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BRD und DDR

Die Geschichte des geteilten Deutschland ist mittlerweile ein intensiv erforschtes Terrain. Nicht so leicht fündig wird man allerdings, wenn man wissen will, wie Ost und West in jenen 40 Jahren einander wahrnahmen. Forschungen darüber sind allerdings bislang Mangelware; und so haben 13 Wissenschaftler des Instituts für Zeitgeschichte in München und Berlin nun einen Sammelband vorgelegt, der die Lücke zu füllen helfen soll. Das doppelte Deutschland - 40 Jahre Systemkonkurrenz, so der Titel. Michael Kuhlmann hat das Buch gelesen und mit einem der Herausgeber gesprochen. Sein Beitrag beginnt in einer Sphäre, in der die deutsch-deutsche Konkurrenz allgegenwärtig war, mit einer Reportage des Sportjournalisten Jochen Sprentzel.

14.07.2008
    "Das Boot aus der Bundesrepublik führt - aber die DDR erhöht noch einmal die Schlagzahl. Das DDR-Boot ist noch längst nicht geschlagen!"

    Samstag, der 2. September 1972 auf der Ruderregattastrecke Oberschleißheim bei München. Der legendäre Bodensee-Vierer und das Konkurrenzboot aus Ost-Berlin liefern sich ein packendes Duell. Die Olympischen Spiele von München sind die ersten, bei denen die DDR mit eigener Mannschaft antritt. Deutschland-Ost und West wetteifern leidenschaftlich miteinander: ob auf der Radrennbahn, in der Leichtathletik - oder wie hier beim Rudern.

    "Und 40.000 Zuschauer, unter ihnen Vera Claskava, Emil Zatopek, Manfred Germar - sie feuern die Bundesrepublik an! Es sind noch fünfzig Meter für Berger, Färber, Auer, Bierl und Steuermann Benter - und in diesem Moment! Die Zuschauer reißen die Arme hoch - in diesem Moment hat es gelangt für diese Mannschaft, für die Welt- und Europameister, ja und das ist ein großer Triumph für sie."
    Die deutsch-deutsche Konkurrenz im Sport - sie ist Legende. Doch Bundesrepublik und DDR maßen einander noch auf vielen weiteren Gebieten. Und zugleich standen sie häufig vor denselben Problemen: dem wirtschaftlichen Strukturwandel, neuen Situationen in der Weltpolitik, einem veränderten Lebensgefühl der Menschen. Wie aber antworteten Ost und West auf die Herausforderungen? Wie versuchten sie etwa ihr Bildungssystem zu reformieren? Wie reagierten sie auf die Ölpreisschocks? Oder - um zu Olympia zurückzukehren - wie verhielt sich die Politik zum Sport? Um solche Fragen geht es den Mitarbeitern des Instituts für Zeitgeschichte in dem neuen Buch Das doppelte Deutschland. Prof. Hermann Wentker, der Leiter der Berliner Institutsabteilung, hat es mit herausgegeben.

    "Den Anstoß gab eine Reihe von eher allgemeinen Feststellungen zur westdeutschen und ostdeutschen Nachkriegsgeschichte. Entweder die: 'Man kann den einen nicht ohne den anderen verstehen' - oder: 'Beide bilden eine dialektische Einheit'. Das liest sich schön, und das sagt sich so schön dahin - aber wir wollten eben wissen: Kann man das irgendwo konkretisieren? Und uns erschien sozusagen eine Möglichkeit der Konkretion, nach den wechselseitigen Perzeptionen zu fragen."

    Denn die Politiker in Ost und West orientierten sich weit mehr aneinander, als man gemeinhin denkt. Besonders groß war die gegenseitige Aufmerksamkeit in den fünfziger Jahren.

    "Damals ging man eben doch noch weitgehend von einer Einheit aus, auch wenn es zwei Staaten gab. Und dann gibt es noch einmal in interessanter Weise Mitte der sechziger bis in die siebziger Jahre hinein wiederum ein gewisses Interesse füreinander, etwa in den Bereichen Bildungsreform, Strafrechtsreform, Abtreibung - da war auch die Entwicklung der DDR und die Angst, im deutsch-deutschen Vergleich schlecht abzuschneiden, ein gewisser Motor für die bundesdeutschen Entwicklungen."

    Gerade als in Bonn um eine Reform des Paragraphen 218 gestritten wurde. Da hatte die DDR bereits ihre "Fristenregelung". Autor Michael Schwartz beobachtet:
    Im Reformjahrzehnt um 1970 hat eben dieser Streit um die Abtreibung die gespaltene Nation auch geeint. Ansatzweise konstituierte sich damals trotz aller Abgrenzung eine gesamtdeutsche Öffentlichkeit, die über gemeinsame Probleme und Lösungen stritt. Unser Blick widerlegt damit die verbreitete Annahme, im doppelten Deutschland habe vielleicht die DDR stets auf die Bundesrepublik geschaut, die westdeutsche Seite aber habe sich für die DDR kaum interessiert. In der Abtreibungspolitik wurde die DDR kurzfristig zum Maßstab einer kontroversen Debatte der Westdeutschen.

    International wiederum wetteiferten Bonn und Ost-Berlin offen um die Gunst der Dritten Welt. Amit Das Gupta erzählt die spannende, zeitweise skurrile Geschichte am Beispiel des Verhältnisses zu Ägypten. Dessen Staatschef Gamal Abdel Nasser war klug genug, zwischen Bundesrepublik und DDR zu lavieren. Und so schlug er als lachender Dritter bei beiden deutschen Regierungen Profit heraus. Ein Beispiel, dem viele andere Länder folgten. - Auch die Deutschlandpolitik kommt natürlich im Buch zur Sprache. Manfred Kittel befaßt sich in seinem Beitrag besonders mit den Initiativen des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß - jenem Milliardenkredit für die DDR, den der einstige Erzfeind der Entspannungspolitik 1983 vermittelte. Der Kredit habe das SED-Regime zwar stabilisiert, räumt Kittel ein. Aber:

    Er wirkte gleichzeitig auf eine vertrackte Weise auch politisch destabilisierend. Oft genug konnte man bei DDR-Reisen drüben damals sinngemäß die Reaktion hören: Wie nah muss der SED-Staat am Abgrund stehen, wenn er sich jetzt sogar schon von einem jahrzehntelang so verteufelten Reaktionär wie Strauß helfen lassen muss. Insofern hat der Kredit seinen Anteil daran, dass die DDR sich dem immer hilfsbereiten Westen mehr und mehr öffnete, statt innere Reformen anzugehen und sich dem Wind des Wandels aus dem Osten zu beugen. Und dass statt des Experiments einer "DDR light" mit Planwirtschaft plus Menschenrechten 1989/90 eine Revolution das alte Regime hinwegfegte.
    Die Stärke des Sammelbandes liegt darin, dass er viele grundsätzlich bekannte Fakten und Trends aus ungewohnter Perspektive betrachtet - eben aus einer doppelten deutschen Perspektive. Wie Herausgeber Hermann Wentker erläutert, werden Forschungen dieser Art in den nächsten Jahren beim Institut für Zeitgeschichte eine wesentliche Rolle spielen. Mehrere Detailstudien sind schon in Arbeit. Wentker selbst bereitet mit einigen Kollegen eine (so wörtlich) "deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte" vor.

    "Eine gemeinsame Darstellung, wo man etwa übergreifend Fragen der Außenpolitik, der Wirtschaftspolitik, der gesellschaftlichen Verhältnisse behandelt und in diesen Abschnitten dann jeweils verdeutlicht: Wo hängen die beiden Staaten zusammen? Wo gehen sie auch auseinander? Wo nehmen sie sich gegenseitig wahr? Wo kann man sinnvoll vergleichen - wo kann man nicht vergleichen?"

    Den Sammelband Das doppelte Deutschland liefert auf diese Fragen erste Antworten. Die fallen je nach Themenbereich verschieden aus; und so hätte dem Buch eine Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte zum Abschluss gutgetan. Anregend jedoch sind die knapp 400 Seiten in jedem Falle geraten. Auf die Thesen und Überlegungen, die künftig aus dem Institut für Zeitgeschichte kommen werden, darf man gespannt sein.

    Udo Wengst/Hermann Wentker (Hg.), Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Christoph-Links-Verlag Berlin 2008