Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Bram Stoker: "Der Zorn des Meeres"
Ein bibliophiles Kleinod

"Der Zorn des Meeres" ist eine der Erzählungen von Bram Stoker, die immer im Schatten des Welterfolgs "Dracula" standen. Die melodramatische Geschichte über Schmuggel, tragische Liebe und ehrenvolle Pflichterfüllung an der rauen schottischen Küste liegt nun in einer lesenswerten Neuübersetzung vor.

Von Martin Grzimek | 13.05.2020
Bram Stoker und "Der Zorn des Meeres"
Bram Stoker - Geschichten im Geist der viktorianischen Epoche (Cover mare Verlag / Autorenportrait Imago)
"Es drohte eine stürmische Nacht zu werden" - mit dieser Unheil ankündigenden Feststellung beginnt die 1895 erschienene Erzählung "The Watter’s Mou'" von Bram Stoker. Den irischen Schriftsteller kennen wir alle durch seinen weltberühmten Vampir-Roman "Dracula". Dass er darüber hinaus zehn weitere Romane und eine ganze Reihe von Kurzgeschichten verfasste, wissen die wenigsten. Schuld daran ist wohl Stoker zum Teil selbst, weil seine wie verstaubt wirkenden Schauergeschichten, ganz im Geist der viktorianischen Epoche geschrieben, der Trivialliteratur zugerechnet werden. "The Watter’s Mou’" aber, oder "Der Schrecken des Meeres", wie der deutsche Titel des schmalen Büchleins heißt, verspricht noch immer eine fesselnde Lektüre. Die Erzählung hat neben einer melodramatischen Abenteuergeschichte einen faszinierenden Hauptdarsteller, nämlich das Meer selbst in all seiner angsterregenden Rauheit und ungezügelten Kraft.
"Im Unterschied zur Dunkelheit des Watter’s Mou’ zwischen den turmhoch aufragenden Felswänden zeigte das Meer ein rätselhaftes, ureigenes Licht, und nahe der Öffnung an der westlichen Seite konnte sie die weiße Gischt erkennen, die über die versunkenen Steinblöcke spritzte, als die anrollenden Wellen sie freilegten, bis sie einmal mehr aussahen wie Zähne im Schlund des hungrigen Ozeans."
Schmuggelware versus Liebesglück
"The Watter’s Mou’", oder "der Mund des Wassers", hieß in früheren Zeiten die Mündung eines Flusses in der Nähe des kleinen Fischerdorfes Cruden Bay an der zerklüfteten Küste im Nordosten Schottlands.
Dorthin zog sich Bram Stoker in den 1890er Jahren gern in seinen Ferien zum Schreiben zurück, als er in London als vielbeschäftigter Theatermanager arbeitete. In dem pittoresken Örtchen Cruden Bay entstanden nicht nur große Teile von "Dracula" sondern auch die Liebesgeschichte zwischen William Barrow, einem Offizier der Küstenwache, und Maggie MacWhirter, der Tochter eines verarmten Fischers. An jenem Abend im August, an dem sich "eine stürmische Nacht" ankündigt, geraten beide in einen verhängnisvollen Konflikt. Sailor Willy, wie Barrow im Dorf genannt wird, erhält ein Telegramm der Zollbehörden mit dem Hinweis, dass in dieser Nacht von Fischern des Dorfes eine große Ladung Schmuggelware an Land gebracht wird.
"Deshalb verspürte Sailor Willy, der (...) verantwortungsbewusst seines Amtes waltete, eine in jeder Hinsicht freudige Erregung angesichts der auf ihn wartenden Herausforderung. Er wusste natürlich, dass (...) nur eine geringe Chance bestand, jemanden in Cruden Bay oder Umgebung auf frischer Tat zu ertappen; doch er war jung, tapfer und voller Zuversicht und zeichnete sich durch eine unbestechliche Redlichkeit aus, die ihm bei seiner Arbeit half."
Doch da erfährt er durch seine Verlobte, dass zur selben Zeit ausgerechnet ihr Vater draußen auf See ist, sein Boot vermutlich vollgeladen mit Schmuggelware. Maggies Vater ist hochverschuldet. Verweigert er sich dem lukrativen Schwarzhandel, verliert er sein Boot und damit seine Existenzgrundlage. Wird er aber als Schmuggler gefasst, stehen nicht nur der ehemals gute Ruf der Familie MacWhirter auf dem Spiel, sondern auch die geplante Heirat Maggies. Es liegt also nahe, dass ihr Verlobter dieses eine Mal noch Gnade vor Recht ergehen lassen und den Schmuggel gewissermaßen übersehen könnte. Doch das lässt Sailor Willys "unbestechliche Redlichkeit" nicht zu. Maggie steht also vor der Wahl, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, oder ihren Vater vor der Verhaftung zu bewahren.
"Dort, auf hoher See, umher geworfen in den stürmischen Fluten, war ihr Vater. Seine Lage war gefährlich, aber an der Küste lauerte noch größere Gefahr – jede Einfahrt wurde durch den Sturm blockiert, außer derjenigen, wo er wegen seiner verhängnisvollen Fracht seine Ehre aufs Spiel setzen würde. Sie glaubte genau zu wissen, was ihre Pflicht war, und was auch immer geschehen mochte, sie blieb fest entschlossen, sie zu erfüllen: Sie musste ihren Vater warnen."
Die Übermacht der Natur
Auf dem Höhepunkt seiner Erzählung schildert Bram Stoker nun Maggies heroischen Kampf mit der vom Sturm aufgewühlten Nordsee. Mit äußerster Genauigkeit beschreibt er die Kräfte des Wassers und der Winde, und es gelingt ihm durch Mitgefühl und eine geschickte Dramaturgie, den Leser in das Geschehen auf dem tobenden Meer hineinzuziehen. Während Stoker die Protagonisten seiner Erzählung oft ein wenig steif und holzschnittartig darstellt, den Konflikt zwischen Pflichterfüllung, Liebe und Treue durch viele Erklärungen in die Länge zieht, spürt man in der Vergegenwärtigung von Maggies Kampf mit dem Meer, welche Faszination diese Naturgewalt auf ihn ausgeübt haben muss.
"Im Auge des Sturms hinter dem geschützten Felsen hing das Segel ein paar Sekunden schlaff (...), und das Boot sprang wie ein lebendiges Wesen hinaus in den Kanal. Sobald es den Windschatten verlassen hatte, erfasste der Oststurm mit seiner ganzen Kraft das Segel (...). Das Boot sank in das Wellental und stieg wieder empor, die Spiere fing den Sog der zurückweichenden Welle und zog den Schiffsbug einen Strich weit vom Kurs ab (...). Maggie flüsterte atemlos ein Gebet, als sie mit zitternden Händen das Tau der Spiere löste (...)."
Dass angesichts solch unbändiger Natur die Liebesgeschichte von Sailor Willy und Maggie ein tragisches Ende findet, lässt sich leicht erahnen und steht in den von Schuld besetzten Moralvorstellungen noch ganz unter dem Einfluss des viktorianischen Zeitalters. Maggie aber verkörpert bereits eine Frauenfigur, die sich von keiner Gewalt beeindrucken lässt, auch nicht von der des Meeres. Sie gewinnt unsere ganze Sympathie, und das macht das schmale Büchlein insgesamt zu einem Lesevergnügen.
Dazu bei trägt die hervorragende Übersetzung Alexander Pechmanns. Sein kenntnisreiches Nachwort verortet die Erzählung in der Biographie Bram Stokers und erklärt eine Vielzahl der maritimen Begriffe. Die liebevolle Gestaltung der Ausgabe durch den Verlag und ihre Präsentation im Schuber lässt Stokers "Der Zorn des Meeres" darüber hinaus als ein bibliophiles Kleinod erscheinen, das für uns zurecht aus dem Schatten des Weltbestsellers "Dracula" ans Licht geholt wurde.
Bram Stoker: "Der Zorn des Meeres". Erzählung
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann
Mareverlag, Hamburg
173 Seiten, 20.- Euro.