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Borodin Quartett
Delikate Schostakowitsch-Interpretation

Das russische Borodin Quartett überstand viele Besetzungswechsel und kann in diesem Jahr stolz auf sein 70-jähriges Bestehen zurückblicken. Zum Jubiläum hat das Ensemble eine neue Gesamtaufnahme der Werke für Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch in Angriff genommen.

Von Norbert Hornig | 16.08.2015
    Maxim Schostakowitsch, Sohn des berühmten Komponisten Dimitri Schostakowitsch, bei einem Konzert der St. Petersburger Philharmonie
    Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) war einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. (picture alliance/dpa/Igor Russak)
    "In diesem meinem ersten Quartett sollte man nicht nach Tiefgründigkeit suchen. Es ist fröhlich, heiter und lyrisch. Ich würde es als frühlingshaft bezeichnen."
    Mit diesen einfachen Worten charakterisierte Dmitri Schostakowitsch einmal sein erstes Streichquartett, das er 1938, nach der tragischen fünften Sinfonie, wie eine Kompositionsübung zur Entspannung aufs Notenpapier warf. Das Borodin Quartett will aus dem Werk auch gar nichts anderes machen, es nimmt diese Musik mit leichter Hand, und sie klingt wie sie gedacht ist: unbeschwert und harmonisch.
    Noch ahnte Schostakowitsch nicht, dass von diesem Werk ausgehend einmal ein gewaltiger Zyklus von 15 Streichquartetten entstehen würde, der zur bedeutendsten Kammermusik des 20. Jahrhunderts gehört und in einem Atemzug mit Beethoven genannt wird.
    Zu seiner weltweiten Verbreitung im Konzertsaal und auf Schallplatte leistete das Borodin Quartett einen entscheidenden Beitrag. Die Abgeklärtheit mit der die Musiker das achte Streichquartett gestalten, kann exemplarisch stehen für die interpretatorische Grundrichtung, die sie in ihrer neuen Aufnahme einschlagen. Man hat immer das Gefühl, dass hier Künstler am Werke sind, die über eine immense Erfahrung verfügen, die sich nichts mehr beweisen müssen, die nie den knalligen Effekt suchen, die einfach angekommen sind und ihre Mitte gefunden haben. Gelassenheit und organisches Fließen, gemeinsames Fühlen und Denken führen hier zu einer von beeindruckenden Schlüssigkeit der musikalischen Aussage:
    Für die erste Folge seiner neuen Gesamtaufnahme der Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch hat das Borodin Quartett drei Werke aus unterschiedlichen, zeitlich weit auseinanderliegenden Schaffensperioden des Komponisten ausgewählt. Auf das freundliche erste Quartett folgt das finstere achte, das Schostakowitsch 1960 im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges komponierte. Das hoch expressive fünfsätzige Werk nimmt in der Streichquartettliteratur eine Sonderstellung ein.
    Initialen bilden das Hauptthema
    "Ich habe es mir selbst gewidmet", soll Schostakowitsch gesagt haben. Der autobiografische Charakter erklärt sich auch unmittelbar aus der Musik selbst. Das Hauptthema wird von den Tönen D-Es-C-H, den Initialen des Namens Dmitri Schostakowitsch gebildet. Ferner greift der Komponist auf Material aus früheren Werken zurück, auch findet man Anspielungen auf Wagner und Tschaikowsky. Dem achten Streichquartett gab Schostakowitsch in einem Brief an seinen Freund, den Theaterkritiker und Historiker Isaak Glikman, bitterernste Gedanken mit auf den Weg:
    "Ich schrieb das Quartett, das für niemanden Nutzen hat und ein ideeller Fehlschlag ist. Ich dachte daran, dass nach meinem Tod wohl niemand ein Werk zu meinem Gedächtnis komponieren wird. Daher beschloss ich ein solches Werk selbst zu komponieren ... Die Pseudotragik dieses Quartetts liegt darin, dass ich beim Komponieren so viele Tränen vergoss wie Urin nach einem halben Dutzend Bieren."
    Dass sich das achte Streichquartett dann sehr schnell im Repertoire etablieren konnte, hatte Schostakowitsch kaum erwartet. Es gehört heute zu den meist gespielten Kompositionen für Streichquartett des 20. Jahrhunderts. Und kaum ein Ensemble führte es häufiger auf als das Borodin Quartett. Dennoch verfällt es nicht in Routine, im Gegenteil: Es hat seinen Stil verfeinert und in eine subtilere Richtung gelenkt, was letztlich auch Vertiefung des Ausdrucks und mehr Expressivität bedeutet:
    Zusammenarbeit mit langer Tradition
    Nur wenige Streichquartett-Formationen haben sich mit dem Quartettschaffen von Dmitri Schostakowitsch so intensiv auseinandergesetzt wie das Borodin Quartett. Mit mehreren Gesamtaufnahmen und vielen Aufführungen des kompletten Zyklus im Konzertsaal schrieb das Ensemble ein Stück Interpretationsgeschichte und begründete eine Aufführungstradition, die durch die persönliche Begegnung mit dem Komponisten entscheidend geprägt wurde. Der 2008 verstorbene Cellist Valentin Berlinsky, der noch zur ersten Besetzung des Quartetts gehörte, beschrieb die Begegnung mit dem Komponisten einmal so:
    "Die Zusammenarbeit von Schostakowitsch und dem Borodin Quartett begann bereits 1946. Wir waren noch Studenten, als wir ihm sein erstes Quartett vorspielten. Bis zu seinem Tod 1975 haben wir ihm außer der Nr. 15 alle seine Quartette vorgetragen, bevor wir damit auf das Podium gingen. Unsere Interpretationen sind sozusagen von ihm autorisiert. Er war recht wortkarg. Als wir ihm etwa das 8. Streichquartett vorgespielt hatten, verließ er ohne Kommentar den Raum. Später sagte er dann: 'Spielt weiter so, wie ihr mir vorgespielt habt.'"
    Und sie spielten weiter, wahrscheinlich hat das Borodin Quartett in den sieben Jahrzehnten seines Bestehens häufiger Schostakowitsch aufgeführt als jedes andere Streichquartett. Die Musiker aus Moskau sehen es als ein Privileg an, diese Tradition zu pflegen.
    Das Streichquartett Nr. 14 ist das dritte Schostakowitsch-Quartett, mit dem das Borodin Quartett seine neue Gesamtaufnahme des Zyklus beim Label Decca gestartet hat. Es entstand 1973, zwei Jahre vor dem Tod des Komponisten, bringt aber stilistisch keine Neuerungen mehr. Zwischen den heiteren Außensätzen steht ein langsamer Satz voller Ernst und Nachdenklichkeit. Das Borodin Quartett lässt hier völlige Ruhe einkehren, die Musiker meditieren sich förmlich durch diesen Satz, sie kreieren dabei eine Atmosphäre der Verinnerlichung, die einem kontemplativen Zustand sehr ähnlich ist.
    Schostakowitsch beherrschte auch das leichtere Genre
    Nicht alles klingt so ernst und streng bei Schostakowitsch wie dieser langsame Satz aus dem 14. Streichquartett. Schostakowitsch beherrschte auch das leichtere Genre, er komponierte unter anderem Jazz- und Ballettsuiten sowie Filmmusik. Auch das Borodin Quartett gibt in seiner neuen Aufnahme eine Kostprobe davon, denn die CD klingt aus mit den "Zwei Stücken für Streichquartett op. 36a". Beim zweiten Stück handelt es sich um eine Transkription der Polka aus dem Ballett "Das Goldene Zeitalter", das Borodin Quartett spielt es gern auch als Zugabe im Konzert, der Beifall ist ihm immer sicher. Und auch hier lassen die Borodins die Musik ganz aus sich heraus sprechen ohne zu forcieren – heraus gekommen ist eine delikate Interpretation von intelligentem Witz.
    Borodin Quartett
    Dmitri Schostakowitsch: Streichquartette Nr. 1, Nr. 8 und Nr. 14
    LC 00171 Decca/Universal 478 8205 EAN 028947882053
    Musikliste:
    Dmitri Schostakowitsch
    Aus: Streichquartett Nr. 1 C-Dur op. 49
    3. Satz (Allegro molto)
    Borodin Quartett
    Take: 03
    Dauer: 2:02
    LC 00171 Decca/Universal 478 8205 EAN 028947882053
    Dmitri Schostakowitsch
    Aus: Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110
    2. Satz (Allegro molto)(Ausschnitt)
    Borodin Quartett
    Take: 06
    Dauer: 2:44
    LC 00171 Decca/Universal 478 8205 EAN 028947882053
    Dmitri Schostakowitsch
    Aus: Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110
    3. Satz (Allegretto)(Ausschnitt)
    Borodin Quartett
    Take: 07
    Dauer: 2:42
    LC 00171 Decca/Universal 478 8205 EAN 028947882053
    Dmitri Schostakowitsch
    Aus: Streichquartett Nr. 14 Fis-Dur op. 142
    2. Satz (Adagio)(Ausschnitt)
    Borodin Quartett
    Take: 12
    Dauer: 2:06
    LC 00171 Decca/Universal 478 8205 EAN 028947882053
    Dmitri Schostakowitsch
    Aus: Zwei Stücke für Streichquartett op. 36a
    2. Polka
    Borodin Quartett
    Take: 14
    Dauer: 2:30
    LC 00171 Decca/Universal 478 8205 EAN 028947882053