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Brexit-Verhandlungen
"Da ist kein Ausweg, kein Licht"

Der britische Politologe Anthony Glees ist skeptisch, ob noch ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU zustande kommt. Für Premier Boris Johnson könnte ein "No Deal" besser sein als ein schlechter Deal, sagte Glees im Dlf. Das sei irrsinnig - für Brexit-Gegner wie Brexit-Befürworter.

Anthony Glees im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 14.12.2020
Boris Johnson und Ursula von der Leyen in Brüssel. Sie stehen vor Fahnen der Europäischen Union und Großbritanniens. Beide tragen Masken. Sie sehen sich an, von der Leyen macht eine einladende Geste.
Die Frist ist abgelaufen - aber der britische Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wollen weiter über einen Deal sprechen (pool PA)
Mitte der Woche hatten sich Großbritannniens Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch einmal persönlich getroffen, um den festgefahrenen Post-Brexit-Gesprächen doch noch einen neuen Impuls zu geben. Aber eine Annäherung ist nicht gelungen, weshalb auch die geplatzte Deadline für eine Einigung am Sonntag (13.12.2020) nicht wirklich überraschend kam. "Es ist nicht nur kein Deal da, sondern für die Verbleiber ist es ein Affentheater geworden", sagte Anthony Glees, Politikwissenschaftler an der Buckingham University, im Deutschlandfunk. Die britische Regierung habe derweil bereits angekündigt, dass nach dem 1. Januar für die nächsten drei Monate effektiv kein frisches Gemüse oder Obst aus der EU nach Großbritannien reinkommen würde.
Anthony Glees
Anthony Glees, Politikwissenschaftler (June Costard)
Jörg Münchenberg: Herr Glees, im Deutschen sagt man ja, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Warum funktioniert das nicht bei diesen britisch-europäischen Dauerverhandlungen?
Anthony Glees: Die Frage ist sehr gut, sehr berechtigt, und wie man darauf richtig antworten soll, das ist nicht einfach. Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Münchenberg: In Großbritannien ist es wirklich kaum mehr auszuhalten. Wir sind völlig durchgedreht, und ich glaube, das ist nicht nur für die Leute wahr, die in der EU verbleiben wollten, sondern auch für die Brexiters. Wir wissen, die Meinungen haben sich eigentlich nicht geändert. Ein paar Brexiters sagen jetzt nach Meinungsumfragen, sie würden jetzt anders, für ein Verbleiben gestimmt haben. Aber eigentlich sind die Positionen sehr, sehr hart, aber auf beiden Seiten, auf beiden Seiten völlig durchgedreht. Gerade gestern Morgen haben wir von der Regierung gehört, dass nach dem 1. Januar für die nächsten drei Monate effektiv kein frisches Gemüse oder Obst aus der EU nach Großbritannien reinkommen würde, Farmer hätten große Stauungen und Grenzkontrollen. Das man durchgedreht ist, muss man doch verstehen können.
Die Flaggen Großbritannien und der Europäischen Union wehen im Wind.
Die Knackpunkte der Brexit-Verhandlungen
Kurz vor Ende der Übergangsfrist haben die EU und Großbritannien weiter keine Einigung über eine Handelsabkommen erzielt, das Zölle und Handelshemmnisse abwenden könnte. Die Streitpunkte sind seit Monaten dieselben. Ein Überblick.
"Urrsinnig für Brexiteers und Remainers"
Münchenberg: Aber, Herr Glees, wenn Sie sagen, die Regierung kündigt so was an, drei Monate lang kein frisches Gemüse, gibt es da keinen öffentlichen Aufschrei?
Glees: Das ist das sehr Seltsame, das schwierig zu erklären ist. Ich meine, man muss immer wieder betonen – und auch die letzten Meinungsumfragen von gestern zeigen das sehr, sehr deutlich: Eine große Mehrzahl in Schottland, über 60 Prozent, eine große Mehrzahl in Nordirland, über 60 Prozent, sind der Meinung, dass der Brexit eine Fehlpolitik ersten Ranges ist. Aber in Großbritannien als Ganzes sagen immer noch 52 Prozent, der Brexit gebe uns eine bessere Zukunft, aber 38 Prozent sind sehr, sehr pessimistisch und sagen, es wird eine ganz miese Zukunft. Wie man dies irgendwie auf einen Nenner bringen soll, das ist unverständlich. Da ist kein Ausweg, kein Licht. Und man darf auch nicht vergessen: Vor einem Jahr, genau vor einem Jahr hat Boris Johnson einen großen Wahlsieg errungen, aber mit der Parole, er würde mit einem tafelfertigen Brexit an das britische Volk kommen. Es sei alles tafelfertig, hat er behauptet. Jetzt sieht es so aus, Sie haben das völlig richtig im Bericht gesagt, Johnson sagt immer, man soll die nächste Meile gehen, aber es sind große, große Probleme, wo wir nicht in Übereinstimmung stehen. Und neuerdings ist nicht nur kein Deal da, sondern für die Verbleiber ist es ein Affentheater geworden, und nicht nur ein Affentheater, sondern ein Affentheater, wo unsere Regierung sagt, sie werde auf die französische Fischerei letzten Endes mit Gewehren schießen. Was soll das Ganze! Das ist doch irrsinnig für beide Seiten, für Brexiters und Remainers.
"No-Deal besser als ein schlechter Deal"
Münchenberg: Herr Glees, lassen Sie mich da kurz einhaken. Sie haben den Premier ja schon angesprochen. Der hat ja eigentlich eine satte Mehrheit im Parlament. Kann er da nicht eigentlich den Widerstand der Hardliner in den eigenen Reihen ignorieren?
Glees: Überhaupt nicht. Boris Johnsons Position beruht auf der Einstimmung von ganz harten Brexiters, der sogenannten European Research Group, der europäischen Forschungsgruppe. Was die genau forschen, ist vielen unklar, aber so nennen sie sich. Ohne diese Leute, vielleicht 100 Abgeordnete, Tory-Abgeordnete, kann er nicht Premierminister bleiben. Und für einen Glücksritter wie Johnson ist die Erwägung immer noch: Wenn er mit No-Deal ankommt, dann sind diese Gesellen glücklich. Dann ist seine Position für die nächsten Jahre sicher. Wenn er aber mit einem Deal ankommt, auch wenn es ein schlechter Deal ist, gibt es immerhin die Hoffnung, in den kommenden Jahren könnte es ein besserer Deal werden. Dann sind die Gesellen unzufrieden und suchen dann jemand, mit dem sie Johnson ersetzen können. Gerade weil er Glücksritter ist, sieht man die Anziehungskraft mit einem No-Deal. Es klingt völlig verrückt, dass No-Deal für Johnson besser sein könnte als ein dünner Deal, wo es in den kommenden Jahren zu großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten kommt. Sechs Prozent, vier Prozent weniger Einkommen für Großbritannien. Aber so sind die Sachen, so liegen die Sachen heute.
"Kaum ein Wort von der Opposition zum Brexit-Thema"
Münchenberg: Herr Glees, lassen Sie uns auch mal auf die Opposition schauen. Labour hat sich eigentlich immer damit schwergetan, eine klare Position zum Brexit zu finden. Welche Rolle spielen sie, oder spielen sie überhaupt gerade eine Rolle in der Debatte um diese Post-Brexit-Gespräche?
Glees: Da ist Ihre Frage auch ausgezeichnet und berechtigt. Wir haben in Großbritannien ein System entwickelt, wo wir eine Regierung haben und eine Opposition, her majesty’s Opposition. Aber von der Opposition hören wir zum Brexit-Thema kaum ein Wort. Der Labour-Führer, der neue Labour-Führer, Sir Keir Starmer, hat keine große Rede zum Volk gehalten. Er ist wahrscheinlich verdächtigt, Covid zu haben, zurzeit sowieso nicht im Unterhaus da. Aber man versucht, eine Oppositionsstimme zu hören, außerhalb der Tory-Partei, wo es ja viele Oppositionsstimmen gibt, aber von Labour hört man eigentlich nichts, weil die Angst haben, weil diese 42 Prozent eine bessere Zukunft vom Brexit erwarten, und in diesen 42 Prozent sind gerade diese Leute, diese Sitze, die Labour vor einem Jahr gehalten hat, aber durch Jeremy Corbyn verloren wurden.
"Haben eine Regierung, die keine Ahnung hat"
Münchenberg: Herr Glees, zum Schluss mit der Bitte um eine kurze Antwort. Ihre Einschätzung, der Blick in die Glaskugel. Ist das am Ende alles nur Theaterdonner? Das heißt, wir bekommen ein Handelsabkommen? Oder stehen am Ende beide Seiten ohne Vertrag da?
Glees: Ich persönlich bin Pessimist und ich glaube, wir haben eine Regierung, die keine Ahnung hat. Die hat keine Ahnung vor einem Jahr gehabt, wie man eigentlich einen Deal mit der Europäischen Union schließt. Nein, die hat immer noch keine Ahnung. Aber was dem britischen Volk, Brexiter oder Verbleiber, jetzt zukommen wird, wenn es keinen Deal gibt, das kann die Landschaft dann wiederum in den nächsten Jahren völlig verändern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.