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Botho Strauß' "Herkunft"
Die Rückseite der Reife

Anlässlich der Auflösung seines Elternhauses wagt Botho Strauß in seinem Buch "Herkunft" eine Rückschau auf sein Leben. Es ist privater als alles, was von Strauß bisher zu lesen war. Aber auch privat zeigt er sich als Verächter des Jetzt.

Von Dorothea Dieckmann | 02.12.2014
    "Den meisten meiner Generation geschah nur ein lautloses Schicksal, Ausbleiben oder Aufschub des nebelbrechenden Schreis. Dieser aber zerriss die Lothringer Winternacht im Jahr 1916, als das Geschoss dem jungen Mann (...) das Loch in die Stirn bohrte (...) und ein Blutschwall das herausgedrückte linke Auge überströmte. Ringsherum das Stöhnen und Brüllen der sterbenden Kameraden; den ein oder anderen noch aus der Feldflasche trinken lassen, seinen letzten Brief an sich nehmen – davon konnte das Kind nicht genug Erzählung haben. Was gäbe ich dafür, ihn noch einmal alle Einzelheiten jener Inferno-Nacht schildern zu hören und die ganze Wucht des lebenswendenden Treffers durch die Gelassenheit des Erzählers, des Überlebenden in mich aufzunehmen!"
    Bei dieser Erinnerung eines Sohnes an die Erinnerungen seines Vaters mag einem Ernst Jandls Spottgedicht "Vater komm erzähl vom Krieg" einfallen, dessen bittere Pointe lautet: "Vater komm erzähl wie'st g'fallen bist". Doch der martialische Ton täuscht über den stillen, zarten Charakter des jüngsten Werks von Botho Strauß hinweg, das dem Gedenken des Vaters gewidmet ist. Obwohl es den umfassenden Titel "Herkunft" trägt, beherrscht seine Figur das knapp hundert Seiten kurze Buch. Anlass der Rückschau ist die Auflösung des Elternhauses, als die Mutter ins Altersheim übersiedelt. Sie findet nur selten Erwähnung und ihre weiblichen Tugenden feiert der Text erst gegen Ende:
    "Wenn sie ihre kleinen (...) Anstrengungen macht, den Haushalt zu besorgen (...), so geschieht das immer klaglos und ohne Murren (...) Vor fünfzig Jahren hat sie mir mit gleicher Umsicht für den Ausflug zum Fluss die Badesachen gepackt (...). Dann gab sie mir Weisung, was ich zu tun und zu lassen hätte ..."
    "Herkunft" ist privater als alles, was von Strauß bisher zu lesen war. Schauplatz ist Bad Ems, wo er aufwuchs, das Kurstädtchen, dessen Topografie und Geschichte seinen Empfindungen Bilder liefert. Im Traum mischt sich der Erzähler unter die toten und die erfundenen Kurgäste, ja die Brunnenhalle ist für ihn ein Inbild des Jenseits. Der Leinpfad an der Lahn gibt ihm die Vorstellung ein, sein Leben lang immer am Fluss entlanggegangen zu sein. Wie durch eine Zauberkugel schaut der Erinnernde in das "Einst-Weltlein" und erfährt, dass die Sehnsucht selbst dann bestehen bleibt, wenn er dieser Welt mit den Sinnen wiederbegegnet:
    "Ich sah die Hänge mit Wiesen und Obstbäumen und musste laut flüstern: "Mein liebes Land!" (...) Nichts ansehnlich mehr, als was nicht die Augen der Herkunft sehen. Ich fuhr, ich sah es vor mir und sehnte mich doch genauso noch wie im Gedächtnis des Schlafs."
    Porträt des kriegsversehrten Vaters
    Der wehe Genuss am Vergehenden und Vergangenen bildet die Essenz von Strauß' Schreiben; ihr aber liegt das Erbe des Vaters zugrunde. Alter und Tod der Eltern, dieser mächtige Erinnerungsantrieb, fällt im glücklichen Fall in die Zeit, in der die Kinder selbst altern. Dieser Sohn aber hat seinen wesentlich älteren Vater schon als junger Mann begraben und, so berichtet der Text, das Zimmer des Toten gegen den mütterlichen Wunsch im alten Zustand unberührt erhalten. In dieser morbiden, fast gewaltsamen Geste des Bewahrens konkretisiert sich eine tiefe Identifikation mit dem männlichen Ahnen. "So bin ich nun sein Pfad", heißt es, und: "Was mich umgibt, ist seine Sphäre." Strauß betrachtet die eigene Anverwandlung mit Einverständnis:
    "Man altert, trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit der Tradition, immer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand. Vielleicht sucht man auch nur die letzten Spuren einer Überlieferung für sich selbst zu sichern."
    So sind denn weite Strecken des Textes ein Porträt des kriegsversehrten Vaters, der im Osten unter einem Vorwand enteignet worden war, der ihn ins Gefängnis brachte. Im Westen reichte es nur noch zu einem bescheidenen Auskommen. Er war ein Mann, der deutschnational dachte, eine Zeitschrift herausgab, ein Buch schrieb. Aber vor allem war er ein Mann der Formen. Minutiös beschreibt Strauß seine pedantische Morgentoilette, die wie ein Ritual des 19. Jahrhunderts wirkt; es würde kaum überraschen, wenn er einen Vatermörder an das Hemd knöpfte. Es war jedoch die Krawattennadel mit der Perle, die Protest beim Sohn auslöste, der sich nun seiner damaligen Scham schämt. Im Rückblick wird nicht nur das häusliche Zeremoniell mit Zustimmung bedacht. Vielmehr kristallisiert sich in dieser nachgetragenen Liebeserklärung eine innere Verwandtschaft mit dem enttäuschten Menschenverächter heraus, der den steifleinenen Bürgerpanzer auch in den eigenen vier Wänden nicht ablegte. Wenn Strauß von der "schroffe[n] Einsamkeit des glücklosen herrischen Mannes, des streitbaren Feinds der Menge" spricht, erkennt man seine eigene Leitfigur wieder, das Rollenbild des Auserwählten, Eremiten und Geheimnisträgers, den seine Schriften feiern - wie etwa der Essay "Anmerkungen zum Außenseiter":
    "Würdig sitzen ungesehen. Du wirst von niemandem gesehen, also halte dich gerade. Sich in Schale zu werfen, ist die wehrhafte Antwort auf die Menschenleere, die dich bedrängt."
    In dieser Szenerie wird die Imago des Vaters sichtbar, die in "Herkunft" auf die eindrücklich theatralische Formel gebracht wird:
    "Ein Mann war er. Ein einzelner im alten Ibsen-Format. Ein Mann ist, wer zu lieben und zu hassen vermag. Kein Anwalt des Sowohl-als-auch."
    "Herkunft" kann daher als Bekenntnis gelesen werden, das den Lesern einen Schlüssel zum Verständnis des tief verwurzelten Patriarchalismus im Werk von Botho Strauß in die Hand gibt. Der Verfasser des "Anschwellenden Bocksgesangs" steht für strengen Traditionalismus, ästhetischen Fundamentalismus und weihevolles Elitedenken. Seine marmorne Apodiktik, die manichäische Weltsicht, der etablierte Kanon seiner Vorbilder und die darwinistische Terminologie von Zucht und Leistung – all diese Merkmale erfahren hier eine indirekte Begründung im Vaterbild des einzigen, späten Sohnes. Eine "bürgerliche Moral des Scheiterns", heißt es, verbinde ihn mit dem Vorfahren. Dabei ahnt der Leser, dass erst dessen Tod seine Erhebung zum Ideal ermöglicht. Im Traum spürt der Erzähler ein Glücksgefühl über sein Verstummen. Erst seine endgültige Abwesenheit ermöglicht die Zelebration der Nachträglichkeit:
    "Erst langsam bin ich (...) hineingewachsen in deinen Tod und diesen umfassenden Sinn für das Vermissen. Er wurde der eherne Ring, der mein Bewusstsein umschloss. Wenn ich dich sehe in all deinem Tod, nur noch erschöpfte Seele und gutmütig, als hätte die Unterwelt dir den Verstand und die Bosheit geraubt. Du einzige Quelle meiner Erinnerung! (...) Alles, was war, wurde überhaupt Gewesenes durch dich."
    Kurz vor der Vollendung seines 70. Lebensjahrs entdeckt er die Rückseite der Reife
    Oft hat sich Botho Strauß als Wiedergänger selbst gewählter Vorbilder und Geistesgrößen bezeichnet; wenn er dagegen in "Herkunft" die Losungen von Wiederholung, Prägung und Nachfolge ausgibt, dann in direktem Bezug auf die physischen Ahnen, auf Heimatort und Abstammung. "Herkunft" ist zugleich eine Studie über das Erinnern selbst, als Produktivkraft, Daseinselement und poetischer Antrieb. Dabei bedient sich der Autor auch eigener, älterer Texte – etwa dort, wo er mit einer provozierenden Rehabilitation der Sentimentalität aufwartet. Sie bestimmt das Verhältnis des Alternden zur Vergangenheit in einer Welt, die dem Früheren keinen Wert mehr beimisst. Strauß illustriert dies mit einer fast unveränderten Passage aus dem zehn Jahre alten Buch "Der Untenstehende auf Zehenspitzen", wo es heißt:
    "Das abnehmende Leben (...) verwendet zur Herstellung von wertvoller Sentimentalität auch das Damals fremder Zeiten. Älterwerden in einer untraditionalen Welt muss vollkommen aus eigenen Stücken bewältigt werden. Irgendwo muss es sich Stütze und Stoffe verschaffen (...) Dann wird Sentimentalität eine Konter-Aufwallung zu Begierde und Wollust, die nur die reine Gegenwart kennen."
    So zeigt sich Botho Strauß auch in seinem privaten Blick zurück als Verächter des Jetzt. Erinnerung ist für ihn weniger Vergegenwärtigung als vielmehr ein Überwältigtsein vom Gewesenen, Reminiszenz und Ressentiment mit positiver Konnotation: als dankbares Nachfühlen. Häufig erinnert dabei ein altväterlicher Stil mit Ausdrücken wie "Kameraden", "gerüttelt Maß", "bunte Geschäftigkeit" oder "wackre Idole" und Antonomasien seiner selbst wie "der szenische Autor" oder "der siebenjährige Knabe" an einen, allerdings ironiefreien, Thomas Mann - den Schriftsteller, der schon den Vater beeinflusste. Strauß, der vor fünf Jahren den verstörenden Satz prägte:
    "Nichts, was ich hörte von jungen Menschen, konnte mich je beeindrucken."
    Er entdeckt kurz vor der Vollendung seines siebzigsten Lebensjahrs die Rückseite der Reife. Warum er (im Widerspruch zu der 68er-Generation, der er dem Jahrgang nach angehört) zum Verfechter persönlicher und gesellschaftlicher Hierarchien wurde, erklärt er sich und den Lesern mit einem Résumé seiner Sohnesrolle:
    "Vielleicht weil ich nie ein fröhlicher Waisenknabe der Rebellion war, der den Vater los sein wollte und dem sein Lebtag der Wutschweiß ausbricht, wenn ihm Macht als Machtperson begegnet, neige ich zu der Ansicht, dass Macht vielen, die sie nicht besitzen, das Leben besser sichert als Macht, in die sich viele teilen. Aber das sagt jemand, dem Autorität immer nur genützt hat, dem in Erziehung und Beruf Vorbild, Meisterschaft und Anführung selbstverständlich waren und den sie immer nur gefördert und niemals unterdrückt haben."
    Botho Strauß: Herkunft, Hanser Verlag, 96 Seiten.