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Braindrain aus Ostdeutschland

Seit Jahren wächst die Sorge, dass Ostdeutschland immer mehr gut ausgebildete junge Leute verliert und die daheim gebliebenen Alten zu Bewohnern des flächengrößten Altersheims von Deutschland werden. Mit der Untersuchung von nackten Zahlen und starken Heimatgefühlen versuchen Demographen und Ökonomen herauszufinden, wie ernst die Situation wirklich ist.

Moderation: Carsten Schroeder | 07.12.2006
    Rund 1,4 Millionen Menschen haben seit der Wiedervereinigung den Osten Deutschlands verlassen. Die Agrarländer Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind besonders betroffen. Es gehen die, die vor Ort keine Perspektive oder anderen Orts bessere Perspektiven sehen. Was voraussetzt, dass dort eine Nachfrage nach ihrer guten Bildung und soliden Ausbildung besteht. Tatsächlich verlassen vor allem jene jungen Leute bis 35 ihre Heimat, die einen Hoch- oder zumindest Realschulabschluss haben. Junge Leute wie Stephanie oder Frank.

    O-Töne aus Film "Jeder hat sein Nest im Kopf":

    "Mir geht's grundsätzlich nicht um Ost oder West, Nord oder Süd. Ich würde gern eine halbwegs meiner Ausbildung entsprechende Tätigkeit tun, egal wo sie ist. Das kann in München sein, das kann in Kiel sein, das kann in Berlin sein, das kann in Leipzig sein oder in Freiburg.

    Gut, das ist vielleicht das Los der Zeit, dass man schauen muss, wo die Arbeit liegt. Aber ich glaube, ich bin da auch wählerisch geworden. Also - es gibt Städte, wo ich mir vorstellen könnte zu leben, und es gibt Städte, wo ich es mir nicht vorstellen könnte."

    "Jeder hat sein Nest im Kopf" heißt der Film, in dem Stephanie und Frank und viele andere Auskunft geben über Motive wegzugehen und wiederzukommen. Der Film wurde von Gleichaltrigen, von angehenden Medienwissenschaftlern der Universität Leipzig gedreht. Neben wenigen Fakten vermittelt er vor allem die Meinung von Betroffenen, und damit viel Authentisches zu drängenden Fragen: Wie kommen wir von einem "Braindrain", einem dauerhaften Verlust an intellektuellem Potenzial, zu einer "brain circulation"? Wie also gewinnen wir Menschen, nach Ostdeutschland zu ziehen? Oder zurück - zu - ziehen. Wie Stephanie:

    "Der Osten hat was. Vielleicht liegt es daran, dass ich da groß geworden bin. Aber ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass es Unterschiede gibt in der Lebensqualität und den Leuten - ich würde lieber im Osten wohnen, sagen wir es so."

    Warum aber haben zwei Millionen Menschen den Osten verlassen, und sind nur 600.000 zu- oder zurückgezogen, woraus das eingangs genannte Manko von 1,4 Millionen resultiert? Das Institut für Geowissenschaften der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg hat 1200 Ostdeutsche befragt. Es waren oft wirtschaftliche Gründe, die zum Weggehen vor allem in den Westen Deutschlands zwangen: Jeder dritte Befragte war lange arbeitslos, jeder Zweite erhielt weniger als 500 Euro netto im Monat. Das änderte sich mit Ankunft im Westen: Jetzt war es nur noch jeder Achte, der so wenig erhielt. Im Durchschnitt wird im Westen vier Euro mehr Stundenlohn gezahlt, hat das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung errechnet. Das ist über ein Drittel des Ostlohnes mehr, und damit ein guter Grund in den Westen zu gehen und dort zu bleiben.

    "Wenn Sie wieder zurück in den Osten wollten, wie viel müsste man Ihnen hier zahlen?" wurde sinngemäß in der Hallenser Studie gefragt. Die Lohnerwartungen vor allem im Bereich oberhalb 1500 Euro netto stiegen noch einmal kräftig. Überzogene Erwartungen? Der Hallenser Professor Klaus Friedrich verneint:

    "Eine Migration stellt natürlich auch ein Investment dar, an Mühe, an Geld und ähnlichen Dingen, und dieses Investment tätigt man nicht ohne Not zwei-dreimal in ganz kurzer Zeit, jedenfalls nach unseren Vorstellungen in Deutschland, wo wir doch eine relativ hohe Standortverbundenheit haben. Wenn ich diesen Schritt einmal gemacht habe, mache ich ihn nur dann rückgängig, wenn er nicht erfolgreich gewesen ist. Das können wir erkennen auch an den Rückwanderern. Da gibt es eine andere Studie einer Kollegin aus Berlin, die zeigt, das eigentlich eher die zurückkehren (derzeit jedenfalls), die nicht erfolgreich ihren Schritt in den Westen gemacht haben."

    Dieses "Ich komme nur für mehr Geld zurück" von Sachsen-Anhaltern sei aber nicht die Regel, sagt Andrea Schultz, ebenfalls Geowissenschaftlerin in Halle. In einer Untersuchung zuvor hatte man Migranten aus Mecklenburg-Vorpommern befragt,

    "und da hatten wir gesehen, dass bei Rückkehr schon gewisse Einkommenseinbußen in Kauf genommen würden. Da war es dann eher so der Fall, dass man gesagt hat: Na ja, ich würde mit meinen Erwartungen auch ein bisschen zurückgehen, wenn ich wieder zurückkommen könnte. Im Fall von Sachsen-Anhalt ließ sich das eben nicht nachweisen, sondern im Gegenteil: Es wurde davon ausgegangen, wenn ich das Gehalt, was ich im Moment dort realisieren kann beziehungsweise bei einigen auch ein bisschen mehr, erst dann käme für mich eine Rückkehr in Betracht."

    Das Phänomen, dass besonders viele junge Frauen die Heimat verließen, löste bereits vor Jahren Erstaunen und auch Bestürzung aus - das war also ein wesentlicher Grund, warum die Geburtenzahlen im Osten derart gravierend eingebrochen waren und damit das deutsche Geburtendefizit insgesamt verstärkt hatten. Zwar werden wieder etwas mehr Kinder geboren, aber von den zur Regeneration der deutschen Bevölkerung nötigen 2,1 Kinder je Frau ist man noch weit entfernt. Was aber nicht primär an der Mobilität der jungen Frauen liege, meint Andrea Schultz:

    "Wenn wir zum Beispiel in die USA schauen, die ja ein viel mobileres Volk sind, und trotzdem haben sie eine Geburtenrate von 2,1 Kinder je Frau (also eine Kinderzahl von 2,1), kann das also nicht der ausschlaggebende Punkt sein. Ich denke, es sind vor allem andere Rahmenbedingungen, warum wenig Kinder geboren werden."

    Generell hat sich an der Situation, dass junge, gebildete Frauen überdurchschnittlich häufig abwandern, nicht viel geändert. Was Professor Friedrich nicht verwundert:

    "Die ostdeutsche Gesellschaft ist da schon immer die progressivere gewesen. Wir haben in Ostdeutschland einen hohen Anteil von arbeitenden Frauen immer gehabt. Durch die Wende etwas unterbrochen war es so, dass zunächst die Männer in den Westen gingen - wir erklären uns das als eine Art Pionierleistung. Es ist vielleicht Familiennachzug. Es ist aber auch so: Die gut ausgebildeten Akademiker und Berufsanfänger, die sind überproportional unter den Frauen abgewandert. Das Bild "Die Frau bleibt zu Hause" trifft für den Osten nicht zu."

    Für Heinz Fassmann, Professor an der Universität Wien, liegt der Frauenüberschuss in der Wanderungsbewegung an den kurzen Distanzen:

    "Die Wanderung von Ost- nach Westdeutschland ist eine Kurzdistanzwanderung, und da sind Frauen immer stärker beteiligt. Über lange Distanzen sind wieder Männer stärker beteiligt. Das Muster, das wir da gesehen haben, ist ein ganz typisches Muster."

    Was der ostdeutschen Wanderungsbewegung im Vergleich zu anderen postindustriellen Gesellschaften fehle, sei die "Migration der Pensionisten", das zeitweise oder dauerhafte Verlagern des Wohnsitzes in angenehmere Gefilde.
    Alle anderen Erscheinungen sind in allen offenen Gesellschaften existent, betreffen vorrangig die 18 bis 30-jährigen, was als normale "Bildungs- und Berufsmobilität" bezeichnet wird. Auch Professor Faßmann betrachtet diesen Prozess als normal. Für ihn ist Veränderung das Wesen der Bevölkerungsgeschichte:

    "Wenn man das aus der Außenperspektive betrachtet, ist das ein normaler Nachjustierungsprozess, dass eine Bevölkerung, die offensichtlich für eine nicht wachsende Industrie zu viel ist, abwandert. Aus der Außenperspektive versteht man nicht immer ganz die große Nervosität, die hier herrscht. Die Probleme, die damit verbunden sind (periphere Regionen verlieren an Einwohner) - das ist etwas, was ganz normal ist und im Norden von Finnland oder Schweden genauso auftritt, wie in anderen peripheren Gebieten. Nord-Süditalien haben wir eine ähnliche Situation, das auch schon über viele Jahrzehnte. Auch dort würde man sagen: Da ist ein ganz normaler Anpassungsprozess an veränderte ökonomische Situationen."

    Auch für Klaus Friedrich ist die Abwanderung nicht das eigentliche Problem:

    "Die ist ja gar nicht überproportional. Unser Problem in Ostdeutschland ist in der Tat die zu geringe Zuwanderung. Das müssen nicht die vorher Weggewanderten sein, die Ostdeutschland gut täten in der Bilanz, aber auch vielleicht in der künftigen Wirtschaftsentwicklung. Das können auch Westdeutsche sein, die hier eine Perspektive sehen. Und von daher ist es vielleicht doch wichtig, dass sich diese allgemeinen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland weiter verbessern."

    Das Projekt "Menschen für Ostdeutschland", eine Gemeinschaftsuntersuchung von Magdeburger und Berliner Forschungseinrichtungen, kam zum gleichen Ergebnis. In ihm wurden Ab- und Rückwanderung sowie das Bleiben von Studierenden in Magdeburg und Greifswald untersucht. Hans-Liudger Dienel, der Projektkoordinator, meint auch: Es fehlt an Zuwanderung.

    "Die Abwanderung aus den neuen Bundesländern ist nicht höher als etwa aus Bayern. Was kleiner ist, ist die Zuwanderung, also der Unterschied zwischen Ab- und Zuwanderung, und dadurch kommt ein Negativsaldo heraus. Die wichtigste Zuwanderergruppe sind Studierende, und das zeigt: hier muss man aktiv werden."

    Aktiv sind zunächst die Studierenden selbst: ihre bereits beschriebene Bildungs- und Berufsmobilität lässt Tausende in den Osten kommen, nicht zuletzt wegen besserer Studienbedingungen. Dann aber gehen die meisten wieder zurück in die west- und süddeutsche Heimat, oder ins Ausland. Das muss aber nicht sein, jedenfalls nicht vollständig, meint Dr. Dienel:

    "Wir konnten empirisch nachweisen, dass Studierende ohne Kinder zu 70 Prozent abwandern, aber Absolventen mit Kindern nur zu 30 Prozent. Wenn man Studierende oder Absolventen am Ort halten will, sollte man sich tunlichst anstrengen, das sie während des Studiums oder in der Schlussphase des Studiums eine Familie gründen oder Kinder bekommen."

    Das klingt plakativ, ist es aber nicht, denn bislang hätten weder Hochschulen noch Städte in ausreichendem Maße versucht, dieses Szenarium als strategischen Standortvorteil auszubauen, ergab die Untersuchung. Vielerorts seien die Bedingungen, jung eine Familie zu gründen, eher abschreckend. Der Osten hat darin Vorteile: Städte mit leer stehendem und gut bezahlbarem Wohnraum, dazu eine Tradition, dass junge Familie mit Kind früher eher die Regel als die Ausnahme waren. Im harten Wettbewerb um gut ausgebildete Köpfe seien das Faktoren, die man gar nicht hoch genug schätzen könne, meint auch Andrea Schultz:

    "Umso mehr spielt Lebensqualität eine Rolle, je höher qualifiziert eine Bevölkerungsschicht ist; desto höhere Ansprüche haben sie und desto eher kommen Dinge wie Lebensqualität, Wohnumfeld zum Tragen, beziehungsweise auch bestimmte Einrichtungen. Also gerade Kindereinrichtungen gerade in diesem jungen Bevölkerungssegment; in der Phase der Familiengründung sind das eben auch Rahmenbedingungen, die auch stimmen müssen. Es ist quasi ein ganzes Bündel, das funktionieren muss."

    An erster Stelle stehen aber nach wie vor wirtschaftliche Argumente: Unternehmen für eine interessante Arbeit und Karriere; Möglichkeiten, selbst Unternehmer zu werden; gutes Geld dazu.

    In Sachsen-Anhalt ist das nur an wenigen Standorten der Fall, so dass die Forscher schätzen, dass zwei Drittel der Migranten nicht wiederkommen werden. Andererseits sucht man schon wieder Fachleute, sagt Klaus Friedrich:

    "In hoch qualifizierten Bereichen der Chemie beispielsweise werden jetzt schon Arbeitskräfte, hoch qualifizierte Arbeitskräfte gesucht, und die kommen von weither, aus Westdeutschland oder international."

    Vielleicht sind auch Rückkehrer darunter, nur ist das bislang zu wenig erforscht. Was ein gesamteuropäisches Manko sei, kritisieren Wissenschaftler wie Heinz Faßmann:
    "Es ist ein interessantes Phänomen, dass wir zwar europäisch denken, europäische Migrationspolitik betreiben sollten und machen, aber letztlich eine ganz ungenügende statistische Grundlage haben. Wir machen Planung ohne entsprechende Informationen im Hintergrund. Das Phänomen von zirkulärer Migration ist ein Phänomen, das wir an Anekdoten festmachen können, aber letztlich keine verlässlichen Statistiken darüber haben."

    Es gab vor einigen Jahren den Versuch, Weggegangene durch "Heimatpäckchen" voll mit regionalen Produkten an ihre Herkunftsgebiete zu erinnern. Bei aller emotionalen Bedeutung, die Heimat hat - Andrea Schultz hält sie eher für einen PR-Gag:

    "Das In-Kontakt-Bleiben mit den Migranten ist schon ein wichtiger Ansatzpunkt und ein richtiger Ansatzpunkt, aber die Frage ist: Welche Informationen brauchen die Migranten, was interessiert sie. Und interessieren tun die Leute Dinge, die für ihre Migration eine Rolle spielen und die für eine eventuelle Rückkehr von Bedeutung sind."

    Von einer solchen Aktion berichtet Peter Meusburger, Professor in Heidelberg und einst in West-Österreich, in der Region Vorarlberg tätig.

    "Was macht ein Land, dessen habilitierte Dozenten zu 100 Prozent außer Landes sind, weil das betreffende Bundesland keine Universität hat? Der Vorgänger des jetzigen Ministerpräsidenten hat Kontakt aufgenommen zu allen Dozenten aus Vorarlberg, die weltweit zerstreut waren, und hat sie nach Bregenz, in die Landeshauptstadt, eingeladen, hat sie zu einem Abendessen eingeladen und hat dann die anstehenden Probleme des Wissenschafts- und Kulturbereiches diskutiert. Das hat man wiederholt, und so gab es ein Netzwerk von über die ganze Welt zerstreuten Wissenschaftlern, die zum Teil regelmäßig die Regierung beraten haben, weil sie Mitglied des wissenschaftlichen Beirates geworden sind, oder von Fall zu Fall zu einzelnen Projekten um Rat gefragt wurden. "

    In einer globalisierten Welt muss man also nicht auf Rückwanderer hoffen, und sollte es besser auch gar nicht. Manche Prozesse scheinen nahezu irreversibel. Harald Standl, Professor in Bamberg und Paderborn, berichtet aus seiner Heimat, aus Selb in Oberfranken mit seiner alten Porzellan- und Textilindustrie, die ihn stark an ostdeutsche Regionen erinnere:

    "Die ist in Wellenbewegungen eigentlich schon seit den 60er Jahren in der Krise. Die Abwanderungstendenzen, die wir dort beobachten, beginnen schon Anfang der 70er Jahre. Die Abwanderung ist auch selektiv, das heißt die gut ausgebildeten jungen Leute gehen nach der Schulausbildung aus der Region weg Richtung München, Richtung Stuttgart oder mittelfränkischer Ballungsraum mit der Konsequenz, dass wir eine Restbevölkerung haben, die völlig überaltert ist, und die haben wir befragt, wie sie die Lage einschätzen, ob ihre Kinder jemals zurückkommen werden, und da haben über 90 Prozent gesagt: nein, wir erwarten das nicht."

    Insofern ist Standl für viele ähnliche ostdeutsche Regionen skeptisch, dass eine flächendeckende "brain circulation" zustande kommt. Inzwischen sieht das auch die Regierung Sachsen-Anhalts so: Im novellierten Landesentwicklungsplan sieht sie einen "geordneten Rückzug" aus Gebieten mit vielen Dörfern und wenigen Städtchen vor - hier will sie keine Entwicklungsgarantie mehr geben. Was sie aufrecht erhalten will, ist eine Verbindung in die nächste Stadt mit Verwaltungsfunktion, die nicht länger als eine halbe Stunde Fahrt dauert. Dafür will man sich auf einige wenige Entwicklungskerne konzentrieren. Was Rüdiger Pohl, bis vor kurzem Chef des Hallenser Wirtschaftsforschungsinstitutes und nun Professor an der Uni Halle, begrüßt:

    "Wir müssen es gesamtdeutsch sehen, denn Ostdeutschland ist kein homogener Block, da gibt es starke Regionen und schwache Regionen wie in Westdeutschland auch, also kann man nicht Ost und West gegenüber stellen. Und wenn man etwas für die weniger guten Regionen in Deutschland etwas tun will, dann muss man die wirtschaftliche Dynamik in Deutschland im Ganzen erhöhen, und das ist dann kein Thema für Ostdeutschland oder nur Westdeutschland, sondern ein gesamtdeutsches. In einer globalisierten Welt haben wir offenbar als Deutschland ein Standortproblem, und insofern ist es das eine Frage wie wir als Deutschland im internationalen Kontext als Standort gewinnen, und das ist nicht mehr zu machen mit dieser oder jener Fördermaßnahme in irgendeiner ostdeutschen Region."