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Bolivien: Anspruch und Wirklichkeit

Mehr als ein Viertel der Bevölkerung Boliviens lebt unterhalb der Armutsgrenze. Mit den Erträgen aus der Öl- und Gasindustrie finanziert der erste indigene Präsident, Evo Morales, Sozialprogramme für die Armen. Doch das Land kommt nur langsam voran.

Von Gottfried Stein | 19.06.2011
    Januar 2006. In Bolivien beginnt ein neues Zeitalter. Zum ersten Mal in der knapp zweihundertjährigen Geschichte des Staates wird ein Indio Präsident. Evo Morales, Anführer der Kokabauern, übernimmt die Macht, die seit dem Abzug der spanischen Eroberer von deren Nachfolgern ausgeübt wurde:

    "500 Jahre Widerstand gegen unsere Machtübernahme sind zu Ende, es beginnen 500 Jahre Herrschaft der Indios, der Arbeiter, aller Schichten."

    Bolivien ist das einzige Land Lateinamerikas mit einer indigenen Bevölkerungsmehrheit. Rund zwei Drittel sind Aymara, Quechua, Guarani. Die meisten leben in großer Armut und fühlen sich von der Elite der Weißen und Mestizen unterdrückt und ausgebeutet. Morales, der aus einer bitterarmen Bauernfamilie aus dem bolivianischen Hochland stammt, verspricht, sein Land radikal zu verändern:

    "Das Volk Boliviens, alle gesellschaftlichen Sektoren sind entschlossen, unser Bolivien zu ändern, und das bedeutet, Bolivien neu gründen, dem Kolonialstaat und dem neoliberalen Modell ein Ende bereiten und das Erdgas wieder für die Bolivianer zu gewinnen. Alle, Intellektuelle, Freiberufliche, soziale Gruppen, gesellschaftliche Führer sind bereit, unser Land zu befreien und neu zu gründen."

    Jahrelang hatten Morales und seine Mitstreiter die Regierenden erbittert bekämpft, zwei Präsidenten aus dem Amt gejagt und auch gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt nicht gescheut. Morales' Vorgänger folgten seit den 80er-Jahren dem neoliberalen Wirtschaftsmodell Washingtons. Die Schlüsselindustrien und Infrastrukturbetriebe waren privatisiert, die Märkte geöffnet. Die staatliche Ölindustrie lag in den Händen ausländischer Großkonzerne. Aber das alles half der armen Bevölkerung wenig, betont die Politikwissenschaftlerin Gabriela Ichaso:

    "Die Probleme sind die gleichen, die Leute haben kein Wasser, die Lehrer bekommen keine Bezahlung, die Lebensqualität in Bolivien ist für die große Mehrheit sehr schlecht, es ist nur eine kleine Gruppe, deren Lebensqualität ähnlich der der Mittelklasse im Rest Südamerikas ist. Die große Mehrheit lebt wie in der Vorzeit, ohne Wasser, ohne Gesundheitsvorsorge, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne anständige Erziehung, ohne Straßen."

    La Paz im April 2011. Boliviens Hauptstadt in Aufruhr. Hundertschaften der Polizei riegeln das Regierungsviertel ab. Demonstranten blockieren Haupt- und Zufahrtstraßen. Ihre Wut richtet sich gegen den Präsidenten und die hohen Preise:

    "Er sagte, er sei Präsident der Eingeborenen, daran zweifeln wir nicht, denn er trägt Poncho und Sandalen. Aber er hat die Probleme Hunger und Elend nicht gelöst, unter denen das bolivianische Volk leidet."

    Es ist ein ungewöhnliches Bild: Lehrer, Angestellte, Arbeiter demonstrieren gegen Präsident Evo Morales, den sie vor Monaten noch begeistert gefeiert hatten. Grund für den Aufruhr: Ende letzten Jahres hatte Evo Morales die Erhöhung der Benzinpreise um über 80 Prozent angekündigt, und die Lebensmittelpreise explodierten. Erschrocken nahm er seine Entscheidung zurück - aber Zucker, Milch, Fleisch, Gemüse blieben teuer, und deshalb wollen die Bolivianer höhere Löhne:

    "Wir fordern ein gerechteres Gehalt, das den Grundbedürfnissen der Familien entspricht. Die Preise für manche Produkte sind um mehr als 100 Prozent gestiegen. Und die Regierung will uns nur zehn Prozent zugestehen, das reicht nicht aus, um zu überleben."

    Der "Gasolinazo", wie die Bolivianer das Fiasko um höhere Benzinpreise nennen, wird zur Bewährungsprobe für den Präsidenten. Zwar bewilligte die Regierung im April Lehrern und im Gesundheitsdienst Beschäftigten elf Prozent mehr Lohn, aber andere Berufsgruppen warten bis heute auf eine Gehaltserhöhung.

    Bolivien gilt noch immer als das Armenhaus Südamerikas. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Mit den Erträgen aus der Öl- und Gasindustrie finanziert Morales Sozialprogramme für Arme, Frauen und Kinder, aber vor allem in ländlichen Gebieten fehlen Krankenhäuser, Schulen, Trinkwasser und Strom. Das Land kommt nur langsam voran. Horst Grebe López, Präsident des Wirtschaftsinstituts Prisma:

    "Erstens glaube ich, dass die meisten Leute in Bolivien heute besser leben als vor einem Jahr, das trifft zu auf die Reichen, auf die ganz Reichen, auf die Mittelklasse und auf die Armen. Es gab also eine Steigerung des Besitzes und der Einkommen der Leute. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist dagegen noch immer sehr schlecht, zwei Drittel der Arbeiter in Bolivien sind im informellen Bereich tätig, das bedeutet, sie genießen keinerlei rechtlichen Schutz, bekommen keine Rente, keine Sozialleistungen."

    Als Evo Morales 2006 sein Amt antritt, verkündet er das Ende von 500 Jahren Unterdrückung der Indios durch die spanischen Kolonialherren und ihrer Nachfolger. Morales setzt 2009 eine neue Verfassung durch, die vor allem die Indigenen stärkt, gewinnt die erforderliche Volksabstimmung und schlägt die bürgerliche Opposition.

    Aber seit Monaten bröckelt die Zustimmung. Die Euphorie der letzten Jahre ist mittlerweile verflogen, die Umfragewerte für Morales sinken, auch wenn sie immer noch eine Mehrheit für den Präsidenten ausweisen. Die Tatsache, dass erstmals ein Indio den Andenstaat regiere, bedeute noch keine wirklichen Wandel, meint Claudia Benavente, Direktorin der Tageszeitung "La Razon", die selber indigener Herkunft ist:

    "Ich denke, es ist eher von symbolischem Wert, dass erstmals ein Indigener als Präsident legitimiert wurde und eine führende Rolle spielt, dass ein anderer Indigener dem Außenministerium vorsteht, eine Frau mit Eingeborenentracht dem Justizministerium und dass eine Kokaproduzentin in der Verfassungsgebenden Versammlung sitzt -, das alles hat großen symbolischen Wert, aber im Alltag sind die Strukturen der Gesellschaft weiterhin ungleich, sind sie weiterhin diskriminierend."

    Im Parlament hat Morales mit seiner "Bewegung für den Sozialismus" MAS eine komfortable Mehrheit, mit der er einen "Bolivianischen Sozialismus", eine Revolution von unten propagiert. Seine Klientel sind die Campesinos, die verarmte, indigene Landbevölkerung, und daran änderten auch die Proteste der letzten Zeit nichts, unterstreicht der Autor und Politikexperte Hugo Moldiz:

    "Die wichtigsten Partner von Präsident Morales, das heißt die Protagonisten dieses Wandlungsprozesses, sind die indigenen Bauern. Wer glaubt, Regierung und Verbündete hätten sich distanziert, verkennt entweder die Realität oder will klar politisch manipulieren. Die Arbeitergewerkschaften waren in Wahrheit nie aktiv an seinem Kampf beteiligt."

    Callapa, eine Vorstadt an den Berghängen oberhalb von La Paz. Schaufelbagger und Räumfahrzeuge sind pausenlos im Einsatz und versuchen, die Spuren einer Naturkatastrophe zu beseitigen. Ende Februar haben schwere Regenfälle einen ganzen Abhang mit 4000 Häusern weggeschwemmt und im weiten Umkreis alles zerstört.

    Es ist Sonntag, und auf dem intakten Hauptplatz weiter unten im Tal erklärt der Bürgermeister der versammelten Bevölkerung, wie es weitergehen soll. Früher hatten hier nur Indios gewohnt, aber mit den Jahren zogen immer mehr andere Bevölkerungsgruppen in die malerische Hügellandschaft. Ein älterer, gut gekleideter Herr macht sich große Sorgen:

    "Diese Regierung macht es vielleicht besser als viele andere Regierungen, vor allem für die Arbeiterklasse. Aber wie Sie hier sehen können, wer ruiniert ist, das sind wir, die Mittelklasse, denn zuvor hatten wir eine Regierung für die Reichen, jetzt haben wir eine für die Armen, aber für uns gibt es keine Regierung. Wir sind die Sandwichklasse."

    Knapp 50.000 Euro hat der Mann zusammen mit seiner Tochter in den Kauf eines Grundstückes und den Bau eines doppelstöckigen Hauses investiert. Jetzt haben sie alles verloren, sind provisorisch in einem Zeltlager untergebracht, und nun gebe es Probleme mit dem indigenen Bevölkerungsteil, meint seine Tochter:

    "Sie haben nach der Agrarreform von der Regierung Land bekommen, aber sie haben es verkauft. Wir haben es gekauft und die Gebäude errichtet. Das ist der Kampf zwischen den Mitgliedern der Indio-Gemeinschaft und uns, den Eigentümern. Sie werden ihr Land zurückgewinnen, das sie früher besaßen, aber wir werden nichts von den Gebäuden zurückbekommen."

    Bis heute ist der Streit ungeklärt: Während die Regierung den alten Grundbesitzern versprochen hat, ihnen neues Terrain zuzuweisen, müssen die Hausbesitzer um Schadensersatz bangen.

    Nach dem Bürgermeister sprechen die Vertreter der Indios, die ihre eigenen Autoritäten wählen. Es ist eine Art Ehrenamt, das jeder aus der Gemeinschaft für ein Jahr bekleidet. Beide Autoritäten haben gleiches Gewicht, so sieht es die neue Verfassung vor. Aber während der gewählte Bürgermeister für alle da ist, beschränken sich die Indiovertreter auf die Belange ihrer Volksgruppe. Trotzdem klappe das Zusammenleben gut, sagt der indigene Vorsteher aus einem der sieben Bezirke Callapas:

    "Zu Anfang war es ein olympischer Kampf zwischen Weißen und Indigenen. Das war die Situation. Aber das ist jetzt vorbei, denn in der Verfassung des Staates gibt es einen Artikel, in dem es heißt, es gibt nur ein Bolivien. Auf Grund dessen haben sich die Leute jetzt beruhigt und die Art und Weise, die Indigenen zu behandeln, hat sich auch etwas geändert."

    Ein kleiner Hof in Chimore, einem Dorf in der tropischen Regenwaldregion im bolivianischen Tiefland, etwa 250 Kilometer östlich der Hauptstadt La Paz. Hier lebt Juana Quispe mit ihrem Mann und drei Kindern. Die stämmige, stets in Landestracht und dem typischen Bowlerhut gekleidete Indiofrau ist eine lebende Legende. Als die Regierung in den 90er-Jahren, unterstützt und finanziert von den USA, rigoros Kokafelder abbrannte und Bauern wie die Quispes von ihren Höfen vertrieb, stand sie an vorderster Front des Widerstandes:

    "Als wir nicht gehen und Koka nicht ausrotten wollten, haben sie auf uns geschossen. Es gab Tote, Verletzte, Vertriebene, wir wurden verurteilt, als Terroristen und Kriminelle, wegen bewaffneten Aufstandes. Sie haben uns als Narko-Terroristen, Drogenhändler und Drogenbosse bezeichnet."

    Juana Quispe ist eine alte Weggefährtin von Evo Morales, der einst als Anführer der Kokabauern gegen die Oligarchie zu Felde zog. Als er Präsident wurde, stoppte er die Vernichtung der Felder, pfiff die Soldaten zurück, und dehnte die legalen Anbauflächen für Kokasträucher aus. Juana Quispe sitzt heute im bolivianischen Parlament als Abgeordnete ihrer Region Chapare - noch immer voller Wut auf die alten Gegner, und voller Lob für Compañero Evo:

    "Hier in den Tropen hat sich viel verändert. Die Kokaproduktion geht weiter, aber koordiniert, organisiert durch die Syndikate. Es gibt keine Toten, keine Verletzten, es herrscht Frieden und Ruhe. Mit Evo als Präsidenten gibt es Gerechtigkeit, es gab keinen einzigen Verletzten und Toten."

    Die Bauern im Chapare profitieren von der neuen Verfassung, die Morales durchgesetzt hat. Die Landreform garantiert ihnen eigenen Grund, der Staat kauft ihre Ernten ab, auch wenn viele immer noch mit der Drogenmafia Geschäfte machen. Aber gegen Gesetze zu verstoßen ist nicht mehr so einfach, denn die eigenen Nachbarn üben scharfe Kontrolle aus.

    Weil in Bolivien, besonders in abgelegenen ländlichen Zonen, Richter und Gerichte fehlen, gilt nicht nur das öffentliche, sondern auch das indigene Recht. In manchen Gemeinden ermahnen die Autoritäten recht drastisch zur Einhaltung der Gesetze. An Laternenpfählen hängen aufgeknüpfte Puppen, und in Einzelfällen wurden Diebe, kriminelle Polizisten und korrupte Bürgermeister von der aufgebrachten Menge gelyncht.

    Die neue Verfassung fordert ausdrücklich, das Recht auf Leben zu schützen. Aber weil bis heute ein klares Ausführungsgesetz fehlt, sind Willkür Tür und Tor geöffnet. Offizielle Statistiken gibt es nicht, aber laut Medienberichten sind in den letzten drei Jahren an die hundert Menschen Opfer von Selbstjustiz geworden.

    Eine Mine am "Cerro Rico", dem "Reichen Berg" in Potosí, der legendären Silberstadt auf der Hochebene östlich von La Paz. Der "Cerro Rico" ist ein Symbol für Ausbeutung und Unterdrückung der Indios in Bolivien. Die Spanier benutzten die Einwohner wie Sklaven. Heute ist das Silber längst ausgebeutet, aber noch immer suchen Tausende von Bergarbeitern, die Mineros nach Resten, die die Kolonialherren und später die großen Konzerne übrig gelassen haben:

    "Nein, hier gibt es nichts Anderes, nichts, wir haben keine Industrie, nichts als Minen. Für das Volk in Potosí sind nun mal die Mineros charakteristisch."

    Viele der Mineros sind wütend auf Morales: Hatte er doch versprochen, die Rohstoffvorkommen, vor allem Öl und Gas zu nationalisieren, und nicht, wie seine Vorgänger, es ausländischen Konzernen zu überlassen. Jaime Solares, Chef der Vereinigung der Minenarbeiter:

    "Diese Herren haben das Land verkauft, sie haben unser Gas mit allen Mitteln ausgebeutet. In der Oktober-Agenda steht: Das Gas verlässt unser Land weder über Chile noch Argentinien, das Gas wird industriell verwertet. Und das ist bisher nicht geschehen. Wenn er das gemacht hätte, hätte er heute nicht die Probleme mit den Gehaltserhöhungen."

    Entgegen seiner Ankündigung hat Morales die Rohstoffindustrie bis heute nicht enteignet, sondern lediglich unter staatliche Kontrolle gestellt. So kassiert die Regierung wesentlich höhere Gewinnanteile, statt wie früher ein Viertel, jetzt über zwei Drittel. Aber die Produktion bleibt hinter den Erwartungen zurück, weil wichtige Investitionen in die Förderanlagen fehlen, und weil sich die ausländischen Konzerne verweigern. Politikexperte Hugo Moldiz:

    "Der Staat hat die Kontrolle über das Öl wieder bekommen, aber der Prozess der Nationalisierung wird heute angesichts der Ergebnisse in Frage gestellt, aber auch wegen der Art der weiterhin brüchigen Beziehungen zwischen Staat und den globalen Konzernen, die, da sie die Technologie besitzen, auch Möglichkeiten zur Erpressung und zu Pressionen der Regierung gegenüber haben."

    Für die Menschen in Potosí hat sich das Leben mit der Regierung Morales wenig verändert. Die Knochenarbeit in den mittelalterlichen Bergstollen fordert ihren Preis, die Lebenserwartung der Mineros liegt bei 35, 40 Jahren. Und doch lassen die meisten in der Region nichts auf den Indiopräsidenten kommen, wie diese Frau:

    "Ich denke, dass er es gut macht, landesweit, er macht gute Arbeit, er ist ein guter Präsident für Bolivien. Was andere Präsidenten in einem Jahr machen, das macht er mit der linken Hand. Aber es gibt andere, die ihn nicht mögen, deshalb sagen sie, er macht gar nichts."

    Für viele Menschen bleibt Evo Morales ein Hoffnungsträger. Natürlich vor allem für die Indios, und Morales selbst betont immer wieder, wie wichtig ihm seine Herkunft ist. Der erste Indio an der Spitze des Staates vertrete einen klaren Standpunkt, unterstreicht César Navarro Miranda, Vizeminister des Präsidenten:

    "Was ein Mensch nie aufgeben darf, ist seine Identität, und Evo wird nie, nie seine Identität verlieren. Er ist als sozialer, als politischer Führer zusammen mit den Kokabauern im Kampf groß geworden, zusammen mit seinen Kameraden, den Bauern, im Kampf gegen den Kapitalismus, gegen den Imperialismus und im Kampf für einen pluralistischen Staat und für den Sozialismus. Das ist die Identität von unserem Evo, das ist Evo."