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Brexit-Referendum
"EU-Mitgliedschaft muss immer Mehrwert haben"

In einer Woche stimmt Großbritannien über den Verbleib in der Europäischen Union ab. Es dürfe kein Rosinenpicken für ein Land geben, welches nicht mehr Mitglied der Union sei, sagte Detlef Seif (CDU), Obmann der Unionsfraktion im Europaausschuss im Bundestag. Im Deutschlandfunk betonte er, dass ansonsten die Europäische Union ihren Sinn verlieren würde.

Detlef Seif im Gespräch mit Christoph Heinemann | 16.06.2016
    CDU-Politiker und MdB Detlef Seif spricht im Bundestag am Mikrofon
    Detlef Seif: Die Sperrminorität von Ländern, die sorgfältig mit Haushalt und Wirtschaft umgegangen sind, wäre mit einem Austritt Großbritanniens nicht mehr da. (dpa/picture alliance/Michael Kappeler)
    Christoph Heinemann: Im Studio ist Detlef Seif (CDU), der Obmann der Unions-Fraktion im Europaausschuss des Deutschen Bundestages und dort Berichterstatter für Großbritannien. Guten Tag.
    Detlef Seif: Guten Tag, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Seif, Sie haben mir Erstaunliches gerade im Vorgespräch gesagt. Denn wenn die Briten, selbst wenn sie für den Brexit stimmten, heißt das zunächst einmal nichts. Wieso nicht?
    Seif: Entscheidend - das hat Frau Riedel auch gerade schon gesagt - ist diese formelle Mitteilung, die erfolgen muss von der britischen Regierung an den Europäischen Rat. Bevor diese Erklärung nicht in Brüssel eingegangen ist, ist das für die Europäische Union zunächst mal unbeachtlich. Das bedeutet, in Großbritannien müsste Cameron sich entscheiden, lege ich das sofort vor, frage ich das Parlament. Im Vorfeld hat er jedenfalls schon gesagt, wenn eines der beiden Parlamente, also House of Commons, House of Lords, oder ein zuständiger Ausschuss eine Debatte wünscht über die Zulässigkeit und das Verfahren, könnte er die Weitergabe dieser Erklärung zunächst zurückstellen.
    Heinemann: Kann man sich das vorstellen, dass er das dauerhaft macht, wenn sein Volk sich dagegen entschieden hat?
    Seif: Es ist jedenfalls schwierig, aber darin liegt natürlich schon eine innenpolitische Brisanz und es liegen auch verschiedene politische Möglichkeiten darin. Es wäre ja auch nicht ganz auszuschließen, dass dies Auswirkungen auf die Existenz der jetzt im Amt befindlichen Regierung in Großbritannien hat. Ich mag da keine Spekulationen anstellen. Nur das muss man wissen: Rechtlich verbindlich, politisch verbindlich für die Europäische Union ist es erst dann, wenn diese formelle Mitteilung auch tatsächlich beim Europäischen Rat eingegangen ist.
    Heinemann: Annette Riedel hat es gerade geschildert. Eine zentrale Frage ist ja, welchen Zugang würde ein Nicht-EU-Land Großbritannien zum EU-Binnenmarkt bekommen? Wie sehen Sie das?
    Seif: Das ist ja die spannende Frage, in welche Richtung gehen die Verhandlungen. Die Verhandlung ist ja zunächst mal ausgerichtet auf den Austritt, auf das Verlassen der Europäischen Union. Aber zugleich sollen - so sieht das der zuständige Artikel 50 des europäischen Vertrages vor - auch die Rahmenbedingungen festgelegt werden über die weitere Zusammenarbeit mit diesem Land. Das was zurzeit in den Umfragen knapp an knapp ist, ist im politischen Geschäft, wenn man sich die beiden Parlamente mal anschaut, relativ eindeutig. Da möchten viele Politiker doch eine dauerhafte Bindung, eine Verbindung zur Europäischen Union haben. Deshalb bin ich da eher optimistisch, dass wir da schon so etwas Ähnliches hinkriegen wie die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, eine ganz enge Verknüpfung. Aber natürlich darf das nicht zum Rosinenpicken für Großbritannien führen. Wir müssen bereit sein, mit diesem Land auch in Zukunft äußerst eng freundschaftlich zusammenzuarbeiten, aber das kann nicht zu Sonderbedingungen führen, die Großbritannien nicht bekommen hätte, wenn es Mitglied der Europäischen Union geblieben wäre.
    Heinemann: Eher Zuckerbrot als Peitsche?
    Seif: Beides!
    Heinemann: Beides. - Wirkte der Austritt der Briten ansteckend auf andere Länder? Womit rechnen Sie?
    Seif: Dammbruch in Europa
    Seif: Das ist sehr spekulativ, aber der Austritt kann in der Tat politisch äußerst frappierende Wirkungen haben. Einmal innerhalb des Vereinigten Königreichs selbst. Wir wissen, Schottland hatte mal ein Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg gebracht. Da könnte jetzt die Fortsetzung folgen. Aber wer sagt uns, dass Wales, dass Nordirland nicht dieselben Ansichten haben und diesen Weg gehen wollen, weil sie sich vielleicht enger mit der Europäischen Union verbunden fühlen, als wenn es dann zu einem Brexit geführt hat, weil es das Volk war, was mehrheitlich entschieden hat. Das ist der eine Punkt. Dann haben wir innerhalb Europas und des Bestandes natürlich den ersten Dammbruch. Bisher dachte man, das ist eine Europäische Union, Vertiefung. Wie tief die einzelnen Länder gehen, wie stark man vernetzt ist, ist eine andere Frage. Aber die Richtung weist darauf hin: eine starke Europäische Union, die zusammenarbeitet. Dann hätten wir den ersten Fall, wo ein Partner sagt, nein, wir verlassen dieses Bündnis.
    Heinemann: Folgen dann andere? Rechnen Sie damit?
    Seif: Es ist nicht auszuschließen. Wir müssen uns über eins auch Gedanken machen, was in der öffentlichen Diskussion nicht so die Rolle gespielt hat. Bei wichtigen Abstimmungen haben im Moment die Länder in der Europäischen Union, die auch zum Großteil eine ordoliberale Politik im Bereich der Wirtschaft vertreten, noch eine Sperrminorität. Wenn aber, sage ich mal, die sozialistische Denkweise sich in Gesamteuropa auch in entsprechenden Richtlinien, Verordnungen und der Politik niederschlägt, würde ich - ich sage es jetzt mal an der Stelle; ich hoffe, es entwickelt sich anders - auch die Lust an diesem Europa verlieren.
    Heinemann: Mit welcher Folge?
    Seif: Mit der Folge, dass wir über eine Neuordnung nachzudenken hätten im schlimmsten Falle. Man kann das gar nicht ausschließen, es ist nicht in Stein gewachsen, Europa. Und deshalb ist das auch so fragil, was zurzeit passiert. Das kann für mich, auch wenn es einige ausschließen, schon einen Dominoeffekt in Gang setzen, der sich auch auf die Bereitschaft der Mehrheit der Deutschen und der deutschen Politiker vielleicht auswirkt, nicht mehr Mitglied einer Europäischen Union zu bleiben, die die Bürger dann überhaupt nicht mehr mitnimmt, die gar nicht auf eine solide Wirtschafts-, Haushalts-, Finanzpolitik guckt. Und deshalb, das ist ganz spannend: Die Sperrminorität von Ländern, die in einer gewissen Weise sehr sorgfältig mit Haushalt und Wirtschaft umgegangen sind, wäre mit einem Austritt Großbritanniens nicht mehr da.
    Heinemann: Sollte man die Deutschen vielleicht einfach mal fragen, ein Referendum auch hier veranstalten?
    Seif: Europa funktioniert in Gänze gut
    Seif: Ich denke, es ist immer gut, die Menschen zu fragen. Aber wir haben ja bewusst - und da gibt es ja auch immer den Streit darüber, inwieweit bindet man das Volk in Volksabstimmungen, in Referenden mit ein - den Weg gewählt, dass hier kein Referendum zum Beitritt führte. Zurzeit haben wir auch gar nicht die rechtliche Grundlage, um das Volk zu fragen. Das Volk wäre dann zu fragen, wenn man innenpolitisch merkt - und das war ja auch in Großbritannien der Grund -, da können wir nicht mehr Dienst nach Vorschrift machen, hier müssen wir auch eine verbindliche Regelung - nicht rechtlich verbindlich, aber politisch - des Volkes herbeiführen. Da sind wir noch nicht, auch wenn viele europakritisch sind. Ich selbst bin im Amt auch oft europakritisch, da wo Europa nicht funktioniert. Aber ich weiß, Europa funktioniert in Gänze doch ganz gut, nicht nur als Friedensgemeinschaft, auch als politische Gemeinschaft, sondern wir stellen schon etwas dar auch im globalen System. Und das ist auch ganz wichtig, dass das in der Zukunft so bleibt.
    Heinemann: Ich möchte kurz zurückkommen auf das, was Sie eben gesagt haben. Sie sagen, möglichst gute Beziehungen auch mit einem Großbritannien, selbst wenn sie die EU verlassen würden. Wäre das nicht gerade noch mal Wasser auf die Mühlen derjenigen, die sowieso raus wollen oder mit diesem Gespenst operieren, dass man sagt, auch außerhalb der EU geht es uns doch gar nicht so schlecht? Sie wissen, in Frankreich gibt es bereits den Begriff des Frexit, gepuscht vom Front National.
    Seif: Die Frau Riedel hat vorhin das schöne Wort des Familienrechts genutzt: Trennung.
    Heinemann: Scheidung hat sie gesagt.
    Seif: Trennung, Scheidung. - Wenn Sie mit Druck einen Partner bei sich halten wollen, nach der Devise, dann geht's Dir ganz schlecht, dann sage ich Ihnen voraus, dann ist die Beziehung sowieso beendet. Das heißt, es ist immer schon mal wichtig, mit dem anderen Partner gut und eng zusammenzuarbeiten. Aber eins ist klar: Die Mitgliedschaft innerhalb der Europäischen Union muss immer noch einen eigenen Mehrwert für alle Mitglieder haben, als wenn man nicht Mitglied ist. Wenn das nicht so ist, dann brauchen wir in der Tat keine Europäische Union. Und deshalb habe ich auch gesagt, Extrawürstchen, Rosinenpicken, das darf es nicht geben. Großbritannien wird große Beiträge leisten müssen, wenn es in etwa dieselben Auswirkungen haben will im wirtschaftlichen Bereich, also Freizügigkeit des Binnenmarktes. Das darf nicht zu einem Nettogewinn in Großbritannien führen. Das kann ich jetzt schon vorhersagen, das wäre der falsche Weg.
    Heinemann: Kurz zum Schluss: Mit welchem Ergebnis rechnen Sie?
    Seif: Ich bin kein Prophet. Deshalb sage ich auch nicht, mit diesem oder jenem Ergebnis. Ich wünsche mir, ich wünsche mir, dass Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt.
    Heinemann: Detlef Seif, kein Prophet, sondern Obmann der Unions-Fraktion im Europaausschuss des Deutschen Bundestags. Danke schön für Ihren Besuch heute.
    Seif: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.