Freitag, 19. April 2024

Archiv

Brand in Notre-Dame
"Man braucht diese Kirchen"

Notre-Dame sei nicht nur eine Kirche der Franzosen, sondern aller Besucher Frankreichs, sagte der Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens im Dlf. Ihr Mythos werde auch durch Objekte wie die Dornenkrone sichtbar. Es werde "eine große internationale solidarische Entwicklung" geben, um Notre-Dame wieder aufzubauen.

Thomas Gaehtgens im Gespräch mit Änne Seidel | 16.04.2019
Ansicht der Kathedrale Notre-Dame in Paris am 15.4.2019 , im Dach sind Flammen zu sehen.
Der Dachstuhl von Notre-Dame brannte fast komplett aus. Kunsthistoriker Gaehtgens hat gerade über "die andere große Königskathedrale" (Reims) geschrieben. Sie brannte im 1. Weltkrieg fast komplett aus. (AFP / François Guillot)
Änne Seidel: Mindestens genauso hoch wie der kunsthistorische Wert ist wahrscheinlich der ideelle Wert, den diese Kathedrale für die Franzosen hat. Der Schriftsteller Victor Hugo beschrieb die Fassade von Notre-Dame einst in den höchsten Tönen: Sie sei das kolossale Werk nicht nur eines Menschen, sondern einer ganzen Nation, komplex wie Homers Illias, in ihrer Varianz gar vergleichbar mit der göttlichen Schöpfung. Der Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens hat sich ausführlich mit dem Mythos der gotischen Kathedrale beschäftigt, hat lange in Frankreich gelebt, war Gründungsdirektor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris – und hat letztes Jahr ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Die brennende Kathedrale". Herr Gaehtgens, welche Rolle spielt also die gotische Kathedrale im kollektiven Bewusstsein der Franzosen?
Thomas Gaehtgens: Ja, man muss zunächst mal sagen: Wir haben wahrscheinlich alle gestern am Fernseher gehockt, voller Verzweiflung, und manchmal mit Tränen gesehen, was da passierte. Ich war natürlich entsetzlich betroffen, weil ich nun gerade dieses Buch über die brennende Kathedrale - wobei es nicht um Notre-Dame geht, sondern um Reims, um die andere große Königskathedrale, geht -, ich war natürlich besonders betroffen, dass ausgerechnet dieser Titel plötzlich so eine Aktualität bekam.
Aber der ganze Mythos von Notre-Dame, mal abgesehen von der architektonischen Bedeutung der Kathedrale als gotisches Meisterwerk, der ist auch sichtbar im Inneren durch sehr viele Objekte. Die vielen Besucher, die diese Kathedrale sehen, sind sich manchmal nicht in jedem Punkt im Klaren. Die Dornenkrone war natürlich für das Mittelalter ungeheuer wichtig. Ludwig der Heilige ist barfüßig mit dieser Krone auf dem Haupt in die Kirche gezogen. Das ist ein Mythos, der für die Franzosen noch heute gegenwärtig ist. Und der Mythos geht dann auch weiter. Dann kommt die Revolution und die zerstört. Da werden die Könige von der Fassade heruntergestürzt. Dann die nächste Etappe: Napoleon. Im Dezember 1804 lässt Napoleon den Papst kommen. Der soll ihn krönen. Aber der krönt ihn nicht, sondern der darf nur dabei sitzen. Napoleon krönt sich selbst. Das sind natürlich alles ganz wesentliche historische Momente, die den Franzosen sozusagen eingeschrieben sind.
Macron: "Die Kirche wird wiederaufgebaut"
Seidel: Sie haben es angesprochen: In Ihrem Buch "Die brennende Kathedrale" widmen Sie sich vor allem der Kathedrale von Reims. Nun war damals, als diese Kathedrale zerstört wurde, Krieg. Der Brand gestern in Paris war vermutlich ein Unfall. Die Umstände sind überhaupt nicht vergleichbar. Dennoch die Frage: Welche Wirkung kann die Zerstörung eines solchen nationalen Symbols haben?
Gaehtgens: Das ist eine ganz wichtige Frage. Die enge Bindung eines solchen Monuments mit der Geschichte, gerade im Fall von Frankreich, gerade im Fall von Notre-Dame und aber auch der Kathedrale von Reims mit der nationalen Geschichte, sie ist natürlich ein Monument nationaler Identifikation. Sehr interessant ist, dass die Kathedrale geradezu personifiziert wird. Die Kathedrale im Fall von Reims wurde als Märtyrerin bezeichnet, als die deutschen Bomben auf Reims fielen. Ein solches Monument hat eine Aura und diese Aura wirkt auch über Frankreich hinaus. Ich würde sogar sagen, die Kirchen sind nicht nur Kirchen der Franzosen, sondern sie sind auch Kirchen von allen Besuchern von Frankreich.
Ich glaube auch, dass es jetzt eine große internationale solidarische Entwicklung geben wird, die Kirche wiederaufzubauen. Macron hat das schon gesagt: Die Kirche wird wiederaufgebaut. Und ich glaube, wir alle müssen dazu beitragen, und diese Kirche wird sicherlich sehr schnell wiederaufgerichtet. Man braucht diese Kirchen für die Städte, in denen sich die Franzosen mit ihnen identifizieren, sowohl die Franzosen wie wir auch.
Seidel: Sie sagen, die Kathedrale wird vermutlich sehr schnell wiederaufgebaut werden. Nun hat die Restaurierung der Kathedrale von Reims damals ganze 24 Jahre gedauert. Was macht Sie so sicher, dass es in Paris viel schneller gehen kann?
Gaehtgens: Ich sage "schneller". Das wird trotzdem Jahre dauern. Das ist gar keine Frage. Aber im Fall der Kathedrale von Reims gab es eine ganz andere Diskussion. Es gab auch die internationale Solidarität, vor allen Dingen von Seiten der Amerikaner. Die Amerikaner haben sofort Geld gestiftet, auch andere Länder. Aber in dem Punkt sollte zunächst einmal die Kathedrale gar nicht aufgebaut werden, sondern man wollte daraus ein Denkmal dieses schrecklichen Ereignisses machen, wo die Nachbarn, diese Barbaren, diese Kirche zerstört haben, und es wäre auf diese Art und Weise ein Denkmal der Erinnerung an diese Auseinandersetzung geworden. Viele haben auch gesagt, die Kathedrale lässt sich überhaupt nicht mehr aufbauen. - Ich glaube, vor dieser Situation stehen wir heute nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.