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Brasilianischer Musiker Seu Jorge
Vom Straßenkind zum Star

Seu Jorge lebte als Straßenkind in den Vororten von Rio de Jainero, bis er wegen seiner Baritonstimme entdeckt wird. Durch eine Rolle im Favela-Film 'City of God' wird er auch zum Starschauspieler. Seit 2002 erfrischt er die brasilianische Popkultur regelmäßig mit neuen Einflüssen, ohne die Fundamente um Samba und Bossa zu vergessen.

Von Jan Tengeler | 13.03.2016
    Ein Mann steht auf einer Bühne und spielt Querflöte.
    Superstar aus der Favela: Der brasilianische Sänger und Schauspieler Seu Jorge während eines Auftritts beim Sudoeste Festival 2014 in Odemira, Portugal. (Tiago Canhoto)
    "Samba ist die Musik des brasilianischen Karnevals, erzählt Seu Jorge. Die Leute lieben sie, für viele ersetzt sie sogar Bücher – denn im Samba werden Geschichten über das Land Brasilien und seine Leute erzählt."
    Musik "Moro no Brasil"- Faraofa Carioca
    Moro No Brasil - Ich lebe in Brasilien - das war einer der ersten Songs von Seu Jorge, der ihm größere Beachtung bescherte. Damals, Ende der 1990er Jahre, spielte Seu Jorge in der Gruppe Farofa Cariaco, die Samba, Reggae, Rap und Funk zu einer ungewöhnlichen Form des Musiktheaters vermischte. Der groß gewachsene, dunkelhäutige Mann stach aus dem Ensemble heraus. Denn wenig später konnte er mit Mario Caldato seine erste eigene Solo CD produzieren. Caldato ist einer der renommiertesten Produzenten der brasilianischen Musikszene, der aber auch lange mit dem US amerikanischen Raptrio Beastie Boys zusammen gearbeitet hat. Nun also Seu Jorge: Der Titelsong der CD ‚Carolina’ wurde 2002 zum Hit, auch international. Er ist bis heute eines der wichtigsten Erkennungsmelodien von Seu Jorge und darf auf keinem Konzert fehlen. Der Sänger bietet das Stück in jeder erdenklichen Fassung, als Solonummer nur mit der Gitarre oder in vollem Ornat mit großer Band:
    Musik "Carolina" - Seu Jorge
    ‘Carolina – es ist so schwer dieses Mädchen zu vergessen: ihre Bewegungen sind engelsgleich und ihre Augen strahlen’ So heißt es unter anderem in dem Liebeslied Carolina aus dem gleichnamigen Debütalbum von Seu Jorge. Samba steht bei dieser Einspielung in verschiedenen Ausprägungen im Mittelpunkt: mal mit knackigen Blechbläsern a la James Brown, dann wiederum intim mit bittersüßer Straßenpoesie. Immer mit einem Bein in der Tradition dieses Musikgenres und mit dem anderen in der Moderne. Vor einem Konzert in Köln im Herbst 2015 spricht Seu Jorge im Interview über die Bedeutung der Samba in Brasilien.
    "Samba ist sehr wichtig für uns, es ist mehr als Musik. Natürlich vor allem in Rio de Janeiro, wo sich der Stil vor gut einhundert Jahren entwickelt hat. Er ist eng verbunden mit dem Karneval, aber die Bedeutung geht weiter darüber hinaus. Denn Samba erzählt die Geschichte der Menschen und ihr Schicksal. Es geht um die große Politik und die kleinen Alltäglichkeiten. Und es geht um Brasilien. Früher, als noch nicht so viele Menschen lesen konnten, da hatte der Samba sogar einen erzieherischen Wert: was die Leute nicht aus Büchern erfahren haben, haben ihnen Sambalieder vermittelt. Bis heute lieben die Menschen diesen Stil, er erzählt die Geschichte Brasiliens."
    Musik "Bem Quere" - Seu Jorge
    Seu Jorge ist sich der Rolle von Samba für die brasilianische Gesellschaft durchaus bewusst. Aber ein Bewahrer ist er nicht – ganz im Gegenteil: Sein Erfolg als Musiker geht auch auf seinen unverkrampften Umgang mit dem Stil zurück. Schließlich ist er auch ein Kind der 1970er und 80er Jahre, in denen die Popmusik aus den USA - Soul, Funk und Disco - für brasilianische Jugendliche genauso wichtig war, wie Samba. Schon damals wurden die Stile miteinander verbunden, etwa von Musikern wie Jorge Ben Jor. Seu Jorge greift diese Stilmixtur, den sogenannten Samba Funk auf, um sie noch einmal moderner zu machen, um sie mit Rap und einem Hauch von Elektronik zu verbinden. Mischformen, sagt er, seien in einem so großen Land wie Brasilien Normalität.
    "Brasilien ist vielfältig, die Musik des Nordens ist ganz anders als im Süden, die Folklore ist ungemein reich. Das meiste kennt man im Ausland gar nicht, der Samba ist ja einer der wenigen Stile, die international bekannt geworden sind, neben dem Bossa Nova natürlich.
    Und der wiederum hat sich aus dem Samba heraus entwickelt. Die Jungs damals in den 60ern haben Samba mit Jazz und auch mit Elementen klassischer Musik verbunden. Das ist dann um die ganze Welt gegangen. Aber die eigentliche Wurzel ist und bleibt Samba."
    Neben Samba spielt Seu Jorge natürlich Bossa Nova. Wie im folgenden Stück ‚Una mujer’ aus seiner zweiten CD ‚Cru’ von 2004. Auf der Einspielung schlägt er etwas ruhigere Töne an. Aber er zeigt sich abermals als traditionsbewusster Neuerer. Die CD ist sparsam instrumentiert und legt damit das Rückrat dieser Musik frei: den pulsierenden Rhythmus und die sanften Melodielinien, bei Seu Jorge vorgetragen mit seiner markant-samtenen Baritonstimme, die seinesgleichen sucht.
    Musik "Una Mujer" - Seu Jorge
    Dass Seu Jorge 2004 schon deutlich bekannter ist, als es seine beiden Alben vermuten lassen, ist seinen schauspielerischen Ambitionen zu verdanken. Er ist in der Rolle des Mané in dem Film ‚Cidade de Deus’ zu sehen. Der Film beschreibt das Leben in den brasilianischen Armenvierteln, den Favelas - zwischen Gewalt, Armut und Drogensucht. Ein weltweiter Erfolg, in Deutschland läuft unter dem englischen Titel ‚City of God’. In dem Film spiegelt sich auch die Geschichte von Seu Jorge, wie er in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehen erläutert.
    "2001 hat mir der Regisseur Fernando Mereilles erklärt, was meine Rolle in dem Film ist: als Mané erlebe ich ein Unrecht und beschließe, mich an dem Übeltäter, der der größte Drogenboss der Stadt ist, zu rächen. Ich war geschockt, als ich das hörte. Denn als ich ein Junge war, ist genau das passiert: meine Bruder wurde getötet, mir widerfuhr ein Unrecht. Aber ich habe mich nicht für Rache entschieden, sondern für die Musik."
    Musik "Convite para Vida" - Seu Jorge
    Im preisgekrönten Favela- Film ‚City of God’ ist Seu Jorge nicht nur als Schauspieler zu erleben, sondern auch als Sänger, hier im Stück ‚Convite para Vida.’ Seu Jorge wurde 1970 in einem Armenviertel bei Rio de Janeiro geboren, sein eigentlicher Name ist Jorge Mário da Silva, Seu bedeutet so viel wie Ihr oder Euer. So, als wolle er sagen: hallo, ich bin Georg, Euer Georg.
    Modernes Märchen
    Seine Lebensgeschichte trägt die Züge eines modernen Märchens: Mit Gelegenheitsjobs schlägt er sich als Kind und Jugendlicher durch: als Reifenflicker, Uhrenmacher, Schreiner und Laufbursche. Abends besucht er die Funk-Discos, die im Rio der Achtziger Jahre die Tanzwütigen in ihren Bann ziehen. Schon früh hegt er den Wunsch, Sambista, Sambamusiker zu werden. Als Sänger hat er in den Bars von Rios Norden erste Erfolge, als sein Bruder bei einem Scharmützel mit der Polizei in der Bäckerei seines Viertels getötet wird. Die Familie zerbricht, Seu Jorge lebt in der Obdachlosigkeit. Aber die Musik hält ihn am Leben und gibt ihm Kraft. Schließlich entdeckt ihn der Klarinettist Paulo Moura für eine musikalische Revue, in der er erfolgreich agiert. Seu Jorge gründet die Gruppe Farofa Carioca, in der er seine unterschiedlichen musikalischen Vorlieben genauso einbringt wie seine unterschiedlichen Fähigkeiten als Sänger, Gitarrist, Komponist und Schauspieler.
    2005 bekommt Seu Jorge eine weitere Kinorolle: In dem Film ‚Der Tiefseetaucher’ agiert er neben Stars wie Bill Murray und Cate Blanchet und spielt Songs von David Bowie im Rhythmus des Nova Form.
    Musik "Rebel Rebel" - Seu Jorge
    Auch David Bowie haben diese sanften Interpretationen seiner Songs durch Seu Jorge gefallen. Ein weiterer großer Erfolg in der Karriere des Künstlers, der in seiner Heimat inzwischen ein Superstar ist und mit seiner eigenen Musik weltweite Tourneen absolviert. Nach den David Bowie-Coverversionen besteht sein nächstes Album ‚America Brasil - O Disco’ von 2008 aus eigenen Kompositionen. Ein Album mit viel Tanzmusik und guter Laune, transportiert durch die bewährte Stilmixtur aus Funk und Samba, Disco und Bossa Nova. Bei aller Leichtigkeit, die diese Musik versprüht, sind die Texte doch oft von beißender Sozialkritik. Im Stück Burguesinha ist das in leise Ironie verpackt, denn Seu Jorge tut nichts anderes, als das süße und sorgenfreie Leben eines bürgerlichen Mädchens zu beschreiben, die ihr Geld für oberflächliche Vergnügungen ausgibt.
    Musik "Burguesinha" - Seu Jorge
    "Die Favelas sind für niemanden ein guter Ort: Es ist dort nicht sicher, es gibt nicht genug sanitäre Einrichtungen, keine Krankenhäuser, überall nur Dreck und Müll. Ich bin froh, dass ich dort nicht mehr lebe. Ich bin zwar dort geboren, aber ich möchte dort nicht begraben werden. Es ist die Aufgabe der Regierung, sich wirklich einmal um die Favelas zu kümmern."
    Auch in einem Interview mit einer brasilianischen Musikzeitschrift spricht Seu Jorge Klartext: Er die politische Situation in Brasilien in Zeiten der Olympiade, kritisiert den allgegenwärtigen Rassismus und reagiert auf Vorwürfe, er - der berühmte Sohn der Favelas - würde sich nicht genug für die Situation dort einsetzen.
    "Für einen Schwarzen ist es in Brasilien sehr schwer überhaupt ein anständiges, ehrliches Leben zu führen. Zumal in einem Armenviertel. Und wenn ich jetzt dorthin zurückkehren würde, als Star, was meinen sie, mit wem ich es zu tun hätte? Natürlich mit den Drogenbossen und Milizen. Es würde kein Weg drum herum führen. Selbst wenn ich alte Freunde bitten würde, etwas zu organisieren. Die Chefs bekomme Wind davon, sie kommen vorbei und wollen ein Foto mit mir machen. Ich wäre nicht in der Situation, ihnen das abzuschlagen. Also ich gehe ich besser gar nicht erst hin."
    "Kleiner schwarzer Außenseiter"
    Aber abgeschlossen hat Seu Jorge mit dem Thema 'Favela' deshalb noch lange nicht. Bei seinem Konzert in Köln hat er im vergangenen Jahr mit eindringlichen Worten über seine Kindheit als Schwarzer in den Armenvierteln berichtet. Es war einer der stärksten Momente des Konzertes: den kleinen schwarzen Außenseiter könne er nicht abstreifen, sang Seu Jorge, und er werde auch nie dazu in der Lage sein.
    Doch seine Kritik an bestehenden Verhältnissen kommt nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Er erzählt von seinem Leben ohne Anklage und überlässt es den anderen, einen Vorwurf oder Verbesserungsvorschläge zu formulieren. So auch im Video zu dem Song ‚Tive Razao’: Seu Jorge sitzt wie ein Straßenmusiker am Fuße einer Kirche. Menschen kommen vorbei und werfen etwas Geld in seinen Gitarrenkoffer, am Ende tritt der Priester aus der Kirche heraus und verjagt ihn.
    "Das Video ist in Italien entstanden, an der meine Frau hatte die Idee dazu. Das passt doch sehr gut, denn Brasilien ist wie Italien sehr katholisch. Auch ich bin so aufgewachsen. Dabei ist das Video noch nicht einmal als ausdrückliche Kritik an der Kirche entstanden – aber klar, man wird das wohl so verstehen können. Am Ende kommt Bill Murray, der den Priester spielt, vertreibt den Musiker und will das Geld behalten."
    Musik "Tive Razao" - Seu Jorge
    "Ich lebe in Los Angeles und Brasilien. In Brasilien kann ich ja keinen Schritt machen, ohne verfolgt zu werden. Ein normales Familienleben ist da nicht möglich. Und ich hoffe auch, dass meine Kinder in den USA bessere Chancen haben. Es ist auch in den USA hart als Farbiger, aber nicht so hart wie in Brasilien. Meine Familie ist also meistens in Amerika, demnächst geht die Schule wieder los und ich vermisse sie ganz schön, wenn ich so viel unterwegs bin. Ich habe übrigens nur Töchter, drei Stück, weil ich Frauen doch so gerne mag."
    Grillen in Brasilien, Chillen in Los Angeles
    2012 ist Seu Jorge nach Los Angeles gezogen. Aber er ist weiterhin oft in Brasilien und verarbeitet die Themen seiner Heimat. 2011 veröffentlichte er die erste CD seiner Trilogie "Musicas para Churrasco" - "Musik für Grillpartys". Das Grillen ist eine der Lieblingsbeschäftigungen der Brasilianer. Anders als in Deutschland allerdings das ganze Jahr über.
    Musik "A Doina" - Seu Jorge
    "Musicas para Churrasco" - 2015 entstand der zweite Teil und derzeit arbeitet der brasilianische Sänger an der dritten und letzten Ausgabe dieser musikalischen Telenovela über das soziale Leben der Brasilianer. Dabei portraitiert er Menschen von nebenan: neugierige Nachbarn; unsichere Teenager; Senioren, die wie Süchtige Bingo spielen; halbwüchsige Motorradfahrer, die alles Mögliche durch die Favelas transportieren und immer wieder geht es um unterschiedliche Frauentypen: die Verführerin und das Mauerblümchen, eine exotische Fremde oder die psychisch labile Nachbarin.
    "Ich komponiere seit vielen Jahren mit ein paar engen Freunden zusammen. Wir setzen uns zusammen und lassen uns von dem inspirieren, was uns umgibt. Für das jüngste Projekt, die ‚Musik zum Grillen’, haben wir uns in den Gärten und Hinterhöfen der Nachbarn umgesehen, wenn sie zusammen kommen und trinken. Es ist doch spannend zu sehen, wie da die unterschiedlichsten Charaktere mit ihren Problemen und Verrücktheiten aufeinander treffen, wie jeder in seiner Welt lebt und wie man trotzdem irgendwie zusammenfindet."
    Musik "Ela bipolar" - Seu Jorge
    Einen Eindruck vom Starrummel, der in Brasilien um Seu Jorge gemacht wird, erhält man auch bei einem seiner seltenen Konzerte in Deutschland. Die brasilianische Gemeinde versammelt sich und ist dementsprechend chic zu recht gemacht. Diejenigen mit Geld oder guten Kontakten überreichen dem Star kleine Geschenke und freuen sich über ein gemeinsames Foto. Eine Menge hübscher Frauen sind auch dort und laufen aufgeregt durch die Gegend laufen. Und dann sind da noch seine persönliche Managerin, seine Anwältin und die Frau für die Garderobe. Die sind allerdings schon etwas älter und fülliger. Als es dann kurz vor Konzertbeginn zum Interview kommt, entpuppt sich Seu Jorge als freundlich, konzentriert und - bescheiden.
    "Ich möchte spielen, was die Leute hören wollen. Bekannte Musik aus Brasilien, das müssen nicht immer Stücke von mir sein. Ach übrigens – was soll ich denn jetzt anziehen? Der Anzug ist sehr chic, aber ich habe die Manschettenknöpfe vergessen. Ich glaube, ich bleibe so, wie ich bin. Jeans und T-Shirt. Das ist bequem und ich bin nicht over-dressed."
    Musik "Ela bipolar"