Donnerstag, 18. April 2024

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Briefe an Beethoven
"Lieber Ludwig, ich erspare dir schwülstige Lobhudelei"

2021 wird Steven Walter neuer Intendant des Beethovenfestes Bonn. Mit seinem Brief an den Komponisten möchte Walter kein überzogenes Genie-Bild weiterzeichnen, sondern Beethoven Respekt zollen und ihn als menschliche Inspiration begreifen.

Von Steven Walter | 14.09.2020
    Ein junger bärtiger Mann mit kurzen, zur Seite gekämmten Haaren stützt seinen Kopf auf eine Hand und blickt in die Kamera.
    Steven Walter (dpa / Beethofenfeste Bonn / Daniel Barth)
    Lieber Ludwig van Beethoven,
    jetzt schreibe ich schon Briefe an die Toten. Warum sind wir oft zärtlicher zu den Verstorbenen als zu den Lebendigen? Dabei sind es doch die Lebendigen, die unsere Zärtlichkeit am meisten brauchen.
    Beethoven als menschliche Inspiration
    Vielleicht hättest auch du zu Lebzeiten ein bisschen mehr Zärtlichkeit gebraucht. Wenn du an deine "unsterbliche Geliebte" schreibst und den Brief doch nicht abschickst, dann vielleicht deswegen, weil du zu Lebzeiten allzu ungeliebt und auch sehr sterblich geblieben bist. Ich werde diesen Brief abschicken - nicht weil ich mir irgendwie Antwort erhoffe, das wäre albern. Sondern weil ich dir in dieser heutigen Welt, die nicht deine ist und deine nicht sein will, Respekt zollen möchte. Ich möchte nicht dein historisch überzogenes Genie-Bild noch weiter überzeichnen. Das ist auf eine Art respektlos deinem Leben voller Kampf und Krampf, Arbeit und Irrwege, Liebe und Scham gegenüber. Ich will versuchen, dich als menschliche Inspiration zu sehen. Wie kann ein sterblicher, fehlerhafter Mensch solche Kunst machen? Welcher Preis ist dafür zu zahlen?
    Ich erspare dir also all die schwülstige Lobhudelei auf deine Musik. Das hat sie nicht nötig. Wir müssen die Bronzetafeln, vor denen wir Kränze niederlegen, beizeiten mal wieder lesen.
    Nachdenken über Beethovens Leben und Werk
    Auf diesen nachfolgenden Zeilen dann also der Versuch einiger Gedankenfetzen, Aphorismen und Inspirationen beim Nachdenken über dein Leben und Werk:
    Euphorie der Ignoranz: nichts Großes wurde jemals ohne Enthusiasmus geschaffen.
    Vorauseilender Ungehorsam: Wege verändern sich nur, indem man sie geht.
    Die Wiederverzauberung der Welt: Barmherzigkeit ist der Radikalismus unserer Zeit.
    Die Zeit verläuft nur nach vorne und lebendige Traditionen sind immer radikal zeitgenössisch.
    Geschichte ist, was die Gegenwart der Zukunft schuldet, während sie zur Vergangenheit wird. Alter ist Vergangenheit. Von Gegenwart überlagerte Vergangenheit.
    Du bist zu alt um in Ruhestand zu gehen.
    Ich möchte jung sterben, aber so spät wie möglich.
    Beethoven 2020
    Der Tod ist der Motorenraum des Fortschritts. Manchmal passiert Jahrzehnte lang nichts und dann passieren Jahrzehnte in Wochen. Oder: Es ist überraschend wie lange Veränderungen brauchen und dann schockierend, wie schnell sie passieren.
    Es ist viel einfacher, die Welt zu verändern als den Beweis zu erbringen, dass die Welt verändert wurde.
    Die Wahrheit ist wie sehr gute Musik. Und die meisten können sehr gute Musik nicht ausstehen.
    Das Verrückte ist nur so lange verrückt, bis es normal wird.
    Das Leben ist politisch: nicht, weil sich die Welt für unsere Meinung interessiert, sondern weil die Welt auf unser Handeln reagiert. Und in der Musik ist das Persönliche immer auch politisch.
    Eine Gesellschaft kann sich nie besser verstehen als durch den Blick von den Marginalien. Innovation kommt aus Subversion.
    Klassik light: Wir reden uns ein, das Langweilige sei interessant geworden, weil das Interessante angefangen hat, langweilig zu werden.
    Die Schönheit des Scheiterns: siegreich und schiffbrüchig. schiffbrüchig und siegreich!
    Doch wir fürchten die Digitalisierung unserer Fehler.
    Mir ist alles viel zu laut und dir viel zu leise.
    Manifestation, nicht Repräsentation! Manifestation, nicht Repräsentation. Wann ist deine Musik eigentlich klassisch geworden? Bedeutsamkeit über Schönheit. Immer.
    Interpretation heißt: zur Kenntlichkeit entstellen.
    Wenn wir es lieben, dann haben wir es verstanden. Gelegenheit macht Liebe. Wo finden wir Gelegenheit?
    Wenn du ohne Gehör diese Musik schaffen konntest - können wir wenigstens dafür Gehör verschaffen?
    Welches Jahr schreiben wir, lieber Ludwig? Und wozu?
    Beethovens Fragen
    Alles Beschweren ist versteckte Angeberei - wir sind stolz, deine Musik zu haben, und dankbar, deine Fragen zu erben. Vielleicht leben wir mit den richtigen Fragen einmal in gute Antworten hinein.
    Damit du mögest hören: An dich haben wir gedacht.
    In Hochachtung,
    dein Steven Walter