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Brasilien
Im Zweifel für die Ausgestoßenen

Die "Christliche Zeitgenössische Kirche" - "Igreja Cristã Contemporânea" - ist eine Ausnahme in der evangelikalen Bewegung Brasiliens. Sie richtet sich vor allem an Homosexuelle, die weder in katholischen noch in den immer einflussreicheren Pfingstkirchen willkommen sind.

Von Andreas Behn | 21.06.2017
    Zum Gottesdienst in der Igreja Crista Contemporanea in Rio de Janeiro sind rund 200 Gläubige gekommen, die gemeinsam singen und beten.
    Zum Gottesdienst in der Igreja Crista Contemporanea in Rio de Janeiro sind rund 200 Gläubige gekommen, die gemeinsam singen und beten. (imago stock&people)
    Ein ehemaliger Kinosaal dient jetzt als Gotteshaus. Ein junger Schlagzeuger trommelt mit geschlossenen Augen und gibt den Rhythmus vor. Feierlich gekleidete Gemeindemitglieder tanzen auf der Bühne. Pastor Marcos Gladstone Canuto steht an einem schlichten Rednerpult und singt mit.
    Es wirkt wie in so vielen anderen evangelikalen Kirchen in Brasilien - mit einem Unterschied: Viele der 200 Gläubigen, die von der Gospelmusik beschwingt auf den Stühlen sitzen, sind Lesben und Schwule. Mehrere Paare halten sich die Hände, andere umarmen sich. Pastor Canuto ist stolz auf die gute Stimmung in seiner Kirche:
    "Unsere Kirche hat die gleiche Doktrin, die gleiche Vision wie andere Kirchen auch. Der einzige Unterschied ist, dass wir alle Menschen aufnehmen, ohne Vorurteile."
    Die "Christliche Zeitgenössische Kirche", auf brasilianisch "Igreja Cristã Contemporânea", ist eine Ausnahme unter den unzähligen evangelikalen Kirchen Brasiliens. Sie richtet sich vor allem an Homosexuelle, die weder in katholischen noch in den immer einflussreicheren Pfingstkirchen willkommen sind. Canuto argumentiert mit dem Wort Gottes:
    "An keiner Stelle verurteilt die Bibel Liebe und Treue zwischen zwei Menschen des gleichen Geschlechts. Trotzdem werden die Homosexuellen zumeist von der christlichen Praxis ausgeschlossen. Nicht von der Kirche selbst, aber von vielen fundamentalistischen Anführern."
    Aufmerksam und sichtlich gerührt verfolgt Claudio Santos Vitório die Predigt von Pastor Canuto. Es geht um die Geschichte von Jakob, um Vater-Sohn-Beziehungen und das Erstgeburtsrecht. Seit über fünf Jahren besucht der 44-jährige jede Woche die Kirche im Stadtteil Madureira im Norden der Stadt, fernab der mondänen Strandviertel Copacabana oder Ipanema. Früher ging Vitório in eine andere evangelikalen Kirche. Als er feststellte, dass er schwul ist, fingen die Probleme an.
    Er erzählt: "Ich kam mir verloren vor. Wie kann ich schwul sein und gleichzeitig von Gott akzeptiert werden? Wie kann ich meinen Glauben beibehalten, wenn alle sagen, dass Gays nicht willkommen sind?"
    Vitório war früher mit einer Frau verheiratet. Der Sonderschullehrer wollte sich neu verlieben und eine Familie gründen. Doch die Gespräche in seiner Gemeinde führten in eine Sackgasse.
    "Ich wurde kritisiert, ich solle mich verändern, solle nach Gott suchen. Ich geriet in einen tiefen Konflikt. Es war sehr traurig, denn sie sagten, dass Gott mich mit dieser Eigenschaft nicht annehmen werde. Es hieß: Entweder du heiratest heterosexuell oder du bleibst im Zölibat."
    Vitório verließ die Kirche. Wenig später lernte er über einen Freund die "Igreja Cristã Contemporânea" kennen.
    Pastor Canuto gründete die Kirche vor gut zehn Jahren. Während seines Studiums in den USA erkannte der Theologe, dass Religion und Homosexualität kein Widerspruch sein müssen. Inzwischen unterhält die Kirche mehrere Gotteshäuser in Rio sowie in São Paulo und Belo Horizonte. Sie versteht sich als Teil der evangelikalen Bewegung, die im größten katholischen Land der Welt rasch wächst. Weit über 20 Prozent der Bevölkerung bezeichnet sich inzwischen als "evangelisch", wobei die meisten Anhänger von Pfingstkirchen sind.
    Pastor Canuto weiß, dass die Lebensgeschichte von Vitório kein Einzelfall ist.
    "90 Prozent unserer Mitglieder waren vorher in anderen evangelikalen Kirchen. Wir nennen diese Menschen "entkirchlicht". Heute gibt es immer mehr "Entkirchlichte" - Menschen, die vor ihren Kirchen enttäuscht wurden. Zu uns kommen Leute, die ihre Sexualität nicht so leben konnten wie sie wollten."
    Andere evangelikale Kirchen in Brasilien lehnen Homosexualität rundweg ab. Auch für die Baptistische Kirche ist Schwulsein nicht mit den christlichen Werten vereinbar. Auch die katholische Kirche Brasiliens steht Homosexualität kritisch gegenüber, will aber niemanden ausschließen. Sie bezeichnet gleichgeschlechtliche Beziehungen als "Problem", das von den Betroffenen gelöst werden müsse.
    Heute leitet Pastor Canuto die Christliche Zeitgenössische Kirche gemeinsam mit seinem Ehemann, dem Pastor Fábio Inácio Canuto. Sie heirateten, als gleichgeschlechtliche Ehen in Brasilien im Jahr 2013 erlaubt wurden. Gemeinsam haben sie inzwischen drei Kinder adoptiert, der älteste ist 14 und die Jüngste zwei Jahre alt.
    "Familie bedeutet für uns nicht Vater, Mutter, Kind. Eine Familie ist ein Liebesgeflecht, bei dem die Liebe von ganzem Herzen kommt. Meine Kinder tragen nicht meine DNA, aber sie sind in meinem Herzen geboren worden. Das ist für uns wichtig."
    Die "Zeitgenössische Christliche Kirche" unterstützt gleichgeschlechtlicher Paare, die Kinder adoptieren wollen. Auch Seelsorge ist wichtig, da fast alle in der Gemeinde Erfahrung mit Diskriminierung gemacht haben. Manche sogar mit gewalttätigen Übergriffen. Der gemeinsame Gottesdienst ist für sie ein Moment der Entspannung und der Besinnung.
    Am Ende der Andacht sehen die Menschen zufrieden aus. Die Stimmung ist ausgelassen, noch lange stehen die Gläubigen in Gruppen zusammen und reden. Pastor Canuto ist etwas erschöpft, er hat fast eine Stunde lang gepredigt. Den Erfolg seiner Kirche erklärt er so:
    "Wir machen genau das, was Jesus einst auf Erden machte: Die Nähe derjenigen suchen, die ausgestoßen wurden, auch durch die damaligen Kirchenleute."