Dienstag, 23. April 2024

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Briefe an Beethoven
„Lieber Ludwig, Ihre Authentizität ist eine Inspirationsquelle“

Beethoven habe sich immer wieder auf die Suche nach dem perfekten Klang gemacht, schreibt die Geigerin Isabelle van Keulen in ihrem Brief an den Komponisten. Beethovens Werke zeigten Eigensinnigkeit und Originalität – ohne ihn hätte es keinen Schumann, Brahms, Mahler oder Bruckner gegeben.

Von Isabelle van Keulen | 08.06.2020
    Lieber Ludwig,
    bitte erlauben Sie mir die informelle zweite Anrede. Da wir den gleichen Geburtstag teilen, erlaube ich mir mal die Frechheit, Sie etwas familiärer anzusprechen. Aber ich werde weiterhin beim Sie bleiben, da ich mir aus höchstem Respekt nicht vorstellen kann, Sie, den genialen, vielseitigen, inspirierenden Komponisten und Menschen Ludwig van Beethoven zu duzen!
    In einer sehr frühen Kindheitserinnerung - ich werde drei gewesen sein - saß ich bei meiner Mutter auf dem Schoß und habe damals schon fasziniert Ihre späten Streichquartette durch das Radio einströmen lassen. Nicht wissend, dass ich, sobald ich mit sechs Jahren dann endlich selbst Violine zu spielen anfangen durfte, mich über Jahrzehnte - sowohl persönlich über wiederholt gelesene Biografien, als auch durch intensive berufliche Beschäftigung mit Ihrer einzigartigen, glück- und lebenbringenden Musik - so viel Affinität mit Ihnen im Laufe meines eigenen Lebens erleben durfte.
    "Der Mut, einfach Ihren eigenen Weg zu gehen"
    Oh, wie gerne hätte ich Sie als stille Gesellin begleitet bei Ihren unzähligen Spaziergängen am Rhein entlang und hätte Ihnen gerne den Schirm gehalten. So gerne hätte ich mal das Glas mit Ihnen gehoben und Ihnen versichert, dass Sie nicht alleine auf der Welt sind! Oder hätte ich Ihnen mal Ihr geniales Violinkonzert vorgespielt oder mit Ihnen die zehn Sonaten für Klavier und Violine erkundet! Oh, wie geehrt wäre ich gewesen, im Mai 1803 die Kreutzer-Sonate mit Ihnen uraufzuführen, auch wenn die Tinte noch nass war und es keine Zeit zur Vorbereitung gegeben hätte, und Sie aus der skizzierten Klavierstimme quasi improvisierten! Welch‘ eine Wonne wäre das gewesen; und liebend gerne hätte ich die skeptischen Reaktionen dieser biederen Wiener abgewimmelt, um Sie vor solchen Banalitäten zu schützen!
    27.10.2018, Hessen, Darmstadt: Die deutsch-ungarische Schriftstellerin Terézia Mora steht auf der Terrasse des Darmstädter Staatstheaters, wo sie später mit dem Georg-Büchner-Preis 2018 ausgezeichnet wird.
    Briefe an Beethoven - "Lieber Ludwig, welche Freude, diese Läufe zu spielen"
    Wir verdanken Beethoven mit der "Ode an die Freude" eine der schönsten Melodien, schreibt Terézia Mora in ihrem Brief an den berühmten Komponisten. Die Schriftstellerin erinnert sich an ihre unangenehm strenge Klavierlehrerin – und dass sie dennoch sehr gerne "Für Elise" gespielt habe.
    Wie dem auch sei, so ist es nicht gekommen. Ich wurde exakt 196 Jahre nach Ihnen in einem holländischen Dörfchen geboren und war immer stolz darauf, dass wir beiden einen "van" im Namen haben. Das Klavier war nicht mein Instrument, sondern die Geige, aber ich traue mich zu sagen, dass die Leidenschaft und Kompromisslosigkeit, die Sie in Ihrem Leben und Schaffen an den Tag gelegt haben, mir auch nicht fremd ist. Ich habe eine unerschöpfliche Bewunderung für Ihren Mut, einfach Ihren eigenen Weg zu gehen, sich nie einem königlichen Hof unterworfen zu haben und sich immer selbst treu geblieben zu sein! Chapeau! Ich kenne keinen ehrlicheren, feineren und rechtschaffeneren Menschen als Sie!
    "Immer auf der Suche nach dem perfekten Klang"
    Jeder Akzent auf einer Synkope oder auf einem unbetonten Taktteil zeigt Ihre Eigensinnigkeit und Originalität. Leicht haben Sie es sich bestimmt nicht gemacht mit diesen Eigenschaften, aber Ihre Authentizität ist mir jeden Moment in meinem eigenen Leben eine Inspirationsquelle! Hätten Sie nur etwas verständnisvollere Eltern gehabt. Oh, welche Schmerzen hatte ich, als ich gelesen habe, wie nah Sie sich Ihrem viel zu früh verstorbenen Großvater gefühlt haben; und wie rührend, dass sein Bild immer mit Ihnen mitgereist ist bei jedem Umzug! Gefreut habe ich mich so über Ihre tiefen und ehrlichen Freundschaften mit dem Geiger Schuppanzigh und Nanette und Andreas Streicher, der Ihnen immer wieder geholfen hat bei der Suche nach dem perfekten Flügel!
    Ein Mann mit Brille und Dreitagebart trägt einen schwarzen Pullover, sitzt lachend nebem einem Flügel und blickt in die Kamera.
    Briefe an Beethoven - "Lieber Ludwig, welche Rolle spielten Bachs Goldberg-Variationen?
    Der Cembalist und Pianist Andreas Staier stellt sich in seinem Brief an Beethoven die Frage, welche Rolle Bachs Goldberg-Variationen bei der Komposition von Beethovens Diabelli-Variationen gespielt haben. Hat er sich gar bestimmte Variationen vorgenommen, um sie zu negieren, gegen sie zu rebellieren?
    Apropos Klaviere: wie gut verstehe ich, dass Sie sich, als das Leben sich entwickelt hat, immer wieder auf die Suche gemacht haben nach dem perfekten Klang; der Klang, der Ihren Vorstellungen gerecht wurde! Wie oft habe ich mich umentschieden, mal Stradivari, mal Guarneri oder doch eine neue Geige? Das Leben fließt und damit die Bedürfnisse und Ansprüche! Stunden- nein, Tage-, nein, Jahrelang hätte ich mich mit Ihnen auch über dieses Fließen des Lebens und der Bedürfnisse unterhalten können. Keine Angst, ich hätte Sie unter keinen Umständen von der Arbeit abgehalten!
    "Humor in den vielen Scherzi bringt mit zum Grinsen"
    Wenn ich mich etwas schlaff fühle, höre ich mir den Anfang Ihrer 1. Symphonie an: welch‘ Wagnis, gleich mit der Dominante anzufangen! Und richtig, dass Sie sich die Kritik von Haydn nicht zu Herzen genommen haben! Kraft kriege ich aus Ihrer Liebe, die zum Beispiel aus dem zweiten Thema des zweiten Satzes des Violinkonzerts spricht, fröhlich macht mich das Streicher-Divertimento! Und der Humor in den vielen Scherzi der Violinsonaten bringt mich immer wieder zum Grinsen!
    Ich habe, und tue es immer noch, so viel von Ihnen gelernt, und möchte langsam meinen Brief an Sie abschließen. Sie sind für immer in meinem Herzen verankert und ich möchte Ihnen dafür zutiefst danken. Sie sind der Allerwichtigste für mich, sogar so, dass es ohne Sie keinen Schumann, Brahms, Mahler oder Bruckner gegeben hätte, ja, ich würde noch weiter gehen: Bach hätte Sie auch adoriert!
    Mit höchstem Respekt und tiefer Liebe und Bewunderung, Ihre
    Isabelle van Keulen