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Brecht an der Burg

Angesichts der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise hat das Wiener Burgtheater den Regisseur Michael Thalheimer gebeten, dem Publikum anhand von Bertolt Brechts Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" die Kaputtheit unseres Systems vor Augen zu führen.

Von Sven Ricklefs | 01.11.2010
    Die Zeit verrinnt, buchstäblich im Angesicht des Fleisches. Denn hinten in diesem monumentalen Raum, den Olaf Altmann für Michael Thalheimers Wiener Johanna gebaut hat, hinten in diesem leeren, sich verjüngenden Metallverließ, schwingt ein mächtiges Pendel, langsam, stetig und grausig anzusehen. Und fast drei Stunden lang wird diese Schweinehälfte nicht aufhören mit ihrem mächtigen Leib den Takt zu geben. Die Zeit: bestimmt vom rohen Fleisch. Davor steht in Reihen der vielköpfige Chor und auch er wird die ganze Zeit über präsent sein und wird ihnen im wuchtigen Rhythmus Stimme verleihen, den Schlachtern und Händlern, den Fleischhauern und Arbeitern der Chicagoer Schlachthöfe. Bertold Brechts "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" zeigt exemplarisch das Elend derer, die immer die Leidtragenden sind der gierigen Machenschaften der Mächtigen, die mit Marktmanipulation, Insiderabsprachen und geschicktem Börsenspiel ihren Profit in jeder Situation vergrößern und sich auf Kosten anderer bereichern.

    Das ist er der Mauler, der König der Schlachthöfe, der die Zeichen der Zeit immer zu lesen versteht, und den in Wien der wunderbare Tilo Nest als einen ständig windig sich windenden spielt, der sich fast immerzu den Hosenbund seines grauglitzernden Anzugs heraufzieht, so als habe er sich etwas zu schulden kommen lassen, was er dadurch ungeschehen machen könne. Zugleich aber genießt er seine Macht, seinen Vernichtungsinstinkt, er kriecht nach dem Geld, wenn es am Boden liegt und kann sich doch der Faszination der Heilsarmeesoldatin Johanna Dark nicht entziehen, die den Schlachthöflern zu Hilfe eilt, mit ihrem reinen Gutmenschengestus allerdings nur Schaden anrichtet.

    Mit der ebenso faszinierenden wie eigenwilligen Sarah Viktoria Frick hat Regisseur Michael Thalheimer in Wien eine Art Wuchtbrumme als heilige Johanna ins Feld geschickt, die breitbeinig und konsequent ihren Weg in die elendige Kehrseite des Kapitalismus hinabstiefelt. Dabei lässt Thalheimer ganz bewusst auch optisch die Heilsarmee außen vor, die Brecht einst nicht nur in der Heiligen Johanna aufs Korn nahm und deren christliche Suppenküchenideologie seiner Meinung nach dem Brutalkapitalismus noch unter die Arme griff. Hier ist die Johanna zunächst eher die Karikatur einer höheren Tochter, mit rosa Röckchen und rosa Ringelsöckchen eilt sie herbei einer Welt zu helfen, die sie gar nicht kennt. Und: Je tiefer sie hinabsteigt um so nackter steht sie da, schließlich nur noch im bloßen Leibchen, den Mund blutverschmiert, da sieht die Sterbende, die sich in ihrem Kampf sinnlos aufgebraucht hat, schließlich aus wie das erbärmliche Vieh, dessen Masken der Chor zeitweise trägt, traurig blutige Fratzen von Schweinen, Kühen, Hühnern.

    Man kann viel haben gegen die "Heilige Johanna der Schlachthöfe", deren unverblümter Moralgestus so brechttypisch ist, und deren akribische Analyse von Krisen und ihren Gewinnlern zwar für den Börsen- Dilletanten Brecht erstaunlich richtig aber szenisch eher langwierig und verwirrend wirkt. Doch auch der größte Brechtskeptiker muss zugeben, dass es Michael Thalheimer mit seiner ästhetisch wie rhythmisch wuchtigen Version, die zudem mit aggressivem Gestus das Publikum direkt anspielt, gelungen ist, eine beeindruckende Form für dieses Stück zu finden. Geschickt wechselt er zwischen stilisierten Chorszenen und fast peinlich genauen Milieustudien hin und her und findet dabei eine fast archaische Wucht für ein Thema, dessen Brisanz gerade wieder in unseren Tagen natürlich nicht zu leugnen ist, /in den der Markt noch immer gleich funktioniert, nur dass die Zeche nicht mehr die offensichtlich Elenden allein zahlen, sondern im Zeitalter staatlicher Hilfsprogramme der Steuerzahler höchstselbst.