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Brexit-Abkommen
"Ein Kompromiss, der beiden Seiten etwas abverlangt hat"

Die EU-Staaten haben den Brexit-Vertrag angenommen, die Zustimmung des britischen Parlament gilt als unsicher. Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, warnte vor einer Ablehnung des ausgehandelten Kompromisses: Die Konsequenz wäre ein ungeregelter Austritt Großbritanniens, sagte Roth im Dlf.

Michael Roth im Gespräch mit Stefan Heinlein | 26.11.2018
    Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt (SPD)
    "Ich sehe hier nur Verlierer und keine Gewinner", sagte Michael Roth (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, mit Blick auf den Brexit (dpa / picture alliance / Geert Vanden Wijngaert)
    Stefan Heinlein: Nach 17 Monaten Verhandlungen, etlichen Krisen- und Sondergipfeln ging das Finale dann in Rekordzeit über die Bühne. Nach nur wenigen Stunden gaben die europäischen Staats- und Regierungschefs dem Brexit-Vertragswerk ihren Segen. Ein hartes Stück Arbeit ist geschafft, doch die Sektkorken knallten nicht, keine Triumphgefühle, zumindest öffentlich in Brüssel, denn ein No Deal, ein Scheitern des Brexit-Abkommens im britischen Unterhaus ist weiter nicht ausgeschlossen. Dann droht ein Chaos für alle Seiten.
    Am Telefon nun Michael Roth. Er ist Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt (SPD). Guten Morgen, Herr Roth!
    Michael Roth: Guten Morgen, Herr Heinlein.
    Heinlein: Herr Roth, bevor wir wie verabredet über den Brexit reden – gestern am späten Abend ein Vorfall im Schwarzen Meer. Die russische Marine hat offenbar mehrere ukrainische Schiffe beschossen und gekapert. Die Nachricht ist auch für Sie noch ganz frisch. Dennoch: Können Sie schon einschätzen, wie gefährlich wird diese Entwicklung möglicherweise?
    Roth: Das ist natürlich sehr gefährlich. Das Letzte, was wir brauchen, ist eine weitere Eskalation in den Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. Mir liegen jetzt zu dem konkreten Vorfall noch keine eigenen Erkenntnisse vor, aber klar ist, dass Russland auch in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht einen ungehinderten Zugang zu den ukrainischen Häfen im asowschen Meer sicherstellen muss. Dazu hat es sich verpflichtet. Wir müssen jetzt schauen, was genau vorgefallen ist, aber beide Seiten müssen jetzt deeskalieren und sollten nicht noch weiter an einer Spirale drehen, die am Ende zu ganz furchtbaren Konsequenzen führen könnte.
    Russland-Ukraine-Konflikt: "Es ist ja schon sehr eindeutig reagiert worden."
    Heinlein: Das Parlament in Kiew – das ist sicher, das ist ein Fakt – soll heute noch über die Verhängung des Kriegsrechts entscheiden. Ist das schon eine mögliche weitere Eskalationsstufe?
    Roth: Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es dabei um die Ausrufung des Verteidigungszustandes. Genauso ist ja auch schon der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angerufen worden, unter anderem auch von Russland. Ich hoffe, dass man sich jetzt zusammensetzt und dass man sich jeglicher Gewalt enthält und jegliche militärische Eskalation verhindert. Das scheint mir derzeit das Wichtigste zu sein. Das ist wie gesagt in einer sowieso schon fragilen Situation seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland ein weiterer Punkt, der besorgniserregend ist.
    Heinlein: Wie sollte die internationale Gemeinschaft reagieren, beziehungsweise hat Berlin irgendwelchen Einfluss auf die Konfliktparteien?
    Roth: Na ja. Es ist ja schon sehr eindeutig reagiert worden. Sowohl die Europäische Union hat zur Deeskalation aufgerufen. Die Nato hat sich entsprechend geäußert. Der UN-Sicherheitsrat wird sich damit befassen. Wenn ich eigene Erkenntnisse habe, könnte ich auch mehr sagen. Nur wie gesagt: Mir liegen erst mal nur die Agenturmeldungen vor.
    Brexit: "Es liegt noch ein sehr steiniger und langer Weg vor uns"
    Heinlein: Die Entwicklung der kommenden Stunden müssen wir abwarten. – Herr Roth, reden wir über den gestrigen Gipfel in Brüssel. Der Brexit-Deal ist unter Dach und Fach. War das gestern aus Ihrer Sicht ein guter Tag für die Europäische Union?
    Roth: Das war ein tief trauriger Tag. Sie sprechen ja mit jemandem, der den Brexit für eine ganz schreckliche Angelegenheit hält. Aber wir müssen nun akzeptieren, dass die Briten die EU verlassen wollen. Das ist eine Tragödie, die Shakespeare vermutlich nicht besser hätte schreiben können. Wir haben gestern eine formell wichtige Etappe erlangt. Das war eine schwere Zumutung für beide Seiten. Ein Kompromiss liegt auf dem Tisch, der sowohl der EU der 27 als auch dem Vereinigten Königreich einiges abverlangt hat. Aber es liegt noch ein sehr steiniger und langer Weg vor uns, vor allem auch vor den Briten, denn am Ende braucht die britische Premierministerin eine Mehrheit im britischen Parlament.
    Heinlein: Eine Tragödie, sagen Sie. Sin diplomatisches Kunststück, so hat es die Kanzlerin gestern formuliert. Wenn Sie das Ergebnis der Verhandlungen betrachten, Herr Roth, war das ein Sieg, eine Niederlage oder ein Remis für Brüssel in diesem Brexit-Finale?
    Roth: Ich sehe hier nur Verlierer und keine Gewinner. Auch die EU wird ohne das Vereinigte Königreich schlechter dastehen. Natürlich hat auch mich bisweilen Großbritannien genervt mit ihrer Rosinenpickerei und mit ihrem doch sehr kritischen und distanzierten Blick auf die EU, aber am Ende haben wir alle davon profitiert, dass Großbritannien Mitglied des Clubs war. Vor allem auch den britischen Einsatz für unsere liberalen freiheitlichen Werte, den habe ich immer sehr geschätzt, und Großbritannien hat auch eine große Expertise in Außen- und Sicherheitspolitik. Das dürfte uns jetzt erst einmal fehlen. Aber gegen diese doch sehr stark ideologisierte Debatte, die seit vielen, vielen Jahrzehnten in Großbritannien geführt wurde, konnten am Ende gute Argumente kaum noch überzeugen.
    "Das ist ein großes Pfund: Zusammenhalt der Europäischen Union"
    Heinlein: Ist das Positivste vielleicht an diesen Brexit-Verhandlungen, auch wenn Sie traurig sind, auch wenn Sie enttäuscht sind, dass die Europäische Union bei diesen Brexit-Verhandlungen dann tatsächlich funktioniert hat? Man hat geschlossen verhandelt und hat sich nicht auseinanderdividieren lassen von London.
    Roth: Ich habe ja nun wirklich an fast allen Sitzungen des Rates der Europaministerinnen und Europaminister teilgenommen. Wir haben ja nun die Verhandlungen mit begleitet, die maßgeblich in den Händen von Michel Barnier lagen, dem Chefunterhändler der Europäischen Kommission, und ich war von Anfang an doch sehr positiv überrascht darüber, dass wir als Team zusammengestanden haben. Das war überhaupt nicht vorhersehbar. Es gibt eine Reihe von Staaten, die haben auch ein sehr enges emotionales Verhältnis zu Großbritannien, und die haben auch Angst davor, ihren engsten Freund und engsten Partner in der EU zu verlieren.
    Dennoch ist es uns immer wieder gelungen, zusammen zu bleiben, und wir haben uns auch nicht auseinanderdividieren lassen, weder inhaltlich, noch strategisch. Das ist ein großes Pfund, Zusammenhalt der Europäischen Union. Das wird derzeit gebraucht. Ich hoffe nur, dass uns das auch jetzt in anderen wichtigen Themen gelingt, denn für mich bleibt ein sehr bitterer Nachgeschmack. Wir haben uns in den letzten Monaten so intensiv mit dem Brexit beschäftigt, einer Situation, die wir hoffentlich nie wieder in der Europäischen Union erleben werden, dass ein Mitglied den Club verlässt. Ich würde gerne meine Zeit, meine Kraft und Kreativität darin investieren, wie wir die Europäische Union besser machen können.
    Heinlein: Suchen wir weiter, Herr Roth, nach den positiven Seiten dieser Brexit-Geschichte. Sie haben es gesagt: Eine solche Situation wollen Sie nicht noch einmal erleben. Könnte dieser Brexit die schwierigen Verhandlungen, die schwierige Situation für London auch eine abschreckende Wirkung haben auf Länder wie vielleicht Polen oder Ungarn, die ja mit Brüssel fremdeln und ständig die EU kritisieren?
    Roth: Der Brexit war sicherlich ein Weckruf, ein Weckruf für alle. Auch ich bin nicht zufrieden mit der derzeitigen Situation der Europäischen Union. Aber eines ist doch auch durch diese sehr zähen und sehr schwierigen Verhandlungen deutlich geworden. Nichts wird besser, wenn man die Europäische Union verlässt. Im Gegenteil! Vieles wird noch schlechter werden. Was ist den Menschen in Großbritannien nicht alles versprochen worden? Paradiesische Zustände, Milliarden fließen in das britische Bildungssystem und in die britische Infrastruktur.
    Von diesen ganzen wagemutigen Behauptungen ist ja am Ende nichts mehr übrig geblieben. Aber es ging niemals um Abstrafung, sondern das ist ein ganz nüchterner Prozess gewesen. Die EU der 27 muss natürlich die Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger, auch ihrer Wirtschaft im Blick haben, und Großbritannien hat, zumindest Teile des britischen Establishments haben ihren Bürgerinnen und Bürgern etwas versprochen, was sie jetzt nicht einhalten können, und das führt natürlich zu großer Enttäuschung.
    "Wir wünschen uns eine möglichst enge Beziehung"
    Heinlein: Sie haben, Herr Roth, in Ihrer ersten Antwort ganz klar Ihre Skepsis artikuliert, ob Theresa May es schaffen wird, im Parlament eine Mehrheit für den Brexit-Vertrag zusammenzubekommen. Wie kann denn die EU jetzt noch die britische Premierministerin unterstützen, damit es eine Mehrheit gibt?
    Roth: Indem wir ganz klar sagen, etwas Besseres gibt es nicht. Die britische Premierministerin Theresa May hat das Bestmögliche erzielt und sie hat die britischen Interessen stark zu vertreten versucht, und da hat sie auch vieles erreicht. Das ist wie gesagt ein Kompromiss, der beiden Seiten etwas abverlangt hat. Aber wenn jemand glaubt, dass irgendetwas besser wird, wenn man diesen Vertrag ablehnt, der irrt. Wenn dieser Vertrag abgelehnt werden sollte, dann wird es zu einem völlig ungeregelten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU kommen, und das ist sowohl für uns als auch für Großbritannien die wirklich schlechteste Lösung aller, auf dem Tisch liegenden Möglichkeiten.
    Heinlein: No Deal, das heißt Chaos, und das ist das stärkste Argument von Theresa May?
    Roth: Ja, das ist auch unser starkes Argument. Das will ja wirklich niemand, denn das hätte ja auch bei uns zur Folge, dass die möglichst engen Beziehungen, die wir uns wünschen, nicht aufrechterhalten werden können, was ja den meisten gar nicht klar ist. Es wird sich ja erst einmal auf absehbare Zeit nichts ändern. Mindestens bis 2020 bleibt ja Großbritannien Teil der Europäischen Union, zumindest was die Regeln und die Gesetze anbelangt – mit einem entscheidenden Unterschied: Großbritannien stimmt nicht mehr mit, muss aber bezahlen.
    Das ist diese Übergangsphase, die wir brauchen, weil es noch sehr, sehr schwierig werden wird auszuverhandeln, wie das zukünftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien aussieht. Wir wünschen uns ja eine möglichst enge Beziehung über den Wirtschaftsbereich hinaus, auch in der Außen- und Sicherheitspolitik, beim Klimaschutz. Ich hoffe nur, dass uns das gelingt.
    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen der Europastaatsminister Michael Roth (SPD). Herr Roth, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin.
    Roth: Ich danke Ihnen, Herr Heinlein. Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.