Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Brain Gain: Nicholas Conard
Auf der Suche nach dem Ursprung der Kultur

Der US-Archäologe Nicholas Conard kam vor Jahren eher durch Zufall an die Universität Tübingen. Anfangs wurde er dort belächelt, weil er nicht nur in der Ferne Ausgrabungen plante, sondern direkt vor der Haustür. Sensationsfunde auf der Schwäbischen Alb machten ihn weltberühmt - und ebneten den Weg für den UNESCO-Welterbe-Status der Region.

Von Michael Stang | 20.08.2018
    Der US-Archäologe Nicholas Conard ist Professor an der Universität Tübingen
    Der US-Archäologe Nicholas Conard, Professor an der Universität Tübingen, hat in Karsthöhlen auf der Schwäbischen Alb Kunstobjekte und Musikinstrumente aus der Steinzeit entdeckt (Michael Stang / Deutschlandradio)
    Wer zum Forschungsbereich Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen möchte, muss sich zu Fuß durch verwinkelte Gassen den Berg nach oben schlängeln, zum Schloss Hohentübingen. Das imposante Bauwerk aus dem 11. Jahrhundert ist heute eine Mischung aus mittelalterlicher Festung und neuzeitlichem Schloss. Ein nicht alltäglicher Arbeitsplatz.
    "Ja, ich heiße Nicholas Conard, bin 1995 nach Tübingen gekommen und bin seither hier. Ich bin auch gern hier in Tübingen, es gefällt mir wunderbar."
    Der 57 Jahre alte Archäologe erhielt 1993, nach der Promotion in den USA und einer ersten Stelle an der Universität von Connecticut, ein Humboldt-Stipendium, um im Rheinland die Neandertaler zu erforschen. Eines Tages während seiner Zeit am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz sah er eine Ausschreibung für eine Stelle in Tübingen.
    "Ich habe die Ausschreibung gelesen und habe gesagt: Mensch, das ist genau, was ich mache, ja? Naturwissenschaft, aber auch Archäologie, Paläanthropologie, das war alles perfekt."
    Nicholas Conard ist nicht nur Archäologe, er hat auch einen Abschluss in Chemie. Weil er damit nicht so ganz ins Raster der traditionellen Fakultäten passt, hatte er zuvor öfter das Nachsehen gehabt.
    Sensationsfunde in den Karsthöhlen
    "Ich habe mich oft auf Stellen beworben und die Absagen bekommen: Wir suchen eigentlich einen Archäologen und was wollen sie mit Isotopen oder andere Dingen oder Chemie? Wir können gar nichts damit anfangen. In der Archäologie war das eine unerwünschte Ablenkung und hier in Tübingen in der Naturwissenschaftlichen Fakultät, haben die gesagt: Ja, Mensch endlich ein Archäologe, der naturwissenschaftlich etwas draufhat."
    Nicholas Conards neue Kollegen lagen goldrichtig. Denn nach seinem Wechsel nach Tübingen legte der US-Amerikaner eine steile Karriere hin. Und zwar auch, weil er – anders als viele seiner Kollegen – nicht nur in fernen Ländern Ausgrabungen machte, sondern direkt vor der Haustür: Auf der Schwäbischen Alb.
    Die Kritiker verstummten bald. Denn Nicholas Conard holte mit seinem Team eine Sensation nach der anderen aus den Karsthöhlen in der Region. Etwa 2008 die "Venus vom Hohlefels", eine sechs Zentimeter hohe Frauenfigur aus Mammut-Elfenbein, die unsere Vorfahren vor gut 35.000 Jahren geschnitzt haben. Im Laufe der Jahrzehnte konnte Nicholas Conard nachweisen, dass die einstigen Bewohner des oberen Donau-Bereiches vor mindestens 40.000 Jahren vier kulturelle Innovationen hervorbrachten. Erstens: Dreidimensionalen Schmuck, etwa aus Mammutelfenbein, der eine Identität oder Gruppenzugehörigkeit anzeigte beziehungsweise anderen den sozialen Status signalisierte.
    "Zweiter Punkt: Figürliche Darstellungen. Figürliche Darstellungen haben wir hier, je nachdem wie man zählt, etwas mehr als 30 gut erkennbare Stücke, wo man sagen kann: Löwe, Frauenfigurine, Mammut. Das heißt: nicht nur geometrische Muster zum Beispiel oder abstrakte Darstellungen, sondern Sachen, die wir – auch heute, 40.000 Jahre später – interpretieren können."#
    "Musik, Kunst, Symbolik – war ein Teil des Lebens!"
    Die dritte Innovation sind mythische Darstellungen von Dingen, die in der Realität nicht existieren, etwa der Löwenmensch aus Hohensteinstadel, eine 31 Zentimeter hohe Elfenbeinfigur - ein Beleg für eine eigene Gedankenwelt, vielleicht auch eine Glaubenswelt oder zugespitzt: Religion.
    "Dann, letzter Punkt: Musik. Musik wird oft unter Wert geschätzt, aber die Musik ist eine fantastische Innovation."
    Drei Knochenflöten aus unterschiedlichen Höhlen belegen, dass das Musizieren bereits vor 40.000 Jahren etwas Alltägliches war.
    Nicholas Conard hat es in Tübingen zu Weltruhm gebracht. Er hat mehrere Bücher geschrieben, viele Studien in hochrangigen Journalen veröffentlicht, er war 35-mal Doktorvater und bringt sich in der Kinderuni ein. Zudem engagiert er sich für den Schutz der einzigartigen Fundstätten auf der Schwäbischen Alb. Mit nachhaltigem Erfolg: 2017 erklärte das UNESCO-Welterbe-Komitee sechs Fundhöhlen der Eiszeitkunst im Achtal und Lonetal zum Welterbe der Menschheit. Was gibt es jetzt noch für Ziele? Der Forscher bleibt bescheiden.
    "Ach, ich mache meine Arbeit weiter. Die Hauptsache ist, Freude an der Arbeit und gute Leute im Team. Und wir werden sicherlich Grabungen durchführen, tun wir immer."
    "Er hat die ganze Urgeschichte in Tübingen umgewandelt"
    Seit einigen Jahren beispielsweise auch im Iran oder in Südafrika. Und natürlich weiter im niedersächsischen Schöningen. Dort wurden 270.000 Jahre alte, vollständig erhaltene, hölzerne Wurfspeere gefunden – bis zu zweieinhalb Meter lang. Nicholas Conard springt auf, holt hinter dem Schrank eine Replik der mächtigen Fichtenspeere hervor und stemmt die Jagdwaffe in die Luft. Er strahlt über das ganze Gesicht und ist ganz in seinem Element. Seine Bedeutung für den Forschungsstandort, sagt sein französischer Kollege Hervé Bocherens, könne man kaum überbewerten.
    "Ja, Nick Conard ist sehr wichtig für Tübingen. Es muss nur ein Namen in unserem Bereich fallen – es ist natürlich Nick Conard. Er hat so viel gemacht. Er hat die ganze Urgeschichte in Tübingen umgewandelt ins 21. Jahrhundert. Und er macht so viele Ausgrabungen, er ist jetzt auch der Direktor von HEP, Human Evolution Paleoenvironment, er ist der Direktor von Senckenberg. Er ist wirklich der Mann, der auch viele Kollegen vom Ausland herbringt."