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Brennpunkt Dijarbakir

Im Sommer vergangenen Jahres sprach der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan aus, was nie zuvor ein türkischer Regierungschef zu sagen gewagt hatte: In der Türkei gebe es ein Kurdenproblem, und es müsse gelöst werden. Anstrengungen dazu sind jedoch kaum zu erkennen.

Von Antje Bauer | 24.06.2006
    Als Ende März mehrere hundert Demonstranten völlig unerwartet in dem Geschäftsviertel von Diyarbakir auftauchten und dort Autos in Brand setzten, Schaufenster einschlugen und Läden plünderten, war Yurdusev Özsökmenler nicht sonderlich überrascht:

    "Ein Großteil der an diesen Vorfällen Beteiligten waren Kinder und Jugendliche. Diese Jugendlichen sind arbeitslos, haben eine mangelhafte Berufsausbildung und machen sich keinerlei Hoffnung bezüglich ihrer Zukunft. Dass Menschen in solch einer Situation irgendwann explodieren, kann man überall beobachten. In Paris war es so, und jetzt eben in Diyarbakir."

    Yurdusev Özsökmenler ist Bürgermeisterin von Baglar, einem Stadtviertel von Diyarbakir, der größten kurdischen Stadt in der Türkei. Baglar ist ein Migrantenviertel: 70 Prozent der Einwohner sind Neuzugezogene; Bauern, die vor 10 bis 15 Jahren aus den umliegenden Dörfern vertrieben wurden. Genau genommen sind allerdings alle Stadtteile von Diyarbakir Migrantenviertel – mit Ausnahme eben des Geschäftsviertels, dessen glitzernde Auslagen im März verwüstet wurden. In Yenisehir, der Neustadt, hat in den vergangenen Jahren die moderne Welt in Form von Benetton-Läden, Internetcafés und einem gläsernen Hochhaus mit Namen Plaza Einzug gehalten.

    Die Situation in den übrigen Stadtvierteln hat sich hingegen weiter verschlechtert. Wie eh und je riechen die engen, dunklen Straßen nach Müll, versuchen Kinder noch spät in der Nacht, Schuhe zu putzen oder Sesamringe zu verkaufen, schieben ambulante Verkäufer Holzkarren mit Gemüse vor sich her. Aber noch mehr Männer als früher sitzen den ganzen Tag untätig im Teehaus, mehr Kinder sind noch spät abends allein auf der Straße, und anders als früher halten heute viele Passanten ihre Tasche gut fest, denn in Diyarbakir wird häufiger mal jemand ausgeraubt. Ilhan Diken ist Vizebürgermeister von Diyarbakir und erklärt die Gründe:

    "1992 hatte Diyarbakir noch 350.000 Einwohner. Heute sind es 1.350.000, darunter sehr viele Migranten. Das Wohnungsproblem ist ungelöst. Es gibt noch immer Wohnungen, in denen drei Familien zusammenleben. Manche Stadtteile haben noch immer kein sauberes Trinkwasser. Allein in der Altstadt leben und arbeiten 10.000 Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren. Und 70 Prozent der Menschen dort sind arbeitslos, arm und hungrig."

    Dass sich die Bevölkerungszahl von Diyarbakir innerhalb von knapp 15 Jahren vervierfacht hat, liegt in der Hauptsache am Kurdenkonflikt. In den 90er Jahren, als sich die Kurdenguerilla PKK und das türkische Militär bekriegten, zerstörte die Armee tausende Dörfer und vertrieb deren Bewohner, um der PKK die Unterstützung zu entziehen. Eine Million Kurden wurden nach Schätzung der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch aus ihren Dörfern vertrieben. Die meisten flohen in die Städte, und zwar hauptsächlich die der Region. Die Massenflucht wurde zwar von staatlichen Organen ausgelöst, jedoch fühlte sich der Staat hinterher für diese Flüchtlinge nicht weiter verantwortlich, wie Ahmet Kalpak kritisiert, der Vorsitzende der Vertriebenenvereinigung Göc-Der in Diyarbakir:

    "Es gab eine systematische Vertreibungspolitik, aber es gibt kein politisches Konzept für die Zeit nach der Vertreibung. Es sind mehrere Projekte entwickelt worden, aber die haben alle nichts gebracht."

    Das größte Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit. In Diyarbakir beträgt sie um die 70 Prozent. Die Menschen, die aus den Dörfern kamen, waren fast ausnahmslos Bauern, die plötzlich versuchen mussten, in der Stadt Geld zu verdienen. Die meisten scheiterten, wie Ahmet Kalpak erklärt:

    "Wenn man fragt, was für eine Arbeit die Migranten machen, dann muss man eigentlich sagen: keine. Sie sind arbeitslos, denn sie sind unqualifiziert. Man kann einen Bauern nicht in die Stadt bringen und als Sekretär einstellen. Der kann das nicht. Der beherrscht noch nicht mal die türkische Sprache."

    Fabriken, in denen die Migranten einen Arbeitsplatz hätten finden können, gibt es nur wenige. Die gesamte Region ist kaum industrialisiert. Auch das liegt an dem Kurdenkonflikt. Ilhan Diken, der stellvertretende Bürgermeister von Diyarbakir:

    "Wir hier in der Region laden ständig das nationale und internationale Kapital ein, werben um Investitionen. Aber potenzielle Investoren sagen immer: Zunächst muss es friedlich werden. Sie nehmen das Risiko nicht auf sich, in einer Region zu investieren, in der es bewaffnete Auseinandersetzungen gibt. Sie wollen nicht kommen."

    Dabei schien es eine Weile, als sei die Zeit des bewaffneten Kampfes vorbei. Nachdem der PKK-Führer Abdullah Öcalan 1999 gefangen genommen und verurteilt worden war, hatte die PKK einen Waffenstillstand ausgerufen. In der Region wurde seither der seit Jahren geltende Ausnahmezustand nach und nach aufgehoben, und auf den Feiern zum Newroz, dem kurdischen Neujahr, die jahrelang verboten worden waren, sprangen auf einmal die von der Regierung ernannten Gouverneure gemeinsam mit den Kurden übers Feuer.

    Im Sommer letzten Jahres fuhr der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan nach Diyarbakir und sprach aus, was nie zuvor ein türkischer Regierungschef zu sagen gewagt hatte: Dass es in der Türkei ein Kurdenproblem gibt, und dass dieses Problem gelöst werden muss. Die Reaktionen waren verblüffend: Die Medien überschlugen sich, das Ausland verteilte gute Noten, die nationalistische Opposition von Links und Rechts schäumte, und die Militärs erhoben drohend den Zeigefinger. Doch unter den Kurden, den direkten Adressaten, löste die Rede weitgehend Achselzucken aus.

    "Jahrelang ist geleugnet worden, dass es so etwas wie ein Kurdenproblem gibt, und der Ministerpräsident hat als Erster eingeräumt, dass es existiert und dass dieses Problem auf demokratischem Wege gelöst werden muss. Das hat uns allen sehr gefallen. Aber seither ist einige Zeit vergangen, und leider ist nicht der kleinste Schritt getan worden","

    kritisiert Ilhan Diken, der Vizebürgermeister von Diyarbakir. Die Forderungen der Kurden lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: In solche, die Geld kosten, und solche, deren Preis politisch ist. Geld würde es kosten, alle vertriebenen Bauern zu entschädigen und die Dörfer mit Straßen, Strom, fließend Wasser, Schulen und Gesundheitszentren zu versehen, damit die Bauern aus den Städten wieder zurück aufs Land ziehen. Diese Forderung stellt Göc-Der, die Vertriebenvereinigung, auf.

    Zwar gibt es bereits ein Entschädigungsgesetz, doch bei der Umsetzung scheinen die Bauern nicht selten in den Fangnetzen der Bürokratie hängen zu bleiben. Wie viele der vertriebenen Familien aber von der Möglichkeit einer Rückkehr aufs Dorf Gebrauch machen würden, ist völlig offen. Die zur Zeit der Vertreibung aktiven Bauern werden langsam alt und wissen die Nähe von Krankenhäusern in den Städten zu schätzen, und die junge Generation, die in den Städten aufgewachsen ist, will größtenteils nicht auf dem Lande leben.
    Die 24-jährige Leyla Budak ist als junges Mädchen mit ihrer Familie aus einem Dorf geflohen. Wie viele andere Migranten fährt sie im Sommer gelegentlich aufs Dorf zurück und bearbeitet die Felder. Aber ihr Lebensmittelpunkt liegt in Diyarbakir.

    ""Meine Eltern sind krank, sie haben Herzprobleme. Jeden zweiten Tag muss einer von ihnen ins Krankenhaus. Auf dem Dorf ist das Leben schwer: Es gibt keine Gesundheitsstation, keine Schule, nichts. Ich würde heute in meinem Dorf nicht leben wollen."

    Wenn aber ein Großteil der Migranten in den Städten bleibt, müssen dort Infrastrukturprogramme aufgelegt werden, um die Lebensbedingungen zu verbessern und Unternehmen in die Region zu locken. Solche Programme fehlen bislang, was nicht nur, aber auch mit der schlechten finanziellen Situation des türkischen Staates zu tun hat. Mindestens genauso schwer wie das Ausbleiben finanzieller Unterstützung wiegt für die Kurden die Tatsache, dass ihre politischen Forderungen nicht erfüllt werden. Das wäre zum einen die Zulassung von Kurdisch als Amtssprache. Der Gebrauch der kurdischen Sprache ist zwar unter dem Druck der Europäischen Union zugelassen worden, aber noch immer streng reglementiert.

    Zu einer politischen Bereinigung der Vergangenheit gehört für die Kurden auch eine Generalamnestie für PKK-Kämpfer, damit die aus den Bergen und dem Nordirak wieder nach Hause zurückkehren können. Und um die politische Vertretung der Kurden im Nationalparlament zu gewährleisten, müsste die Barriere von zehn Prozent gesenkt werden, die seit mehr als zehn Jahren verhindert, dass die Kurdenpartei DTP ins Parlament einzieht, obwohl sie in den Kurdengebieten regelmäßig die absolute Stimmenmehrheit erhält.

    Doch mit diesen Forderungen stoßen die Kurden auf taube Ohren. Das hat mit dem Gegenwind zu tun, mit dem sich Ministerpräsident Tayyip Erdogan konfrontiert sieht. Sein Versuch im letzten Jahr, an der Kurdenfront zur Entspannung beizutragen, sollte ein Zeichen des guten Willens in Richtung Europäischer Union sein. Außenpolitisch nutzte ihm das nicht viel, denn die europäische Skepsis gegenüber der Türkei wächst weiter. Innenpolitisch geriet er dadurch aber immer mehr unter Beschuss. Massendemonstrationen aufgepeitschter Nationalisten machten deutlich, dass große Teile der türkischen Bevölkerung zu einer friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts nach wie vor nicht bereit sind.

    Dass vor allem das übermächtige Militär in der Kurdenfrage seine eigene Politik betreibt und von einer friedlichen Lösung des Konflikts nichts hält, das mussten sowohl die Regierung Erdogan als auch die Kurden November 2005 erneut konstatieren, als in dem kleinen Ort Semdinli, nahe der iranischen Grenze, am helllichten Tage eine Handgranate in den Buchladen eines ehemaligen PKK-Aktivisten geworfen wurde.

    Der Bombenleger entpuppte sich als ehemaliges PKK-Mitglied, das inzwischen mit der Gendarmerie kollaboriert. Die anderen Insassen des Fluchtautos waren Gendarmen. Ein Aufschrei ging durch die Türkei, als der Vorfall bekannt wurde, erinnerte er doch fatal an den Fall Susurluk, bei dem in den 90er Jahren durch einen Autounfall die Verquickung von Politikern, Mafia und so genannten Sicherheitskräften ans Tageslicht gekommen war.

    "Tiefer Staat" wird in der Türkei dieses Gemisch aus Politik, Militär und Kriminalität genannt, und der Vorfall in Semdinli überzeugte die Kurden davon, dass es mit diesem "tiefen Staat" noch lange nicht vorbei ist.

    "Wir sehen Semdinli als ein zweites Susurluk an. Mittlerweile geben selbst die Politiker zu, dass es jahrelang den tiefen Staat gegeben hat, die paramilitärische Konterguerilla, das geheime Militärnetz Gladio. Sie leugnen es nicht mehr. In Semdinli hat der 'tiefe Staat' seine Finger drin, und wir erwarten, dass das aufgeklärt wird,"

    so Ilhan Diken, der Vizebürgermeister. Ministerpräsident Erdogan forderte eine völlige Aufklärung der Ereignisse und kündigte an, man werde der Sache auf den Grund gehen, ganz gleich, was man bei den Ermittlungen zu Tage fördern werde.

    Ein knappes halbes Jahr später sieht es aber so aus, als ob die Regierung politisch nicht die Kraft habe, die Affäre aufzuklären. Der mit der Untersuchung des Falles befasste Staatsanwalt erhob im Mai Anklage, unter anderem gegen hohe Militärs: wegen Mitwisserschaft, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Amtsanmaßung.

    Das ging ans Eingemachte. Da wagte es ein Staatsanwalt erstmalig, offen auszusprechen, was in den Kurdengebieten ein offenes Geheimnis ist: Dass im Klima der Rechtlosigkeit und Gewalt in den kurdischen Grenzgebieten Seilschaften von Militärs und Mafia entstanden sind.

    Nach heftiger Kritik seitens der Militärführung wurde der mutige Staatsanwalt abgesetzt und aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Sein Nachfolger stellt, so schreibt die türkische linksliberale Tageszeitung Radikal, während des inzwischen laufenden Prozesses keine Fragen an die Angeklagten. Er hat offenbar die Lektion gelernt. Sedat Yurtdas ist Anwalt und Vizevorsitzender der Kurdenpartei DTP:

    "Es sieht so aus, als ob die Machtzentren der Türkei an einer Aufklärung dieser Dinge nicht interessiert wären. Aber das Demokratisierungsproblem der Türkei umfasst auch die Lösung Kurdenfrage. Sich für die Demokratie einzusetzen, bedeutet auch, sich für die Lösung der Kurdenfrage einzusetzen."

    Insgesamt 19 Bombenanschläge hat es im zweiten Halbjahr 2005 in der Region von Semdinli gegeben. Nicht nur unter den Kurden, sondern auch in Teilen der türkischen Öffentlichkeit wird befürchtet, dass durch diese Anschlagsserie die Region wieder destabilisiert und die Kurden zu gewalttätigen Reaktionen herausgefordert werden sollen, um auf diese Weise zu demonstrieren, dass sie nur die Sprache der Gewalt verstehen.

    Dass diese Versuche, den Normalisierungsprozess zu stoppen und wieder zum Ausnahmezustand zurückzukehren, zunehmend erfolgreich sind, hat allerdings auch damit zu tun, dass die PKK ihnen in die Hände spielt. Vor zwei Jahren hat sie ihren Waffenstillstand offiziell aufgekündigt, und seither liefert sie sich wieder Gefechte mit türkischen Soldaten und wirft Bomben. Anfang April setzten PKK-Anhänger in Istanbul einen vollbesetzten Bus in Brand, dabei starben drei Frauen. Auch wenn die offizielle Begründung anders lautet, ist zu vermuten, dass die Rückbesinnung auf die Waffen bei der PKK denselben Hintergrund hat wie bei den türkischen Militärs: die Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust.

    Den Preis bezahlt die Gesellschaft. Die ohnehin geringe Bereitschaft innerhalb der nichtkurdischen Bevölkerung, einen politischen Kompromiss mit den Kurden zu finden, sinkt auf den Nullpunkt, wenn aus der Kurdenregion ständig junge Rekruten in Särgen zurückkommen. Und der Unmut über die Kurden wird geschürt. Bei jedem militärischen Ehrenbegräbnis spielen Militär und Nationalisten auf der Klaviatur der Verteidigung des Vaterlandes gegen die vermeintlichen kurdischen Separatisten. Und das so virtuos, dass es im letzten Jahr zunehmend Übergriffe von Türken gegen Kurden gab – nur deshalb, weil es Kurden waren. Das ist neu und führt dazu, dass mittlerweile in der Türkei immer öfter das Gespenst eines ethnisch begründeten Bürgerkriegs an die Wand gemalt wird.

    Wenn es Konflikte gibt, dann weist jeder gerne der Gegenseite die Schuld zu. So auch in der Kurdenregion. Dort kritisiert man traditionell lieber das übermächtige Militär als die PKK. Zum einen, weil die PKK sich immerhin aus Kurden zusammensetzt und die politischen Forderungen eines Großteils der Kurden vertritt. Aber auch, weil die Kurdenguerilla vor Morden an Abweichlern nicht zurückschreckt. Dennoch werden die Aufforderungen an die PKK, die Gewalt zu beenden, lauter. Seyhmus Diken ist Autor zahlreicher politischer Bücher und Berater des Bürgermeisters von Diyarbakir:

    "Wir leben jetzt in einer Periode, in der man viel entspannter reden kann als früher. Aber es muss natürlich noch besser werden. Die Gewalt muss völlig aufhören. Gewalt darf nicht länger als etwas angesehen werden, auf das man notfalls zurückgreifen kann wie auf einen Ersatzreifen beim Auto."

    Im vergangenen Jahr veröffentlichten 150 türkische Intellektuelle einen Aufruf zur politischen Lösung des Kurdenkonflikts, und forderten beide Seiten auf, die Gewalthandlungen einzustellen. Der Aufruf wurde von zahlreichen Kurden unterschrieben, darunter auch von Seyhmus Diken, dem Berater des Bürgermeisters, und von Sedat Yurtdas, dem Vizepräsidenten der Kurdenpartei DTP.

    Doch so ganz glaubhaft erscheint die Verurteilung der Gewalt noch immer nicht. Als im März fünf vom türkischen Militär erschossene PKK-Kämpfer in Diyarbakir beigesetzt wurden, nahm auch der Bürgermeister der Stadt, Osman Baydemir, der ebenfalls der Kurdenpartei angehört, an dem Begräbnis teil.

    Ministerpräsident Erdogan scheint sich im Kurdenkonflikt nicht mehr exponieren zu wollen. Als er Diyarbakir in diesem Frühjahr einen Besuch abstattete, war keine Rede mehr von einer Lösung des Konflikts, stattdessen beschwor er die nationale Einheit. Nächstes Jahr wird der Staatspräsident gewählt, und Erdogan möchte sich die Chance, auch diesen letzten Schlüsselposten der Politik mit einem Mitglied seiner Partei zu besetzen, nicht durch einen Ruf als Kurdensympathisant gefährden.

    Von den traditionellen Akteuren, die das Trauerspiel "Der türkische Staat und der Kurdenkonflikt" aufführen, ist also zur Zeit wenig zu erwarten. Doch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern sich zunehmend.

    Die Verstädterung der kurdischen Gesellschaft und die hohe Arbeitslosigkeit in der Region haben dazu geführt, dass der Bildung inzwischen eine größere Bedeutung beigemessen wird. Viele Kinder ehemaliger Bauern besuchen jetzt die Universität. Und Uni-Absolventen gehen eher nicht zum Kämpfen in die Berge; sie versuchen, ihre Rechte auf anderen Wegen durchzusetzen. So auch in der Kurdenregion. In den vergangenen Jahren relativer Ruhe hat sich dort eine Zivilgesellschaft herausgebildet, deren tragende Säulen die jungen, gut ausgebildeten Migranten der zweiten Generation sind. Weltoffener als die Generation ihrer Eltern, erleichtern ihnen Internet einerseits und die Annäherung an Europa andererseits den Dialog, auch mit Türken.

    Die Zivilgesellschaft, sie hat verstanden, dass die Lösung des Kurdenkonflikts an ein Ende der Willkürmaßnahmen und die Einbeziehung der Bevölkerung in politische Entscheidungen gekoppelt ist. Die beiden Hauptkontrahenten, der türkische Staat und die PKK, müssen das wohl erst noch begreifen.