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Brexit-Verhandlungen
"May wird den Winter als Premierministerin nicht überleben"

Der SPD-Politiker Norbert Spinrath sieht keine Linie in den Brexit-Verhandlungen von Großbritanniens Premierministerin Theresa May. Im Dlf sagte der Europa-Experte, es gebe für die Briten finanzielle "Verpflichtungen, die einzulösen sind". May versuche aber, die EU unter Druck zu setzen.

Norbert Spinrath im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 17.07.2017
    Der Bundestagsabgeordnete Norbert Spinrath (SPD) posiert im Bundestag
    Norbert Spinrath, europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion (imago stock&people)
    Dirk-Oliver Heckmann: Offiziell begonnen hatten sie bereits, die Brexit-Verhandlungen. Doch diese Woche geht es mit den inhaltlichen Verhandlungen erst richtig los. Immer noch nicht scheint aber richtig klar zu sein, welches Ziel die britische Premierministerin Theresa May eigentlich verfolgt. Finanzminister Hammond, ein Verfechter eines sogenannten weichen Brexit, er sieht mittlerweile eine Mehrheit im Kabinett für seine Linie. Und die heißt, Großbritannien braucht längere Übergangszeiten. Das Land soll in der Freihandelszone verbleiben und zur Not auch Zugeständnisse bei der Freizügigkeit machen.
    Darüber können wir jetzt sprechen mit Norbert Spinrath, dem europapolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Schönen guten Morgen, Herr Spinrath.
    Norbert Spinrath: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Herr Spinrath, Sie waren ja in der vergangenen Woche selbst in London. Welchen Eindruck haben Sie? Hat Theresa May endlich ihre Linie gefunden?
    Spinrath: Nein! Ich glaube nicht, dass Theresa May ihre Linie gefunden hat. Wir wissen immer noch nicht, was sie will. Sie gibt sich als tuff, sie gibt sich hart, sie hat auch vor den vorgezogenen Neuwahlen eine sehr harte Linie verfochten. Aber Konzepte, wirkliche inhaltliche Aussagen sind nicht erkennbar. Sie versucht, die EU unter Druck zu setzen. Unter anderem auch versucht sie, EU27-Bürger, die im Vereinigten Königreich leben und arbeiten, als Faustpfand zu nehmen.
    Heckmann: Aber die Linie ist doch eigentlich relativ klar. Theresa May sagt, Brexit means Brexit, Brexit heißt Brexit, und 100 Milliarden Euro an Zahlungsverpflichtungen, die kommen nicht in Frage.
    "So kann Theresa May nicht spielen"
    Spinrath: Die kommen nicht in Frage. Stellen Sie sich vor, Sie verlassen eine Familie als Familienmitglied, gehen und entziehen sich dann jeglicher Verpflichtung. Oder Sie sind Geschäftspartner und entziehen sich jeglicher Verpflichtung, wenn Sie die Firma verlassen. So kann Theresa May nicht spielen. Die Europäische Union als Ganzes hat dann auch sehr viele Rechte dem Vereinigten Königreich zugestanden. Es gab Förderprogramme, Strukturfonds und viele andere Projekte, aus denen dann unmittelbar Finanzierungen auch in das Vereinigte Königreich geflossen sind. Da gibt es Verpflichtungen, die einzulösen sind.
    Heckmann: Verpflichtungen ja, das sagt London ja auch und die werden wir auch einhalten. Aber London spricht von Fantasiezahlen.
    Spinrath: Nein, es sind keine Fantasiezahlen. Fangen wir an bei den Pensionen für EU-Beamte. Daran hat sich dann auch Großbritannien zu beteiligen. Nehmen Sie Strukturprojekte wie Autobahnbau, Bau von Bahnen, Häfen, Flughäfen und dergleichen. Das ist alles auf lange Zeit projektiert, die haben Laufzeiten von 20 bis 30 Jahren. Wenn Sie am Anfang einer solchen Laufzeit aussteigen können Sie nicht erwarten, dann auch die Gesamtprojektsumme gefördert zu bekommen. Da gibt es Forschungsprogramme, die langfristig angelegt sind und die fast ausschließlich aus EU-Geldern finanziert werden. Dann muss Großbritannien auch diesen Verpflichtungen nachkommen.
    Heckmann: Pardon, wenn ich da einhake. Sie halten diese 100 Milliarden Euro für realistisch?
    Spinrath: Michel Barnier, der Chefunterhändler der EU-Kommission und des Rates, hat ja gesagt, er wolle sich nicht auf genaue Zahlen festlegen. Wir haben vor drei Wochen noch im Europaausschuss des Deutschen Bundestages mit ihm diskutiert. Und er sagt, es gibt einen Rahmen zwischen etwa 60 bis 100 Milliarden Euro. Für uns ist entscheidend, dass Großbritannien auf Heller und Pfennig seine Verpflichtungen erfüllt, und das wird bedeuten, dass es irgendwo in dieser Größenordnung anzusiedeln ist.
    Heckmann: Herr Spinrath, Finanzminister Hammond, den ich gerade schon erwähnt habe, der hat gestern der BBC gegenüber gesagt, es gebe mittlerweile eine Mehrheit im Kabinett für seine Linie, für die Linie eines weichen Brexit. Das heißt, Großbritannien soll im Binnenmarkt verbleiben. Halten Sie das für möglich, dass es eine solche Mehrheit im britischen Kabinett gibt, oder ist das möglicherweise Zweckoptimismus?
    Spinrath: Das ist möglicherweise Zweckoptimismus, der aber dazu führen kann, die Verhandlungsatmosphäre zu verbessern und von diesem harten Kurs von May abzukommen. Ich habe das Gefühl, dass die Premierministerin sich ordentlich verzockt hat, dass sie an Einfluss sehr weitgehend verloren hat durch die Neuwahlen und das Ergebnis. Sie hat erneut das Spiel getrieben, mit dem Cameron überhaupt das britische Volk an den Abgrund geführt hat, nämlich sie hat geglaubt, mit dem Thema Brexit ihre Macht festigen zu können. Das ist gründlich schiefgegangen. Ich habe den Eindruck nach den Gesprächen in London, dass Theresa May den Winter nicht überleben wird als Premierministerin (*).
    "Die Integrität des Binnenmarktes ist oberstes Gebot"
    Heckmann: Woraus schließen Sie das?
    Spinrath: Das schließe ich aus Äußerungen, die zum Beispiel von Hammond kommen, aus dem Umfeld der Kabinettsmitglieder berichtet werden, aus einer Wandlung, die sich mittlerweile auch in der Bevölkerung, auch bei denen so langsam abzeichnet, die für den Brexit gestimmt haben. Das sagen Experten. Und die Experten glauben auch, wenn das Volk in der kompletten Tragweite erkennt, welche Folgen der Brexit für sie dann bringen wird, dann wird auch die Zustimmung zu May und zu Mays hartem Kurs verloren gehen.
    Heckmann: Das werden wir sehen. Noch gibt es ja eine Mehrheit in der britischen Bevölkerung für den Brexit, nach wie vor, trotz aller Unkenrufe aus Europa. Aber kommen wir noch mal zurück zu dem Vorstoß von Finanzminister Hammond, der sagt, es gäbe eine Mehrheit im Kabinett für einen weichen Brexit. Er spricht von Übergangsfristen, von längeren Übergangsfristen, die Großbritannien brauche. Das heißt, Verpflichtungen werden möglicherweise länger gezahlt. Auf der anderen Seite bleibt man im Binnenmarkt. Kann sich Europa aber auf eine solche Hängepartie eigentlich einlassen?
    Spinrath: Europa kann sich auf diese Hängepartie nicht einlassen, sondern nur dann, wenn dann wirklich alle grundlegenden Bedingungen erfüllt sind. Im Binnenmarkt zu verbleiben, das heißt dann auch die vier Grundfreiheiten zu akzeptieren, die Grundfreiheiten Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen und Kapital, aber auch die Freizügigkeit von Personen und Arbeitnehmern. Und das war ja der ganz entscheidende Grund für die britische Bevölkerung damals, für den Austritt aus der EU zu stimmen. Das ist für uns unabdingbar, das ist unverhandelbar. Weiterhin muss der Europäische Gerichtshof dann auch für den Binnenmarkt der finale Streitschlichter bleiben. Auch das war ein Argument für den Austritt. Die Integrität des Binnenmarktes ist oberstes Gebot. Der Zusammenhalt der EU27 ist oberstes Gebot. Wenn unter halbgaren Bedingungen dann die Briten in diesem Binnenmarkt verbleiben würden, ohne tatsächlich alle Verpflichtungen zu erfüllen, dann würde dies auch zu einem Erosionsprozess bei den EU27 kommen. Und wir haben immer gesagt, wir gehen sogar so weit, nicht nur als Bundesrepublik Deutschland, sondern als EU27 insgesamt, dass wir auch wirtschaftlichen Schaden für unsere Mitgliedsstaaten hinnehmen, um den Zusammenhalt der EU27 dann zu gewährleisten.
    "Würde mir ein neues Referendum wünschen und ein neues Ergebnis"
    Heckmann: Ganz kurz noch, Herr Spinrath. Wir haben nur noch 30 Sekunden. Was erwarten Sie jetzt von der britischen Seite?
    Spinrath: Ich erwarte von der britischen Seite, dass sie offen dann auch ihre Bedingungen benennt und sich auf ihre Verpflichtungen einlässt. Aber ich arbeite auch mit vielen britischen Kolleginnen und Kollegen daran, möglicherweise am Ende des Prozesses morgens aufzuwachen mit einem neuen Ergebnis eines neuen Referendums, wenn nämlich die Briten dann abstimmen über die Bedingungen, zu denen sie austreten sollen. Ich würde mir ein solches neues Referendum wünschen und ein neues Ergebnis.
    Heckmann: Ich sehe schon, Sie sind ein unverbesserlicher Optimist in dieser Frage. – Norbert Spinrath war das, der europapolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Herr Spinrath, ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Spinrath: Ich danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (*) Anmerkung der Redaktion: Der Interviewpartner sagt an dieser Stelle Ministerpräsidentin. Gemeint ist allerdings Premierministerin. Wir haben aus diesem Grund den Text korrigiert. Die Audioversion entspricht dem Gesagten.