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Boxer mit Handicap

Sport für Menschen mit Behinderungen wird im Zuge des demografischen Wandels immer wichtiger. Doch können sie wirklich alle Sportarten betreiben? Eine Antwort darauf geben die ehemaligen Profiboxer Torsten und Rüdiger May.

Von Ronny Blaschke | 02.01.2011
    Ihre Boxschule in Köln ist zu einem integrativen Treffpunkt geworden: Menschen im Rollstuhl nutzen das Schlagtraining am Sandsack, um Selbstvertrauen zu gewinnen und Ausdauer aufzubauen.

    Ein Schlag mit links, ein Schlag mit rechts, wieder links und dann in die Deckung. Tim Eigenbrodt malträtiert einen Sandsack, er hat den Kopf in den Nacken gezogen, er atmet schnell, Schweiß läuft die Wangen herunter. Sein Oberkörper ist angespannt, seine Boxhandschuhe sind mit gelben und roten Flammen verziert, Freunde nennen ihn den Tigertöter, das muss mit seiner Schlagkraft zu tun haben. Er macht eine Pause, wirft einen kontrollierenden Blick zur Spiegelwand, ein Lächeln, und dann wieder: Links, rechts, links, Deckung. Klingt gewöhnlich? Ist aber nicht gewöhnlich: Tim Eigenbrodt sitzt im Rollstuhl.

    "Hier lacht man auch mal beim Training. Ich behaupte, das ist noch stärker für's Selbstbewusstsein wie bei anderen Leuten. Wenn ich eine Woche keinen Sport mache, bin ich ganz down."

    Tim Eigenbrodt hat Talent und Willenskraft, vielleicht hätte er das Zeug für eine Profilaufbahn, aber daraus wird nichts. Seit der Geburt leidet er unter einer Spastizität, seine Beine sind nicht richtig an sein Gehirn angeschlossen, er kann wenige Schritte gehen, aber im Grunde ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Boxen für Menschen mit Behinderungen? Kann es nicht geben. Darf es nicht geben. Solche Sätze hört der 22-jährige Eigenbrodt, wenn er von seinem Hobby erzählt. Doch es dauert für gewöhnlich nicht lange, ehe beim Zuhörer aus Verwunderung Bewunderung wird.

    Während Tim Eigenbrodt wieder auf den Sandsack eindrischt, hebt Torsten May die Hände. Mit speziellen Handschuhen, den sogenannten Tatzen, will er Schläge seines Partners abfangen. May war in den neunziger Jahren ein erfolgreicher Boxer gewesen, unter anderem Olympiasieger 1992. Seit vier Jahren betreibt er eine Boxschule im Norden von Köln, das Maylife, zusammen mit seinem Bruder Rüdiger, der ebenfalls Profi war, und seinem Vater Ulrich. Dass die Trainingsstätte auch zu einem integrativen Treffpunkt für Menschen mit Behinderungen werden würde, hätte Torsten May kaum für möglich gehalten.

    "Also es geht im Grunde gar nicht um sportliche Höchstleistungen im ersten Sinne. Sondern es geht auch um den sozialen Aspekt, dass die Jungs in so eine Gemeinschaft kommen, wo sie willkommen sind und wo es auch einfach um Kontakte geht zu Menschen, die nicht behindert sind."

    Der erste Boxer mit Handicap im Maylife war ein Jugendlicher mit Down-Syndrom, er kam vor zweieinhalb Jahren, wollte zur Probe einen Monat bleiben – Stammgast ist er noch immer. Seine Anwesenheit sprach sich herum, fand Nachahmer. Im Familienunternehmen der Mays trainieren Menschen mit Behinderungen gemeinsam mit Menschen ohne Behinderungen. Bedenken sind längst verschwunden. Sie fördern sich gegenseitig, wie Torsten May berichtet.

    "Und das kann hier unglaublich die Hemmschwellen abbauen. Man bekommt auch eine andere Sichtweise auf andere Sachen auf das Leben oder auf sportliche Höchstleistungen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich habe hier eine echte Erfüllung erfahren. Das ist für mich vom Stellenwert fast größer als ein großer sportlicher Erfolg."

    Torsten May nimmt am Rande des Boxrings Platz, hinter ihm künden Plakate, Siegerkränze, Medaillen von einer beachtlichen Karriere. Ihm gegenüber macht sich Patrick Jansen für eine Übung bereit, auch er leidet unter einer Spastizität und sitzt im Rollstuhl. Während seiner Geburt hatte er zu wenig Sauerstoff erhalten. Patrick Jansen wird im Maylife die Nähmaschine genannt, weil er in Minuten Hunderte Schläge auf einen Sandsack abfeuern kann.

    "Als ich hier angefangen habe, war ich relativ schüchtern. Du brauchst ein Ventil und der Boxsack, da kannste mal draufschlagen, sagt eben keiner: tu dieses nicht und tu jenes nicht."

    Als Patrick Jansen dem Maylife vor anderthalb Jahren beitreten wollte, hielt ihn sein Vater für verrückt. In der kleinen Halle trainieren Mitglieder ohne Vollkontakt, vielmehr geht es um die Stärkung von Ausdauer, Kraft, Koordination, Reflexen. Heute sei Patrick nicht wieder zu erkennen, sagt sein Vater Günter Jansen. Aus einem schüchternen Mann sei ein Sprücheklopfer geworden, der jede Provokation mit Selbstbewusstsein kontert. Neulich, erzählt Patrick Jansen, sei er mit seinem Freund Tim Eigenbrodt den Kölner Dom emporgestiegen. Sie haben Spaß, vor allem in der Boxschule, dank der May-Brüder.

    "Die machen dann zwischendurch so viel Blödsinn, dass ich am Anfang Schwierigkeiten hatte, mich auf die Schläge zu konzentrieren. Und ich muss sagen, seitdem ich hier bin, geht es mir körperlich und gesundheitlich besser."

    Jeden Mittwoch holt Tim Eigenbrodt seinen Freund Patrick Jansen mit dem Auto in Leverkusen ab, zusammen fahren sie ins Maylife. Die Boxschule liegt draußen am Fühlinger See, mit Bus oder Bahn ist sie aus dem Zentrum Kölns schwer zu erreichen. Beide hoffen auf einen Fahrdienst, damit noch mehr Menschen mit Behinderungen am Training teilnehmen können. Beide berichten von großen Zielen. Einmal möchten sie an den Paralympics teilnehmen, wobei Boxen wohl nie zum Programm gehören wird. Und einmal möchten sie gemeinsam mit Torsten May auf den Kölner Dom steigen. Doch auch das wird schwer zu verwirklichen sein. An den Rollstuhlboxern liegt es nicht, eher an Torsten May: Der Olympiasieger hat Höhenangst.