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Blog: Postkarten aus Cannes
Der große Unbekannte

Vorführungen im Salle Debussy im Festivalpalast in Cannes folgen einer rätselhaften Tradition, stellt Maja Ellmenreich fest. Wenn das Licht erlischt, ertönt aus irgendeiner Ecke des Saales ein langgezogener Ruf nach einem gewissen Raoul. Doch wer ist Raoul?

Von Maja Ellmenreich | 19.05.2016
    Langsam füllt sich der "Salle Debussy" im Festivalpalast in Cannes.
    Langsam füllt sich der "Salle Debussy" im Festivalpalast in Cannes. (deutschlandradio.de / Maja Ellmenreich)
    "Und? Schon was von Raoul gehört in Cannes?" fragt mich per SMS eine Cannes-erfahrene Kollegin, die dieses Jahr nicht an die Croisette gekommen ist. Raoul? Hier in Cannes? Nein, wieso? Es dauert ein paar Tage, bis der Cannes-Neuling den wolfsähnlichen Schrei zu Beginn einer Vorstellung im "Salle Debussy" als Markenzeichen, als Tradition entschlüsselt und nicht für eine einmalige Sache hält.
    Wenn das Licht erlischt, ertönt aus irgendeiner Ecke des Saales ein langgezogener Ruf nach einem gewissen Raoul. Etwa so: Raouuuuuuuuuuul! Achtet man genau drauf, hört man anschließend den ganzen Saal schmunzeln. Gelegentlich wird der Raouuuuuuuuuuul!-Ruf auch mit einem animalischen Aufheulen beantwortet. Dann klingt die gemeinschaftliche Reaktion noch deutlich lauter.
    Wem nun also gilt diese akustische Performance? Eine eindeutige Erklärung lässt sich nicht ermitteln, bestenfalls lassen sich ein paar Vermutungen finden. So ist das eben mit urban legends.
    Es ist noch nicht einmal klar, seit wann genau der Ruf erschallt: Einige wollen ihn schon Anfang der 1970er vernommen haben. Eine Theorie besagt, dass einst ein hilfsbereiter Filmfan seinem Freund Raoul einen Platz freihalten wollte, weil der es erst in letzter Minute ins Kino schaffen würde. Mit fortgeschrittener Zeit wurde es aber mühsam, den Sessel als einen der letzten freien im Saal zu verteidigen. Noch immer kein Raoul in Sicht... Verzweifelt soll der Platzhalter daraufhin nach ihm gerufen haben.
    Eine andere Theorie erklärt den Aufschrei als Hommage an diverse Raouls der Filmbranche. Etwa an den chilenischen Regisseur Raúl Ruiz, den französischen Filmkritiker Raoul Mille oder den Filmemacher Raoul Peck aus Haiti. Aber, Moment! Sollte der Ruf wirklich schon seit über 40 Jahren zu hören sein, wäre Letzterer zum Beispiel für diese Ehrerbietung doch noch viel zu jung…?
    Aufgeklärt wird das Rätsel sicher nie. Aber ich bin für die erste Variante: als Hommage an Vor-Handyzeiten, in denen man noch keine Textnachrichten erhielt à la "Bin noch rasch zur Toilette. In welchem Block sitzt du?", sondern noch warten und womöglich laut rufen musste.