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"Brexit"-Debatte
Camerons Reformbemühungen "haben keine politische Wirkung"

Gisela Stuart, Leiterin der britischen Kampagne zum EU-Austritt "Vote Leave", benennt im DLF "die offensichtliche Unfähigkeit" der Europäischen Union, "sich jemals den geänderten Umständen der Welt" anzupassen als eines der Hauptargumente für den "Brexit". Zudem kritisierte sie, dass Bürger und nationale Abgeordnete keinen Einfluss auf das Freihandelsabkommen TTIP hätten.

Gisela Stuart im Gespräch mit Jochen Spengler | 31.03.2016
    Die britische Labour-Abgeordnete Gisela Stuart stammt ursprünglich aus Bayern.
    Die britische Labour-Abgeordnete Gisela Stuart kritisiert insbesondere das Demokratiedefizit beim Freihandelsabkommen TTIP. (dpa / picture alliance / Jan Prerovsky)
    Die Zeiten der Erweiterung und Vertiefung der EU "mit einem gemeinsamen Endziel", wenn auch möglicherweise mit zwei Geschwindigkeiten, seien vorbei. Das sei aber in den Verhandlungen Großbritanniens mit der EU nicht zum Ausdruck gekommen. Was den Deutschen so oft auf die Nerven gehe, sei ja gerade die "ständige britische Extrawurst". Die Union werde erkennen müssen, dass das auch andere Länder so sehen.
    Kritik an Freiheihandelsabkommen TTIP
    Die Zugeständnisse an Großbritannien, die der britische Premierminister Cameron bei der EU herausgehandelt habe, seien zwar "schön zu haben, haben aber keine politische Wirkung", so Stuart, die in Deutschland geboren ist und Abgeordnete der britischen Labour-Partei ist.
    Sie kritisierte insbesondere das Demokratiedefizit beim Freihandelsabkommen TTIP. "Ich als Parlamentarier habe keinen Einfluss", sagte Stuart. Bestimmte Bereiche wie das Gesundheitswesen für das eigene Land auszuschließen, habe die britische Regierung nicht geschafft. Die Zuständigen für TTIP könne man nicht abwählen, weil sie nicht direkt zur Wahl stünden, so Stuart: "Für mich ist die Demokratie am wichtigsten. Man weiß, wer welche Entscheidungen trifft - und kann diejenigen auch loswerden."

    Das Interview in vollständiger Länge:
    Jochen Spengler: Am Telefon dort ist nun Gisela Stuart. Sie ist 60 Jahre jung, in Niederbayern geboren, lebt seit über 40 Jahren in England, dort höchst anerkannt als Parlamentsabgeordnete für die sozialdemokratische Labour-Partei und seit Neuestem ist sie die Leiterin in der "Vote Leave"-Kampagne, die die Briten dazu bringen möchte, im Juni für einen Austritt aus der EU zu stimmen. Guten Morgen, Frau Stuart!
    Gisela Stuart: Guten Morgen!
    Spengler: Was hat Ihnen die EU angetan, dass ausgerechnet Sie als gebürtige Deutsche die Briten aus Europa herausführen wollen?
    Stuart: Die offensichtliche Unfähigkeit, sich jemals den geänderten Umständen der Welt und der Europäischen Union selbst anzupassen, was für mich das Ausschlaggebende wäre und auch war in diesen Verhandlungen, dass man zurückguckt und sagt, die Zeiten, wo es sich ständig darum handelte, dass die Europäische Union sich erweitert und politisch vertieft, dass wir vielleicht zwei Geschwindigkeiten für die verschiedenen Mitgliedsstaaten hätten, aber das Endziel für uns alle dasselbe ist, die sind vorbei. Und was wir im Augenblick haben, ist eine – was auch den Deutschen so oft wirklich auf die Nerven geht, diese ständige britische Extrawurst. Man ist nicht im Euro, man ist nicht in Schengen, aber ich glaube, die Union muss anerkennen, dass sich auf lange Sicht das nicht nur auf die Briten beziehen wird. Da werden auch andere Länder, die in dieser Gruppe sein werden und sein müssen. Und deshalb muss man das anerkennen, und das hat man immer noch nicht gemacht.
    Spengler: Das heißt, was Herr Cameron in seinem heldenhaften Kampf in Brüssel erreicht hat, das reicht lange nicht?
    Stuart: Was er erreicht hat, ist, zum ersten Mal diese Sache über nationale Parlamente – das ist etwas, was ich vor 13 Jahren in Brüssel verhandelte, und jeder meinte, das wäre zwar schön zu haben, hat aber keine politische Wirkung. Diese drei Worte "ever closer union", wenn man die wirklich wegnimmt - es gibt keine einzige Entscheidung des Gerichtshofs, wo man nur auf diese Phrase hin eine Entscheidung traf. Und dieses Opt-out für den Euro, das ist ja nur eine Anerkennung, was wir sowieso schon haben. Auf lange Dauer ist das weder gut für Großbritannien noch für die Europäische Union.
    Spengler: Nur, Frau Stuart, in diesen unsicheren Zeiten - Wirtschaftsprobleme, Krieg, Terror, Flüchtlingskrise - müssten wir da in Europa eigentlich nicht mehr zusammenstehen statt auseinanderzugehen und dadurch auch noch mehr Unsicherheit zu schaffen?
    Stuart: Und das ist dasselbe Argument, das ich Jahr über Jahr über Jahr höre, wenn man sagt, man muss sich ändern, man muss sich anpassen, dann ist es nie die richtige Zeit dafür. Sie könnten dasselbe Argument anführen - jetzt gibt es keine Bundestagswahl, weil die Wirtschaft ist nicht in gutem Zustand, und wir haben eine Krise. Wissen Sie, wenn es jetzt nicht um die Volksbefragung gehen würde, ich würde nicht jetzt plötzlich die Labour-Partei verlassen und UKIP beitreten und auf den Straßen stehen und sagen, wir müssen hier raus. Für mich geht es darum, dass der britische Premierminister eine, was er nennt, einmal in einer Generation, der Bevölkerung die Möglichkeit gibt, eine Meinung abzugeben und eine Entscheidung zu treffen. Er hat sich das gewählt, er will, dass es jetzt passiert. Und ich bin nicht bereit, einmal in einer Generation Zustimmung zu etwas zu geben, das meiner Meinung nach weder gut für das Vereinigte Königreich noch gut für Europa ist.
    Spengler: Nun meinen die meisten Wirtschafts- und Industrieunternehmen, nicht nur die Banker in der City, dass ein Brexit sehr gefährlich ist und sehr zum Nachteil Großbritanniens. Ob das nun zu Recht ist oder nicht, aber wieso gehen Sie das Risiko überhaupt ein?
    Stuart: Das Risiko der Volksbefragung?
    "Vielleicht brauchen wir ein bisschen mehr Wettbewerb unter uns"
    Spengler: Nein, das Risiko, dafür zu werben, rauszugehen.
    Stuart: Ich lebe jetzt schon lange genug, um zu wissen, dass für die großen Firmen, für die wäre vielleicht eine Weltregierung am allerbesten, weil man will Sicherheit haben, Sicherheit nicht in dem Teil, dass es persönlich sicher ist, sondern man kann voraussehen, was als Nächstes passiert, Stabilität. Die Regeln sind alle dieselben - für die ist das das Beste. Ich bin aber ein Demokrat. Ich bin der Meinung, dass meine Rolle ist, der Volksmeinung Ausdruck zu geben. Demokratie, das ist nicht bürokratisch angenehm, und ich weiß auch, dasselbe Argument in den 70er-Jahren. Es ging immer um Jobs. Wissen Sie, Europa ist in den letzten Jahren nicht so gut gewesen, wenn es um Jobs geht und um Wirtschaftswachstum. Also, auch wenn wir das alles zusammen machen - vielleicht brauchen wir ein bisschen mehr Wettbewerb zwischen uns.
    Spengler: Sie würden aber doch bei einem Austritt die von ihnen beklagte Bürokratie sogar noch vergrößern, weil dann Großbritannien mit jedem einzelnen Land der Welt wieder selbst Handels- und Zollabkommen schließen müsste und weil die Hälfte der britischen Ausfuhren in den EU-Binnenmarkt geht, müssten sich die Briten ja auch künftig an die EU-Regeln halten, sogar wie Norwegen und die Schweiz Beiträge zum EU-Budget leisten, die fast so hoch sind wie bei einem normalen EU-Mitglied. Also, viele Praktiker sagen, Großbritannien würde die angestrebte Souveränität mit einem Austritt überhaupt nicht erreichen.
    Stuart: Für mich ist aber die Demokratie am wichtigsten. Für mich ist es am allerwichtigsten, dass ich weiß, wer welche Entscheidungen trifft und dann am Ende auch die Leute, die die Entscheidungen treffen, wieder loswerden kann. Im Augenblick ist bei uns eine ganz große Debatte über das, was wir hier TTIP nennen, ich weiß nicht, wie man das auf Deutsch nennt.
    Spengler: Sagen Sie noch mal, ich habe es akustisch nicht verstanden.
    Stuart: TTIP, transatlantic …
    Spengler: Das Freihandelsabkommen ist das.
    "Das sind demokratische Bedenken"
    Stuart: Ja, mit den Amerikanern. Und für uns ist es unwahrscheinlich wichtig, dass das Gesundheitswesen ausgeschlossen wird von diesen Verhandlungen. Die Franzosen haben es geschafft, dass die Filmindustrie davon ausgeschlossen wird. Unsere Regierung ist nicht bereit, das spezifisch auszuschließen, was für die Art und Weise, wie unser Gesundheitswesen funktioniert, gerade für Labour-Politiker sehr wichtig ist. Ich als Parlamentarier habe keinen Einfluss, das spielt sich alles auf Brüsseler Ebene ab, und meine Wähler können dann die Leute, die die Entscheidung getroffen haben, nicht abwählen, weil sie nicht direkt zur Wahl stehen. Das sind demokratische Bedenken, und das ist für mich wichtiger.
    Spengler: Und Sie sehen auch keine Chance, die EU zu reformieren, was sicher leichter wäre mit Großbritannien als ohne?
    Stuart: Theoretisch haben Sie vollkommen recht. Vor 13 Jahren war ich für 18 Monate in Brüssel, da ging es um den Verfassungskonvent, wo endlich mal die EU sich reformieren musste. Man wollte die 2010-Lisbon-Competitive-Agenda, all die Sachen. Nichts passiert, man redet und ändert sich nichts. Und dann kommt doch einmal der Punkt, wo man sagen muss: Jetzt nicht mehr, jetzt muss sich wirklich was ändern. Nicht nur darüber reden.
    Spengler: Frau Stuart, und dafür nehmen Sie sogar in Kauf, dass möglicherweise aus Großbritannien Little England wird, weil die europafreundlichen Schotten dann möglicherweise Großbritannien verlassen, um wieder in die EU zu kommen?
    Stuart: Das ist für mich unwahrscheinlich – ein roter Hering. Denn das letzte Mal, als wir eine Volksbefragung –
    Spengler: Ein roter Hering.
    Stuart: Red herring. Wie nennt man das auf Deutsch?
    Spengler: Das weiß ich nicht.
    Stuart: Es ist ein Argument, wenn man sich das genauer ansieht, das kann man nicht substanziieren. Wenn man sich die Volksbefragungen ansieht, gibt es eine ganz bestimmte Gruppe von Schotten, die zwar für die schottische Unabhängigkeit gestimmt haben, jetzt aber für einen Austritt stimmen werden. Nicola Sturgeon, die Führerin der SMP, ist eine Frau, die keine Risiken eingeht. Sie hat jetzt die letzte Volksbefragung verloren. Der Ölpreis ist unwahrscheinlich niedrig. In ihrer Politik zu Hause, ob es jetzt ums Gesundheitswesen oder um die Polizei oder um das Erziehungswesen geht, das läuft alles nicht sehr gut ab. Die würde das erstens nicht riskieren, und zweitens, in den Volksbefragungen zweifle ich das an, dass die Schotten – dass das eine Spaltung ist, dass die Schotten sich anders entscheiden werden als die Engländer.
    Spengler: Wir wissen es nicht. Wir werden es abwarten müssen. Danke schön! Das war Gisela Stuart, und wir haben inzwischen auch rausbekommen, was Red Herring ist, ein Ablenkungsmanöver ist das.
    Stuart: Ach, Ablenkungsmanöver. Ich werde mir das aufschreiben, und dann habe ich heute Morgen auch was gelernt.
    Spengler: Ich muss mir das aufschreiben, auch ich habe was gelernt. Frau Stuart, herzlichen Dank für das Gespräch!
    Stuart: Ihnen auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.