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Brexit
Ideen für eine kontinentale Partnerschaft

Wie lassen sich nach dem Brexit die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien gestalten? Etablierte Modelle funktionieren Experten zufolge kaum. Unter Beteiligung der Brüsseler Denkfabrik Bruegel entstand jetzt ein alternatives Konzept namens "Kontinentale Partnerschaft". Für beide Seiten gäbe es dabei Kröten zu schlucken.

Von Annette Riedel | 15.09.2016
    Die Fahne Großbritanniens und eine "ausgefranste" Europa-Fahne wehen nebeneinander im Hafen von Dover (GB), aufgenommen am 28.05.2016
    Mitreden - ja. Mitbestimmen - nein. Das wäre die "Kröte", die Großbritannien nach dem Bruegel-Modell zu schlucken hätte. (picture alliance / dpa-Zentralbild / Andreas Engelhardt)
    Es gibt mehrere Modelle, wie die Beziehungen zwischen der EU und einem Nicht-EU-Land gestaltet werden können. Das "Modell Aserbaidschan" – also ein Handelsvertrag nach den Regeln der Welthandelsorganisation. Das "Modell Schweiz", das im Kern aus diversen bilateralen Verträgen besteht. Oder aber – in Brüssel am häufigsten ventiliert - das "Modell Norwegen". Das wäre sozusagen die Fast-Mitgliedschaft, aber ohne Mitbestimmung. Es bedeutete die vollständige Übernahme des gesamten EU-Regelwerks für den fast uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt als Gegenleistung. Auch "Modell Norwegen" kann, sagt der Direktor der Denkfabrik Bruegel, mit Großbritannien nicht funktionieren.
    "Einfach weil Norwegen voll bei der Arbeitskräftemobilität mitmacht und alle Regeln 1:1 mehr oder weniger übernimmt von der Europäischen Union. Das kann man vielleicht mit einem kleinen Land machen wie Norwegen. Aber ein großes Land, das ja auch politisch ein Gewicht in der Welt hat und auch in Europa – da kann man nicht einen Mechanismus entwickeln, wo keinerlei Mitspracherecht entsteht."
    Europa der konzentrischen Kreise
    Und deshalb haben die fünf Autoren sich eine neuer Kooperationsform ausgedacht, den sie "Kontinentale Partnerschaft" nennen. Die Fünf sind, neben Guntram Wolff und André Sapir von Breugel, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, der Berater des französischen Präsidenten Jean Pisani-Ferry und der ehemalige Vize-Chef der britischen Notenbank, Paul Tucker. Im Kern sehen sie ein Europa der konzentrischen Kreise als Beziehungsmodell zwischen der EU und den Briten. Innerer Kreis: EU. Großbritannien bewegte sich auf dem äußeren Kreis. Die Regierungen der beiden Kreise träfen sich regelmäßig in einem neuen Format der "Continental Partnership".
    "Es gibt dann einen sogenannten "CP Rat" – das ist dann ziemlich vergleichbar mit dem, was wir auch jetzt schon sehen im Rat der Europäischen Union. Das wäre dann halt ein CP-Rat. Großbritannien hätte die Möglichkeit zu sagen, was es denkt. Also, wenn es einen Gesetzesvorschlag der Europäischen Kommission gibt, dann könnten sie sagen: Nein, das wollen wir nicht oder das sehen wir anders – aber sie hätten kein Stimmrecht."
    Mitreden – ja. Mitbestimmen - nein. Das wäre die "Kröte", die Großbritannien nach dem Bruegel-Modell zu schlucken hätte.
    "Die Letzt-Entscheidung muss bei der EU bleiben."
    Kein Stimmrecht für Großbritannien
    Für die EU andererseits gäbe es eine "Kröte", die viele als unverdaulich empfinden: Der Verzicht auf die Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Eine der Grundfreiheiten im EU-Binnenmarkt. Das Recht überall zu arbeiten, zu studieren, sich niederzulassen. Für viele darüber hinaus eine echte "heilige Kuh", die gegenüber London aufzugeben, mit Selbstaufgabe der EU nahezu gleichzusetzen wäre. Entsprechend sind erste Reaktionen aus dem Parlament. Zum Beispiel vom Vorsitzenden der CDU-CSU-Gruppe in der EVP-Fraktion, Herbert Reul.
    "Es gibt ganz interessante Elemente – viel interessante Elemente, von mir aus – in diesem Bruegel-Vorschlag. Nur die eine zentrale Frage – Arbeitnehmer-Freizügigkeit – die aufzugeben halte ich für nicht akzeptabel."
    Er verstehe dieses Argument, sagt Bruegel-Direktor, Guntram Wolff. Und doch gelte es im beiderseitigen Interesse pragmatisch an die Sache heranzugehen.
    "Ich persönlich denke, dass diese Arbeitnehmer-Freizügigkeit eine großartige Sache ist und dass es wirklich auch eine persönliche Freiheit ist, dass Menschen woanders hingehen und arbeiten können – das ist ja großartig und ich bin eigentlich stolz drauf. Aber wir haben eben diese politische Realität, dass gerade in England und auch in der Schweiz das Gefühl in er Bevölkerung anscheinend war, das ist zu viel und wir wollen nicht so viel und dann muss man dann auch irgendwie angehen das Thema, glaube ich und eine Lösung finden."
    Freizügigkeit in beide Richtungen
    Denkbar wäre, dass eine Art "Quote" vereinbart würde, nach der eine gewisse Freizügigkeit in beide Richtungen weiter gegeben wäre, die ja vor allem auch im Interesse der Wirtschaft wäre.
    Nach diesem Modell der "Kontinentalen Partnerschaft" ließen sich aus Sicht der Autoren des Konzepts perspektivisch auch die Beziehungen zur Schweiz und ebenso zur Türkei organisieren.
    "Es gibt, glaube ich, in der längeren Frist in der Tat die Möglichkeit, dass ein Land wie die Türkei da rein kommt. Ich denke nicht, dass das die Hauptdiskussion jetzt sein sollte, aber wir können uns das vorstellen, als Alternative zur EU-Mitgliedschaft."
    So käme man aus dem Dilemma heraus, in Verhandlungen für einen Beitritt festzustecken, den momentan keine Seite wirklich zu wollen scheint und gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit zu institutionalisieren.