der Rest waren Ukrainer.”"

    Stanislaw Oczos, der Uniformenschneider in Warschau mag es, wenn seine Landsleute Schlachten nachstellen, egal ob die von Tannenberg vor 500 Jahren oder morgen erstmals in Wolhynien.

    ""Sehr schön, dass die Tradition nicht verschwindet. Menschen mögen Erinnerungen aus alten Zeiten. "

    Ob er teilnimmt? Nein, dafür dafür hat er keine Zeit.