Freitag, 19. April 2024

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Bodo Ramelow zu Besuch in Polen
Politische Turbulenzen auf menschlicher Ebene überwinden

Auf seiner Polen-Reise hat Bodo Ramelow das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz besucht. Beim Anblick von Kubikmetern von Schuhen, Koffern und Haaren bleibt Thüringens Ministerpräsident sprachlos zurück - und warnt später in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte vor einem neuen Nationalismus in Europa.

Von Henry Bernhard | 18.06.2016
    Der Weg nach Krakau führt für Bodo Ramelow über Auschwitz. Die Führung beginnt am frühen Morgen. Das Lagertor gleich zu Beginn. "Arbeit macht frei." Die zynische Signatur kann man fast übersehen. Die inzwischen hochgewachsenen Bäume ringsum bewegen sich im stürmischen Wind, der Staub bläst dem Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und dem stellvertretenden Leiter der KZ-Gedenkstätte Auschwitz, Andrzej Kacorzyk, ins Gesicht.
    Andrzej Kacorzyk
    "Das Jahr 1939, Überfall auf Polen. Und Polen wurde zwischen Sowjetunion und…"
    Bodo Ramelow
    "… geteilt!"
    Andrzej Kacorzyk
    "… Deutschland geteilt. Und auch Oświęcim wurde direkt an das Dritte Reich angegliedert. Deswegen sprechen wir nicht von Oświęcim, sondern Auschwitz, denn der Name der Stadt wurde so geändert."
    Ramelow kennt viele Ehemalige KZs, in Auschwitz ist er zum ersten Mal. Er lässt sich vieles genau erklären. Die Ankunft der Züge, die Selektion. Die perfide, effiziente Tötungsmaschinerie, die monströsen Zahlen.
    Andrzej Kacorzyk
    "Ungefähr 1.300.000 Männer, Frauen und Kinder wurden nach Auschwitz…"
    Bodo Ramelow
    "Sagen sie die Zahl noch mal!"
    Andrzej Kacorzyk
    "1.300.000"
    Immer wieder findet Ramelow Verbindungen nach Thüringen: Nach Weimar, nach Buchenwald, nach Erfurt, wo die Firma Topf & Söhne die Verbrennungsöfen für die Krematorien konstruiert und perfektioniert hat, die den industriellen Massenmord erst ermöglicht haben. Er sucht nach Erklärungen, nach der Logik der Schuld und Verstrickung des Einzelnen und der ganzen Gesellschaft.
    Bodo Ramelow
    "Topf & Söhne am Anfang ja mit einer friedlichen Technologie entstanden, weil die Firma ja was ganz anderes gebaut hat - für Mälzerei. Aber die Frage der ingenieurtechnischen Leistung, wie man eine Gaskammer baut und wie man 2.000 Menschen auf einmal zu Tode bringt – ich meine, da muss ja technisches Wissen so präsent sein im Kopf, man muss ja genau wissen, was man tut!"
    Andrzej Kacorzyk
    "Ja!"
    Man kann noch so viel über das System der KZs, über den Holocaust, selbst über Auschwitz gelesen haben. Nichts bereitet den Besucher wirklich auf Auschwitz vor. Vor Kubikmetern von Schuhen, von Koffern, von Schuhbürsten und Rasierpinseln, von Schüsseln versagt jede Sprache oder Erklärung. In den Bergen von menschlichen Haaren auch vereinzelte Zöpfe. Ein Abgrund. Und Ramelow, der Politiker, war er darauf gefasst?
    In Auschwitz zu sehen: Kubikmeter von Schuhen, Koffern, Schuhbürsten und Rasierpinseln
    In Auschwitz zu sehen: Kubikmeter von Schuhen, Koffern, Schuhbürsten und Rasierpinseln (deutschlandradio.de / Henry Bernhard)
    Bodo Ramelow
    "Nein, nein. Es ist eine unmittelbar zwingende körperliche Reaktion, die ich auch spüre. Und die Unfassbarkeit vor zehn- oder zwanzigtausend Menschen, deren Haare ich gerade gesehen habe. Und die Brutalität, was es heißt, vor einem Berg voller Schuhe zu stehen, die man den Menschen geraubt hat und denen man die Haare abgeschnitten hat, denen man die Zähne ausgebrochen hat. Und eine ganz normale Fabrik verarbeitet die Haare zu Filz. Jeder hat gewusst: Das ist die brutale Ermordung unserer Nachbarn!"
    Andrzej Kacorzyk erzählt bei der Verabschiedung, wie wichtig ihm die Besuche von Politikern sind. Weil sie für die Bildung der Kinder verantwortlich sind; weil sie dafür sorgen können, dass noch mehr Menschen kommen, um zu sehen, daß es Austausch- und Jugendprogramme gibt.
    Ramelow warnt vor neuem Nationalismus
    Nach dem Stammlager Auschwitz und Birkenau, dem Vernichtungslager, trifft Ramelow in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz auf eine Gruppe junger Leute der Aktion Sühnezeichen. Er erzählt sehr persönlich von seinen Großeltern, seinem Vater, von deren Schweigen bis ins Grab. Erzählt von Rechtspopulisten heute, die nun Moscheen statt Synagogen bekämpfen. Warnt vor einem neuen Nationalismus in Europa.
    "Dass ich heute hier bin, war mein Wunsch. Wir sind Partner von Kleinpolen, von Małopolska. Ich möchte nicht, dass wir im Moment zunehmend in Europa übereinander reden, dass wir wieder dumm über andere daherreden."
    Fragen zur großen Politik, zu den momentan etwas gestörten Beziehungen zwischen Polen und Deutschland auf Regierungsebene, weicht Ramelow ebenso weiträumig aus wie später auch der Marschall der Woiwodschaft Kleinpolen. Doch wo der Marschall demonstrativ eine EU-Fahne hängen hat, da fehlt sie beim Woiwoden, dem Vertreter Warschaus in Krakau, der zudem die deutsch-polnische Begegnung kurzfristig abgesagt hat.
    Am Nachmittag schlendert Ramelow mit dem Marschall durch Krakaus Zentrum. An den Tuchhallen treffen sie auf immer mehr Deutsche und Polen, die zum Empfang in die historischen Hallen strömen.
    Begegnungen der persönlichen Art
    Drin spielt vor dichtgedrängtem Publikum ein kleinpolnisch-thüringisches Jugendorchester auf. Es gibt Reden, Orden, man scherzt und lacht. Der Marschall Kleinpolens, Jacek Krupa, sieht zumindest in seinem Amtsbereich keine Verstimmungen.
    "Das kann nur das heißen: Dass die deutsch-polnischen Beziehungen, die deutsch-polnischen Freundschaften wirklich blühen und gedeihen. Und einen Beweis dafür haben sie ja heute gesehen und gehört. Und ich glaube, dass gerade in so einer Situation, wo die politische Großwetterlage vielleicht wirklich nicht die Beste ist, umso mehr brauchen wir eben solche Beziehungen zwischen den Städten, Gemeinden, Regionen, zwischen einzelnen Menschen, um eben auch solche politischen Turbulenzen, die es wirklich mal geben kann, zu überwinden."
    Am späteren Abend, nachdem Krakau die Gäste mit einem Büffet und Thüringen sie mit Winzersekt von der Saale bewirtet haben, steht Bodo Ramelow auf der Terrasse der Tuchhallen. Unten, auf dem Hauptmarkt, pulsiert das junge Leben.
    "Es ist wichtig, dass man respektiert, dass jedes Land seine Regierung wählt und Regierungen miteinander umgehen müssen innerhalb Europas. Und ich habe heute von Auschwitz-Birkenau unserer Verantwortung, der deutschen Verantwortung, bis zum Abend, bei dem ich merke, wie es Versöhnung gibt und wie es eine ausgestreckte Hand für uns gibt. Das Gefühl, heute in Krakau, ist ein eigentlich schönes Gefühl, nach Hause zu fahren und zu sagen: Lasst uns mehr bemühen um Osteuropa!
    Er will sich jetzt öfter einladen nach Krakau. Und auch gleich noch Lemberg in der Ukraine mit dazu holen. Und das Weimarer Dreieck retten. Bodo Ramelow hat noch viel vor.