Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Brechts "Baal" am Berliner Ensemble
Der Künstler als Übermensch

Ersan Mondtag hat Brechts frühes Drama "Baal" als Stationendrama über Tod, Liebe und Einsamkeit inszeniert. Zugleich ist es eine Karikatur des genialischen Dichters in der kunstfeindlichen Gesellschaft. Bilderstarkes Cross-Gender-Theater, das den Geist ermattet, meint unser Kritiker.

Von Eberhard Spreng | 08.09.2019
Szene aus Bertolt Brechts "Baal" am Berliner Ensemble, in der Regie von Ersan Mondtag, mit den Darstellern Johannes Meier, Peter Luppa, Veit Schuber, Jonas Grunder-Culemann, Owen Peter Read, Emma Lotta Wegner, Torben Appel und Stefanie Reinsperger (v.l.n.r.)
Szene aus Bertolt Brechts "Baal" am Berliner Ensemble (Birgit Hupfeld)
Eine freudlose Gasse mit schiefen Hausfassaden und schrägen Laternen, in den wilden Farben des Expressionismus. Und diese sich perspektivisch verjüngenden Gasse bevölkert eine Gruppe von Schauspielern in hautengem Stretch, auf dem mit derben Pinselstrichen nackte Frauenkörper aufgemalt sind, in übersteigerten Konturen und Schattenwirkungen.
Ein Caligari-Kabinett hat Ersan Mondtag hier errichtet und wie im berühmten Filmvorbild gelingt es dem bilderstarken Regisseur, die Raumwirkungen der Bühne und die Körper seiner Akteure in die zweidimensionale Flächigkeit der Malerei zu übertragen. So als stünde dem Publikum da gar nicht die Physis und Körperlichkeit des Theaters vor Augen.
Der Reiz des Gossenlyrikers
Dabei werden aus den Nebenfiguren in Brechts frühem Stück soziale Charaktermasken vor allem aber dann, wenn sie anschließend bekleidet auftreten: In steifen, eckigen Kostümkarikaturen, Streifenanzügen mit überschärften Konturen. Erstarrt in ihren gesellschaftlichen Konventionen finden sie einen Reiz an dem genialischen Gossenlyriker Baal, seiner animalischen Attraktivität, seiner scheinbaren Freiheit. In Ersan Mondtags Crossgender-Version spielt diesen Baal Stefanie Reinsperger:
"Alle Laster sind zu etwas gut, nur der Mann, sagt Baal, nicht, der sie tut. Laster sind, was weiß man, was man will, sucht euch zwei aus, denn eines ist zu viel."
Reinspergers Baal kraftmeiert über die Bühne, vom rotzigen Balladensänger, der schnoddrige Rücksichtslosigkeit zeigt, bis zum hemmungslosen Schluchzen über die Kollateralschäden ihres Triebgeschehens, wenn der Selbstmord einer Frau zu beklagen ist, die sie dem besten Freund ausgespannt hatte. Dieser Johannes wird gespielt von Judith Engel, die in dem langen Abend am Berliner Ensemble wie die verkörperte Reue über die Bühne geistert. Sie ist damit der Kontrapunkt zu einem dem Nihilismus zutreibenden Bürgersschreck und Poète maudit. Judith Engel spielt aber auch Baals Mutter, auch sie ist eine bleichgesichtige Vorwurfsinstanz:
"Ich fühl mich nicht so wohl. Das glaube ich, Du trinkst schon wieder. Oh du Schwamm, anstatt dass du arbeiten würdest und deiner armen Mutter das Leben nicht zu einer Hölle machen. Es ist eine Hölle."
Kunst im Fleischwolf
Ersan Mondtag hat für seine Bühnenfassung Textauszüge aus den diversen Baal-Manuskripten kollagiert. Auf diese Weise verleiht er der Mutterfigur aus der ersten Fassung ein besonderes Gewicht. Nur Stefanie Reinsperger, Judith Engel und Kate Strong, die Freund Eckart verkörpert, unterscheiden sich von der expressionistisch gestylten Bühnengesellschaft mit vergleichsweise dezenter Kleidung und Schminke.
Wo das Establishment in der expressionistischen Pose erstarrt, muss die Reinsperger mit heftigem Powerplay ihr extravagantes Menschsein behaupten. Immer wieder kehrt sie für den spirituellen Rückhalt in einen bizarren Tempels der Lust zurück. In einem der vier Räume der Drehbühne haben Ersan Mondtag und Marcel Teske hier in einer hoch aufragender Apsis eine gigantische, dämonisch grinsende Barbiepuppe aufgerichtet, ihr ein männliche Geschlechtsteil angepappt und schwarze Teufelshörnchen aufgesetzt. Diesem Hermaphroditen und Gottvater fällt Baal zu Füssen, wirft in einer grotesk komischen Szene kleine abgehackte Hände und Füße in einen großen Fleischwolf und dreht zu den Worten "hat doch Hand und Fuß, das ist Kunst" an der Kurbel.
Wer will, mag das als Hinweis auf den vorantiken Opferritus verstehen, als Gott Baal Kindsopfer dargebracht wurden. Lebhaftes Lachen im Publikum und doch eine herbe Erkenntnis: Dieser Baal kann mit seiner Kunst heute rein gar keinen Schrecken mehr verbreiten; den baalschen Normenkonflikt von Gesellschaft und Lyrik kann man sich nicht mehr vorstellen. Brechts Baal war dereinst eine Reaktion auf das überschwängliche Künstlerdrama "Der Einsame" des späteren NS-Kulturfunktionärs Hanns Johst, das seinerseits über den alkoholabhängigen Vormärz-Dichter Grabbe fabulierte.
Das bei Brecht ins Absurde verkehrte Motiv des Künstlers als Übermenschen, der an der Gesellschaft scheitert, findet heute selbst als Persiflage keinen Resonanzraum mehr. Ersan Mondtag nimmt mit seiner Cross-Gender-Besetzung dem Stück in #MeToo-Zeiten außerdem das Skandalpotential, da hier nun kein hemmungsloses, männliches Sexmonster mehr zu erleben ist. Aber um die baalsche Ideenwelten quasi genderneutral beredt zu machen, dafür gibt das Stück nicht genug philosophischen Zündstoff her. So ermattet der Geist in fast drei langen Stunden bei zugleich größtem Vergnügen der Augen.