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Botho Strauß: "Der Fortführer"
Denkanstöße eines Unzeitgemäßen

Botho Strauß präsentiert sich erneut als einsamer Rufer in einer sehr auf News und Fakten fixierten Gegenwart. Wo alles Mythische, Zauberhaft-Spirituelle auf den vernünftig-verkürzten (Sprach-)Nenner gebracht werde, müsse der Dichter zum "Fortführer" unzeitgemäßer Ahnung und Erkenntnis werden.

Von Jörg Magenau | 28.05.2018
    Botho Strauss: Der Fortführer
    Botho Strauss: Der Fortführer (Rowohlt/ Unsplash)
    "Fortführen" hat im Deutschen zwei Bedeutungen. Es meint, eine bereits begonnene Sache fortzusetzen; es heißt aber auch, jemanden von einem Ort zu einem anderen zu bringen, also wegzuführen. Beide Bedeutungen fallen für Botho Strauß in der Arbeit des Dichters zusammen. Er nimmt vorangegangene Dichtung auf und führt sie weiter. Er führt aber auch die Leser fort, indem er sie sprachlich ergreift und "aus ihren Umständen, Belangen und Geschäften" entfernt.
    So ein Fortführer ist natürlich vor allem Botho Strauß selbst. Traditionsbewusst stellt er sich gegen den Zeitgeist des modischen Getriebes. Er lässt sich - anders als all die "Gegenwartsnarren" - von einem "unterschwelligen Überlieferungsstrom sicher tragen". So klingt das bei ihm. Er nennt das auch eine "Ästhetik der Anhänglichkeit".
    Von Hamann über Hölderlin, Goethe, Novalis, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Stifter, George, Borchardt und Heidegger reicht der Straußsche Anhänglichkeits- oder Überlieferungsstrom bis zu all jenen, die wie Michael Landmann oder Albrecht Schaeffer schon zu Lebzeiten übersehen oder vergessen wurden, weil sie die jeweils herrschenden Diskurse mieden.
    Dort, am äußersten Rand der Zeiten, richtet Botho Strauß sich ein als ein Suchender, der sich der massenmedialen Geschwätzigkeit entzieht, indem er eine andere, kostbare Sprache erprobt. Sein Denken und Empfinden kreist in diesem sperrig-schönen, alle Zugänglichkeit abwehrenden Buch um zwei große Themen: die Zeit und die Sprache. Das sind die beiden Elemente, die das Denken tragen, die es aber auch begrenzen, fesseln und niederhalten. Strauß will über Zeit und Sprache hinaus, kann das aber nur in der Zeit und in der Sprache. Das macht die spürbare Anspannung und Anstrengung seines Schreibens aus:
    "Man reicht nicht bis hin. Man langt und langt, man dehnt und streckt sich aus sein Lebtag - und reicht nicht bis hin."
    Und er klagt:
    "Wie oft bleibt man doch unter dem Niveau seiner gezählten Stunden!"
    Auf den Spuren von Meister Eckhart
    Anknüpfend an die romantische Tradition des Fragmentarischen setzt sich diese poetische Prosa aus kleinen Denkstücken zusammen, die deshalb mehr sind als Aphorismen, weil sie sich nach und nach zu einem Ganzen verweben. Der erste, in vierzehn losen Kapiteln locker verfugte Teil kreist um das "Nu" des Mystikers Meister Eckhart. Dieses "Nu" lässt sich nur andeuten und erleben als erfüllter Augenblick, der alles Gewesene und alle Möglichkeiten enthält, selbst aber herausspringt aus der chronologischen Kontinuität des Geschichtlichen. Das Nu ist etwas anderes als bloß jetzt und hier. Es gehorcht nicht kausaler Notwendigkeit, sondern entspringt der Wahrnehmungsintensität. Mit Strauß könnte man sagen, dass darin die bloße Gegenwart hin zum "Gewärtigsein" überschritten wird.
    Wenn es aber keine lineare Zeitfolge mehr gibt, kann es auch keine epische Erzählung mehr geben, die dem Muster "Und dann - und dann - und dann" folgen müsste. Wenn es überhaupt eine Richtung gibt, die Strauß einschlägt, dann würde sie zurückführen zu den Ursprüngen. Denn auch das, was war, und woher wir kommen, wird durch das "Nu" bestimmt:
    "Weshalb sollte man annehmen, der Transport von kulturellen und geschichtlichen Gütern sei auf dem Strom der Zeit immer nur in einer Richtung, zur Mündung unterwegs? Vielmehr bewegen wir uns unablässig stromaufwärts (schon um niemals zu münden in das flüsseauflösende Meer!). Bereits der Empfang solcher Güter macht uns zu den eifrigsten Konstrukteuren ihrer Herkunft. Wir tragen von der Gegenwart zurück in die vergangenen Vorgänge ihre Bedeutung. Die Späteren machen die Früheren. Ebenso transportiert jede persönliche Erinnerung Gegenwart in die Vergangenheit. Die Flussmetapher muss sich zu einer Richtungskorrektur bequemen."
    An solchen Stellen klingt Botho Strauß ausnahmsweise so ingenieurshaft wie Alexander Kluge. Sein vorherrschender Tonfall aber nähert sich eher dem Stil des alten Ernst Jüngers an. Er ist getragen von der tiefen Sehnsucht nach einer wahreren, wirklicheren Welt als der der Chimären. Da erscheint dann der Riss in einer Felswand wie das Fossil eines von Jupiter geschleuderten Blitzes. Der Mythos ist der überzeitliche Horizont, von dem aus die Dinge erst ihre Tiefendimension bekommen und eben mehr sind als bloß Dinge im Jetzt und Hier.
    Wem das zu mystisch ist, zu mythologisch auch in dem Bemühen, über das bloß Geschichtliche hinauszugelangen, der wird bei Botho Strauß rasch ermüden und das Buch als Sammelsurium von Weisheiten, Beobachtungen und Sarkasmen nach ein paar Seiten ratlos beiseitelegen. Man muss schon bereit sein, den Sprung ins Offene mitzumachen und nicht so sehr aufs Verstehen setzen, als auf Ahnung, Verschlüsselung oder Zeichenhaftigkeit.
    Der Dichter Botho Strauß
    Der Dichter Botho Strauß (imago / imagebroker)
    Sprache ist dann kein Erkenntnisinstrument und schon gar kein Transportmittel für Informationen, sondern eher so etwas wie Musik - am besten als Fuge mit Variationen. Das Symbolische ist wichtiger als die Definition. Strauß spricht deshalb auch vom Klangzauber und von Erkenntnismelodie. Von da aus gelingen ihm immer wieder wunderschöne Momentaufnahmen der Gegenwart, so zum Beispiel das Bild eines Mädchens, das versonnen in sein iPhone blickt und von ihm angestrahlt wird. Der Betrachter verliebt sich in die reine Leere ihres Gesichtsausdrucks, als wäre sie eine Madonna von Bellini.
    Wider die "blöde Gescheitheit" der Mediengesellschaft
    Doch leider reicht es Strauß nicht, das Schöne aufzuspüren. Er richtet seine ganze Verachtung auf die moderne Welt, die mit ihrer Technik, ihrer "blöden Gescheitheit" und ihrem medialen Dauerbeschuss nicht nur die Stille zerstört, sondern jegliches Sprechen in den Rang von "Kommunikation" herabwürdigt. Auch wenn Strauß an Stelle von Kulturkritik "das rohe Verfluchen" wiedererlenen möchte, fällt er doch bloß immer wieder ins Kulturkritische zurück und damit unter sein selbsterklärtes Niveau. Dann ist er einer von vielen Misanthropen, schlecht gelaunten alten Männern und also nichts Besonderes.
    Wie sollte es denn auch gelingen, die Sprache dauerhaft von ihrer alltäglichen Verflachung zu erlösen? Man stelle sich vor, das Wort "Komplexität", das Strauß durchaus zu Recht für so ein modisches Dumm- und Leerwort hält, würde, wie er vorschlägt, durch "Mannigfaltigkeit von Bewusstsein und Gedächtnis" ersetzt. Wie lange würde es dauern, bis diese Formel, massenhaft geworden, bloß noch lächerlich und abgedroschen wäre? Der hohe Ton eignet sich halt nur für den Solitär, der lieber mit den Göttern verkehrt als mit den Menschen. Das macht Strauß zu einem großen Anreger - aber auch zu einem Ärgernis. Mit dem "Fortführer" hat es ihn schon so weit weggetragen, dass er Leser bloß noch duldet, aber nicht mehr braucht.
    Botho Strauß: "Der Fortführer"
    Rowohlt, Reinbek 2018. 204 Seiten, 20 Euro.