Freitag, 19. April 2024

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Brexit-Verhandlungen
"Johnson ist ein Spaßvogel, der Poker mit Großbritannien spielt"

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson will Berichten zufolge das bereits gültige Austrittsabkommen mit der EU nochmal aufschnüren. Diese Politik Johnsons sei "höchst gefährlich", sagte der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees im Dlf. Vor allem für die britische Wirtschaft.

Anthony Glees im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 08.09.2020
 Minister Boris Johnson  verlässt Downing Street No. 10
"Er muss für die Leute versuchen, hart wie Eisen zu sein" - Anthony Glees über Boris Johnson (Imago/ Parsons Media)
Großbritannien ist im Januar aus der EU ausgetreten. Bis Jahresende gilt aber noch eine Übergangsphase. Gelingt keine Einigung zwischen beiden Partnern über die Handelsbeziehungen ab dem kommenden Jahr, droht der "No Deal" und damit Zölle und andere wirtschaftliche Probleme. Doch vier Monate vor dem endgültigen Ende der britischen EU-Mitgliedschaft eskaliert der Streit zwischen Brüssel und London über die künftigen Beziehungen. Unmittelbar vor der neuen Gesprächsrunde heute hatte der britische Premierminister Boris Johnson den Druck erhöht, indem er eine Frist zur Einigung bis zum 15. Oktober nannte. Irritiert zeigte man sich in Brüssel über Berichte, die Regierung in London wolle das bereits gültige Austrittsabkommen wieder aufschnüren. Konkret geht es um die Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. Nach Informationen der Zeitung "Telegraph" hält Johnson das Abkommen für widersprüchlich und juristisch unklar. So sei es möglich, dass Nordirland vom restlichen Vereinigten Königreich isoliert werden könnte. Dies sei beim Abschluss im vergangenen Jahr noch nicht absehbar gewesen. Der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees hält Johnsons Verhalten für "unnormal" und bescheinigt dem EU-Chefunterhändler Michel Barnier, sich diplomatisch zu benehmen gegenüber dem "blöden Geschrei aus London".
Tobias Armbrüster: Herr Glees, können Sie uns das erklären? Was geht da gerade vor im Kopf von Boris Johnson?
Anthony Glees: Wenn ich das nur wüsste! Ich kann nur eines sagen: Boris Johnson weiß selber nicht, was in seinem Kopf steckt. Das ist ein Witzbold, ein Spaßvogel, der Poker mit Großbritannien spielt. Auf der einen Seite sagt er, was angeboten ist, ist ungenügend, und er möchte den Vertrag zurücknehmen. Auf der anderen Seite ist der Vertrag sein eigener Vertrag. Mit dem Vertrag hat er die Wahlen im Dezember letzten Jahres gewonnen. Ein Vertrag, der für den Ofen fertig sei, den brauchte man nur in den Ofen zu stellen, dann sei alles fertig.
Er weiß selber nicht, was er will, denn auf der einen Seite möchte er natürlich nicht Arbeitslosigkeit, keine Pharma, all die Sachen, die ein harter Brexit hervorbringen wird. Auf der anderen Seite muss er für seine eigene Partei im Unterhaus dastehen als der Mann, der Brüssel besiegen kann.
200708 -- LONDON, July 8, 2020 Xinhua -- British Prime Minister Boris Johnson leaves 10 Downing Street for Prime Minister s Questions at the House of Commons in London, Britain, on July 8, 2020. The British government on Wednesday set out a package of fresh measures to support jobs and boost economy as part of a comprehensive plan to secure the country s recovery from the coronavirus pandemic. Photo by Tim Ireland/Xinhua BRITAIN-LONDON-COVID-19-MEASURES-ECONOMY-RECOVERY PUBLICATIONxNOTxINxCHN
Boris Johnson - die Euphorie ist verflogen
Vor einem Jahr wählten die britischen Tories Boris Johnson zum Parteichef. Der neue konservative Regierungschef zog seinen Brexit-Kurs durch. Der zwischenzeitlich selbst am Coronavirus erkrankte Johnson spaltet das Land.
"Kein überragender Handelsvertrag zwischen Australien und EU"
Armbrüster: Herr Glees, Sie haben es schon angesprochen. Dieses Abkommen, über das wir ja auch in den letzten Tagen immer viel geredet haben, dieses Abkommen über Nordirland, das Boris Johnson tatsächlich ja im letzten Jahr unter großem Getöse mit der EU wieder aufgeschnürt und neu verhandelt hat. Jetzt, obwohl er es seine eigene Handschrift trägt, will er es wieder aufschnüren, und viele in der EU sagen, er will die EU auch hintergehen, er treibt da ein doppeltes Spiel. Was genau treibt ihn da an?
Glees: Ich glaube, in seinem Inneren weiß er, dass er durch seine harte Linie die Gefahr unternimmt, dass Großbritannien wirklich mit "No Deal" am 31. Dezember dieses Jahres aus allen Verbindungen mit der EU rückt. Er sagt, er muss das sagen, das wäre so wie ein Handelsvertrag mit Australien, und er glaubt, viele in Großbritannien meinen, das sei ein gutes Ding. Australien, das ist sehr gut, das ist weiß, das gehörte früher dem britischen Weltreich.
Natürlich wissen alle, die ein bisschen mehr verstehen: Es gibt keinen überragenden Handelsvertrag zwischen Australien und der Europäischen Gemeinschaft. Das, was er sagt, es gäbe eine wunderbare Zukunft, besteht gar nicht. Er weiß das! Er ist nicht dumm, aber er ist blöd. Er muss versuchen, für die Leute, die für ihn im Dezember letzten Jahres gewählt haben, das zu tun, was er versprochen hat, hart wie Eisen zu sein. Auf der anderen Seite kann er die Leute nicht aus ihren Arbeitsstellen herauswerfen, besonders nach COVID, nicht genug zu essen, nicht genug Pharma anbieten und Grenzen, wo kein Verkehr durchkommen kann. Die zwei Sachen sind unvereinbar, aber beide sind von ihm versprochen worden.
"So waren wir Briten nie"
Armbrüster: Herr Glees, Sie finden gerade sehr deutliche Worte für den britischen Premierminister. Können wir sagen, ist das, was er gerade macht, normales Polit-Poker, so wie man sich verhält, wenn man verhandelt?
Glees: Nein, ich glaube nicht. Bei Boris Johnson ist nichts normal. Die Politik, die er treibt, ist nicht normal. So waren wir Briten nie. Wir waren immer ein sehr pragmatisches Volk – ein Volk, das handeln wollte. Boris Johnson kommt an und sagt: Nein, wir wollen gar nicht mit euch handeln. Was soll das für britische Firmen, in einigen Wochen einfach ohne 50 Prozent ihrer Märkte irgendwie weiterleben zu können? Nein, das ist unnormal. Es ist höchst gefährlich.
Ich kann nur bestätigen, dass viele in seiner eigenen Partei im Unterhaus laut der "Times"-Zeitung von heute zu Boris sagen: Nein, das ist zu weit, Du bist viel zu weit gegangen gestern und am Wochenende mit dem, was Du gesagt hast. Denn wenn wir keinen Vertrag mit der EU machen können, dann können wir auch keinen Vertrag mit irgendeinem anderen Land machen, denn keiner wird uns glauben, dass wir uns an unsere Verträge halten.
Das vielleicht kann Boris Johnson zu einer Art Besinnung bringen, aber die Zukunft für Großbritannien – wir leiden hier sehr. Wir leiden enorm und bis jetzt ist gar nichts anders. Bis jetzt läuft alles wie früher, als ob wir immer noch in der EU sind. Es wird am 1. Januar nächsten Jahres einen sehr großen Schlag geben, auch wenn er einen Vertrag bekommt.
"Zwei Seelen wohnen in seinem Kopf"
Armbrüster: Herr Professor Glees, wenn Sie erlauben, versuche ich es noch mal mit einem anderen Erklärungsversuch, der sich vielleicht etwas anders anhört. Könnte es sein, dass Boris Johnson dieses No-Deal-Szenario, diese No-Deal-Geschichte, dass er die so oft an die Wand gemalt hat, dass sich viele Briten daran gewöhnt haben, dass sie sich langsam sogar damit anfreunden?
Glees: Ich glaube nicht. Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was in der Zukunft liegt, und dem, was Sie heute sehen. Was die Briten heute sehen ist eigentlich, dass alles läuft, wie es immer gelaufen hat, und wir haben dieses schreckliche COVID und bei uns steigen die Fälle wieder enorm an. Auf der anderen Seite sind die sonnigen Hochländer, die versprochen sind. Wenn diese Hochländer nicht im nächsten Jahr da sind, dann ist Boris Johnson fertig. Er muss die Entscheidung treffen, entweder jetzt hart zu sein und in den nächsten Jahren dazustehen als ein Verräter an seinem eigenen Volk, oder jetzt handlungsfähig sich zu erweisen und wirklich eine Zukunft, die härter sein wird für die Briten, aber keine totale Katastrophe. Das ist, was in seinem Gehirn wahrscheinlich geht. Wir wissen, auch 2016 konnte Boris auf beiden Seiten Gutes sehen, für Brexit, für Remain, und das bezeugt, dass zwei Seelen in seinem Kopf wohnen. Wir leiden darunter.
Armbrüster: Herr Glees, zum Schluss noch eine kurze Frage mit Bitte um eine kurze Antwort, vielleicht nur zwei Sätze. Was würden Sie dann Michel Barnier und seinem Team heute raten?
Glees: Weiterzumachen, Boris Johnson wie ein unartiges Kind im Restaurant zu behandeln. Man kann ihn nicht schlagen, man muss versuchen, irgendwie ihn zu locken, dass er das Vernünftige macht. Barnier hat meiner Meinung nach alles Richtige getan. Der benimmt sich diplomatisch gegenüber dem blöden Geschrei aus London.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Disku