Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Brexit und die EU
"Die Briten sind jetzt am Zug"

EU-Kommissar Günther Oettinger findet, dass die britische Regierung jetzt entscheiden muss, wie und wann sie den Austritt aus der EU vorantreibt. Allerdings würden mit jedem Tag der Unklarheit Investoren aus der ganzen Welt abgeschreckt, sagte er im DLF. Dass der Brexit noch infrage gestellt wird, glaubt Oettinger nicht: "Wir sollten nicht träumen."

Günther Oettinger im Gespräch mit Christine Heuer | 27.06.2016
    Günther Oettinger, EU-Kommissar (CDU), aufgenommen am 23.06.2016 während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner" zum Thema "Zittern vor dem Brexit - was wird aus Europa?"
    Deutschland habe die wirtschaftliche Stärke, um Europa anzuführen, sagte EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) im Interview mit dem Deutschlandfunk. Dies sollte jedoch als Spielführer im europäischem Team passieren. (dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler)
    Nach Oettingers Ansicht ist es jetzt an der Regierungspartei von Premierminister David Cameron zu klären, mit wem sie die nächste Regierung bilde, ob sie auf dem Weg dahin oder erst danach ihr Austrittsgesuch schicken werde. Allerdings erwarte er, dass die Staats- und Regierungschefs der übrigen 27 EU-Länder morgen mit Cameron über die Risiken einer Verzögerung des Brexits sprechen werden:
    "Mit jedem Tag der Unklarheit werden Investoren aus der ganzen Welt abgeschreckt, in Großbritannien zu investieren oder auch an Europa zu glauben. Das heißt, diese Verzögerung schadet der wirtschaftlichen Entwicklung Europas allgemein und Großbritanniens im Besonderen."
    Die EU werde versuchen, konsequent und fair Austrittsverhandlungen zu führen. Oettinger sagte, er könne sich dann aber nicht vorstellen, dass die britische Regierung anschließend den Austritt infrage stelle. "Im Augenblick sollten wir nicht träumen", sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk.
    Ein Kerneuropa, das in einigen Fragen stärker voranschreite als andere Länder, kann sich Oettinger nicht vorstellen, weil es keine Gruppe von Ländern gebe, die in allen Fragen übereinstimmen würden. Änderungen der europäischen Verträge lehnt er ab, weil ein Vertrag in allen Mitgliedstaaten, in allen Parlamenten und zum Teil in Volksabstimmungen ratifiziert werden müssten. Das wäre ein gefundenes Fressen für Europakritiker wie Marine Le Pen in Frankreich und Geert Wilders in den Niederlanden. "Das kommt nicht infrage", sagte Oettinger. "Mir fielen viele Maßnahmen ein, wie Europa stärker werden könnte", ohne riskante Spielchen mit Vertragsänderungen. Viele Probleme seien national nicht mehr lösbar.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Die EU steht unter Schock nach dem Brexit, die Briten zunehmend offenbar auch. Drei Millionen Unterschriften waren am Wochenende schnell zusammen bei einer Online-Petition über die Wiederholung des Referendums. Und tatsächlich sind die ersten Veränderungen in Großbritannien zunächst einmal niederschmetternd. Schottland droht indirekt mit dem Austritt aus dem Vereinigten Königreich, um in der EU bleiben zu können. Bei den Tories ist ein Machtkampf ausgebrochen, bei Labour eine Art Selbstzerfleischung im Gange.
    Am Telefon bin ich jetzt mit Günther Oettinger verbunden, CDU-Politiker, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Guten Morgen, Herr Oettinger.
    Günther Oettinger: Guten Morgen.
    Heuer: Wir haben das gerade von Friedbert Meurer noch einmal eingeordnet bekommen. Wie sehen Sie das? Kann der Austritt Großbritanniens vielleicht doch noch verhindert werden?
    Oettinger: Die Briten sind jetzt am Zug, zu allererst die Regierungspartei, die ja eine Mehrheit im Unterhaus hat, und Neuwahlen stehen nicht an. Das heißt, es geht jetzt darum, dass die Tories klären, mit wem sie die nächste Regierung bilden und ob sie auf dem Weg dahin oder erst danach das Schreiben nach Artikel 50 an die Europäische Union schicken werden. Da können wir sie beraten, da können wir uns auch ärgern, aber das hilft nichts. Die Handlungsfähigkeit und der nächste Schritt müssen von London aus kommen.
    "Eine Verzögerung schadet der wirtschaftlichen Entwicklung Europas"
    Ich erwarte, dass der Europäische Rat morgen mit Herrn Cameron in aller Offenheit die Risiken einer Verzögerung bespricht. Darum geht es. Mit jedem Tag der Unklarheit werden Investoren der ganzen Welt abgeschreckt, in Großbritannien zu investieren oder auch an Europa zu glauben. Das heißt, diese Verzögerung schadet der wirtschaftlichen Entwicklung Europas allgemein und Großbritanniens im Besonderen.
    Heuer: Herr Oettinger, jetzt haben Sie meine Frage zwar nicht beantwortet. Die stelle ich nachher vielleicht noch mal. Aber das ist ja ein interessanter Punkt. Auch Sie finden, dass London jetzt schnell handeln muss. Die deutsche Bundeskanzlerin hat aber gestern deutlich gemacht, dass sie den Briten durchaus Zeit geben möchte. Schadet Merkel damit dem Prozess und der Europäischen Union?
    Oettinger: Nein. Die Kanzlerin versucht ja, hier zusammenzuhalten, was man überhaupt noch zusammenhalten kann. Cameron und seine Partei schaden, wenn sie bis Oktober brauchen, Europa und dem eigenen Land. Deswegen können wir ihn hier beraten, das wird sicherlich morgen gemacht werden. Was er dann daraus mitnimmt, wird man sehen müssen.
    Heuer: Die CDU spielt aber trotzdem auf Zeit. Kann es sein, dass wir am Ende so lange mit den Briten über ihren Austritt verhandeln, wie mit den Türken über ihren Beitritt und es wird eigentlich nichts Substanzielles geschehen?
    Oettinger: Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass das Referendum eine große Autorität hat, so sehr man sich darüber ärgert. Ich ärgere mich gewaltig. Und so sehr es ein Schaden für Großbritannien ist, es ist nun mal das gegebene Faktum. Deswegen werden unsere Dienste bereit sein, konsequent aber fair die Scheidungsverhandlungen zu führen und ein Austrittspaket vorzubereiten.
    "Wir sollten den Realitäten in die Augen sehen"
    Ich kann mir nicht vorstellen, dass die britische Regierung das dann infrage stellt. Wenn es so wäre, dann wäre es ein Wunder, dann wäre es großartig. Aber im Augenblick sollten wir nicht träumen, sondern sollten den Realitäten, die seit letzten Donnerstag gegeben sind, in die Augen sehen.
    Heuer: Wir haben eine Diskussion in Deutschland und in Europa. Die SPD zum Beispiel möchte jetzt eine Neuordnung der EU, oder möchte wenigstens, dass darüber nachgedacht wird. Eine flexible Union ist angedacht. Die französischen Sozialisten tragen diesen Vorstoß mit. Es geht um Kerneuropa. Die CDU lehnt diese Diskussion aber ab. Sie auch?
    Oettinger: Es gibt ja nicht das Kerneuropa. Wir sind mit den Balten einig, wenn es um Haushaltskonsolidierung geht, mit den Franzosen einig, wenn es um Außenpolitik geht. Das heißt, es wird gar nicht so leicht sein, die zehn, zwölf, fünfzehn Länder, die der Kern in allen Fragen wären, herauszuarbeiten. Nein, wir sollten erstens nüchtern sein und sagen, eine Vertragsänderung zum jetzigen Zeitpunkt wäre sehr riskant, aber aus dem, was wir …
    Heuer: Warum?
    Oettinger: Weil ein Vertrag in allen 28 Ländern in alle Parlamente, zum Teil in Volksentscheide gehen müsste. Das wäre ein gefundenes Fressen für Le Pen und für Wilders und kommt nicht infrage. Deswegen müssen wir aus dem Vertrag mehr machen. Ich sage ein Beispiel: Es wäre den Mitgliedsstaaten möglich, uns morgen 5.000 Stellen zu bewilligen für eine wirksame Schutzmaßnahme der Außengrenzen. Frontex könnte mit 5.000 Leuten die Grenzen schützen. Da bräuchten wir Geld oder Abordnung von Mitarbeitern. Das wäre den Mitgliedsstaaten möglich.
    Oder ein anderes Beispiel: Wir könnten unsere Außenpolitik viel mehr bündeln, indem der Auswärtige Rat noch öfters tagt und die Außenminister sich dort einbringen und nicht mehr auf eigene Tour unterwegs sind. Mir fielen viele Maßnahmen ein, wie Europa stärker werden könnte, wie man dort, wo Europa gemeinsam und nur gemeinsam Autorität hätte, diese Entwicklung einleiten kann, ohne riskante Spielchen mit Vertragsänderungen zu versuchen.
    "Nationale Egoismen und billige Touren gehen jetzt nicht mehr"
    Heuer: Herr Oettinger, ja! Aber darüber redet die Union seit Monaten, über viele wichtige Themen, die auch den Bürgern auf den Nägeln brennen, und sie können sich aber nicht einigen. Zeigt das nicht, dass die EU eigentlich in sich tatsächlich verbraucht ist?
    Oettinger: Wir sind in einigen Fragen zerstritten. Aber die Lage ist nach dem Referendum so ernst, dass jetzt nationale Egoismen und billige Touren nicht mehr gehen. Und ich glaube, dies müsste die entscheidende Botschaft sein, die die Regierungschefs morgen und übermorgen in Brüssel aussenden. Wir haben erkannt, dass wir uns viel stärker als bisher gemeinsam nach vorne begeben müssen, einigen müssen, und dass nicht mehr von Ungarn bis Holland, von Polen bis Portugal eigene Touren erlaubt sein sollten.
    Heuer: Und Sie haben den Eindruck, dass das tatsächlich in allen Hauptstädten angekommen ist?
    Oettinger: Ich glaube, ja, weil letztendlich trotzdem alle wissen, dass ihre Probleme national in vielen Fragen nicht mehr lösbar sind, sondern dass von der wirtschaftlichen Entwicklung, von der Wettbewerbsfähigkeit, von der Infrastruktur bis zur Sicherheits- und Außenpolitik, von der Flüchtlingspolitik bis zu Fragen des Asylrechts Europa gemeinsam stark ist und deswegen jeder Einzelne seine egoistischen Interessen etwas zurückstellen und gemeinsame Interessen formulieren muss.
    "Deutschland kann im europäischen Team als Spielführer agieren"
    Heuer: Sie schimpfen da jetzt ein bisschen auf die Nationalstaaten. Welchen Anteil am europäischen Desaster trägt denn Deutschland?
    Oettinger: Deutschland hat natürlich mit zwei, drei Maßnahmen ein bisschen eigenwillig gehandelt, ich schließe da auch die Energiewende ein, und so die Nachbarn nicht gerade mitgenommen oder gar überzeugt. Aber umgekehrt: Deutschland hat die wirtschaftliche Stärke, um Europa anzuführen, und ich glaube, die Erwartung ist an alle aus der deutschen Regierung, dass man seine Stärken einbringt und im europäischen Team als ein Spielführer agiert, aber im europäischen Team.
    Heuer: Ein bisschen nachbessern könnte Berlin schon, wenn ich Sie richtig verstehe?
    Oettinger: Ja, das glaube ich.
    Heuer: Die SPD will mehr soziale Gerechtigkeit in der EU. Das ist auch kein neues Thema, aber es wird jetzt mit Wucht wieder in die Debatte eingebracht. Die CDU geht da nicht mit. Aber wenn Sie immer so weiterwursteln und zum Beispiel die jungen Arbeitslosen in Spanien alleine lassen, dann müssen wir uns, glaube ich, alle nicht wundern, dass die Bürger gegen Europa eingestellt sind. Oder sind Sie da beweglich und sagen, ja doch, da muss schon was gehen im Sinne der SPD?
    Oettinger: Spanien ist schon auf halbem Wege. Wenn Sie ein Land in die Krise bringen, wie es in Spanien 2010 gewesen war, dann geht das nicht in drei Jahren, dann dauert das zehn Jahre, das dauert ein Jahrzehnt. Die deutsche Agenda-Politik, von Gerhard Schröder 2003 begonnen, hat im Jahre 2005 noch keine Früchte gezeigt, deswegen wurde er auch nicht wiedergewählt, aber ist heute der tragende Grund für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit.
    Das heißt, ich glaube, wir müssen die Menschen überzeugen, auch in Spanien, dass es Zeit dauert und dass man nicht auf halbem Wege stehen bleiben sollte oder umkehren sollte. Und umgekehrt: Wir könnten auch europäisch für junge Arbeitslose mehr tun. Wenn uns die Mitgliedsstaaten Geld geben, könnten wir Berufsschulen fördern in Spanien, könnten wir mit deutschen Unternehmen in Spanien die duale Ausbildung forcieren. Dafür wären Möglichkeiten da, die Kommission wäre dazu bereit, aber das Geld müsste von den Mitgliedsstaaten kommen.
    "Wir können doch nicht wieder die Zukunft mit immer neuen Schulden finanzieren"
    Heuer: Aber unterm Strich kein Kurswechsel, sagen Sie heute Morgen, Herr Oettinger, und nicht sich jetzt auf die Fahnen schreiben für die gesamte EU mehr soziale Gerechtigkeit, also mehr Geld auch ausgeben für die Menschen?
    Oettinger: Die Haushaltskonsolidierung ist ja kein Selbstzweck. Die führt dazu, dass man die Handlungsfähigkeit wiedergewinnt, dass man danach wieder investieren kann.
    Heuer: Herr Oettinger! Aber genau das bringt die Menschen ja gegen Europa auf. Genau das!
    Oettinger: Ja, aber das ist leider nach Adam Riese eine Logik. Wir können doch nicht wieder die Zukunft mit immer neuen Schulden finanzieren. Wir liegen jetzt bei 100 Prozent unseres europäischen Sozialprodukts mit den Gesamtschulden. 60 wären als Höchstgrenze erlaubt. Das heißt, zu glauben, wir könnten mit weiteren Schulden die Fragen lösen, dann hätten wir ja in der Vergangenheit Vollbeschäftigung haben müssen, denn wir haben ja in der Vergangenheit immer Schulden gemacht, gerade in den Ländern wie Italien, wie Griechenland, wie Spanien und Portugal.
    Wir müssen Geduld haben und müssen den Menschen aufzeigen, Irland hat es geschafft, andere schaffen es. Ich hoffe, die Portugiesen schaffen es, und dieser Kurs kann Vorbild für alle Länder sein. Dann kann auch wieder Beschäftigung und Investition in mehr Arbeitsplätze erfolgen.
    Heuer: Herr Oettinger, ganz kurz zum Schluss. Vielleicht hat ja der Brexit doch etwas Gutes. Wenn ich das richtig verstehe, dann ist Englisch als Gemeinschaftssprache eigentlich so gut wie erledigt. Freut Sie persönlich das?
    Oettinger: Nein. Die Iren sind ja englischsprachig und bleiben drin. Und die Schotten kommen vielleicht rein. Damit haben wir weiter eine Reihe von Mitgliedsstaaten, die Englisch sprechen, und Englisch ist nun mal die Weltsprache, die wir alle akzeptieren.
    Heuer: Günther Oettinger (CDU), EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Herr Oettinger, haben Sie Dank für das Gespräch.
    Oettinger: Gerne! Einen guten Tag.
    Heuer: Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.