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Briefe an Beethoven
"Lieber Ludwig, kennen Sie sich selbst?"

Kürzlich hat Schriftsteller Alain Claude Sulzer eine Textfassung für das Ballett "Die Geschöpfe des Prometheus" geschrieben. Beethoven hatte dazu die Musik verfasst. In seinem Brief an Ludwig stellt Sulzer sich vor, wie es wäre, wenn der berühmte Komponist eine der vielen Beethoven-Biographien lesen würde.

17.08.2020
Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer bei der Frankfurter Buchmesse 2012
Der Schweizer Alain Claude Sulzer ist Schriftsteller und Übersetzer (imago / Sven Simon)
Sehr geehrter Herr van Beethoven,
Ich nehme an, Sie wissen von Ihrem Ruhm. Gewiss, Sie waren – über Wien hinaus – schon zu Lebzeiten eine Notorietät, wie man damals sagte, aber heute sind sie weltberühmt. Man kennt Ihren Namen und spielt Ihre Musik auf allen Kontinenten. Während 99 Prozent Ihrer komponierenden Zeitgenossen so gut wie vergessen sind, werden ihre Melodien noch heute selbst von Menschen gesungen oder gepfiffen oder zumindest gekannt, die nicht einmal Ihren Namen kennen. Sie dürfen sich glücklich schätzen, das digitale Zeitalter mitbestimmt zu haben; dass die CD einen Durchmesser von 12 Zentimetern hat, verdanken wir Ihnen und Herrn Ohga von Sony; auf eine CD – so bestimmte er – sollte immer Ihre Neunte passen! Schluss mit dem Plattenwechsel.
Google vermerkt unter ihrem Namen über 96 Millionen Einträge; ich selbst bringe es bloß auf 616'000. Ich habe das eben verglichen und war doch ziemlich erstaunt. Während sich in meinem Fall diese Zahl vermutlich nur noch unwesentlich erhöhen wird, wird die Zahl ihrer Einträge mit jeder neuen Aufnahme oder Aufführung Ihrer Werke beharrlich ins Unermessliche weiter steigen. Im Gegensatz zu mir brauchen Sie nichts Neues zu schreiben, um doch stets von Neuem Aufmerksamkeit zu erregen. Man kennt Sie. Sie sind omnipräsent. Außer dass sie nichts davon haben, erfüllt es Sie vielleicht mit Stolz.
Aber kennen Sie sich selbst? Um sich selbst zu kennen, müssten Sie sich entweder einer Psychoanalyse unterziehen, was ich mir bei Ihrer Persönlichkeit nicht vorstellen kann, oder zumindest eines der Bücher gelesen haben, die über sie geschrieben wurden. Es müssen Tausende sein, seit Wegeler und Ries bei Baedeker die Biographischen Notizen über Sie publiziert haben, an denen sich Hunderte nachgeborener Biographen ebenso abgearbeitet haben wie an Ihnen selbst, denn natürlich gab es Hunderterlei richtigzustellen, was diese beiden Herren offenbar zusammenfantasiert und andere Biographen fehlinterpretiert hatten. Natürlich werde ich nun nicht beginnen, es denen gleichzutun, wie auch, da Sie ja – so hoffe ich – am besten wissen, wie es war.
Aber wie war es?
Sie könnten mehrere Leben damit verbringen, sich durch die Biographen über Sie selbst durchzufressen. Sie könnten sich zurücklehnen und ihr eigenes Leben Revue passieren lassen. Sie bräuchten also weder zu komponieren noch ihren Tantiemen hinterher zu rennen, weder Prozesse mit unzuverlässigen Verlegern zu führen noch an Opernstoffen zu nagen, die am Ende doch nie realisiert werden. Sie könnten einfach nachlesen, wie ihr Leben war, Kapitel für Kapitel, von den ersten Erfolgen bis zum Ende als Eigenbrötler mit ständig wechselndem Wohnsitz.
"Keiner hat Sie wirklich gekannt"
Wie viele haben sich nicht über Ihr Leben gebeugt, um es, aus welchen persönlichen Gründen auch immer, zu verstehen und anderen näherzubringen? Doch keiner hat Sie wirklich gekannt. Ich selbst stelle mir das sehr unangenehm vor: Wie jemand in meiner Vergangenheit wühlt und jeden Stein umdreht, immer in der Hoffnung, dort eine versteckte Kröte oder ein Schlangennest zu finden, eine Wunde, in die er seine Finger legen kann.
Die seit 1953 existierende Neue Deutsche Biografie, die das "zertifizierte Wissen zu mehr als 730'000 Persönlichkeiten des deutschen Sprachraums vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart" hütet, beginnt Ihre Biografie mit den Worten "Beethoven hatte eine schwere Jugend" und endet mit den Worten, "dass das wahre Verständnis Beethovens als des Vollenders der klassischen absoluten Musik nun wohl endgültig gesichert" sei.
Über letzteres bestand offenbar erst ab 1953 Einigkeit; dass Sie eine "schwere Kindheit hatten" war damals klar, wird inzwischen aber bestritten.
Deshalb meine Frage direkt an Sie: Lieber Herr van Beethoven, hatten Sie nun eine schwere Kindheit oder war sie so unbeschwert, wie manche jüngeren Biographen neuerdings behaupten, womit sie uns, die wir uns so gut an schwarze Kindheiten berühmter Personen gewöhnt hatten, im höchsten Maß verunsichern. Wenn ich mir auch vorstellen kann, dass Sie auf solche Fragen gereizt, ungehalten oder vielleicht sogar unflätig reagieren – keiner Ihrer Biographen beschreibt Sie als freundlich, zugewandt, nachsichtig oder gar humorvoll – würde mich Ihre Antwort natürlich sehr freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Alain Claude Sulzer