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Brisante Metamorhphose

Wenn es um hochwertige Aktfotografie geht, dann denkt man sogleich an den Altmeister Helmut Newton, der die Schönheit cooler Frauen liebt, oder an Peter Lindbergh, der die geschliffene Eleganz der Natürlichkeit grüßt. An Bilder, die zu Mythen des Alltags wurden.

Heinz-Norbert Jocks | 24.11.2003
    Für den in Düsseldorf lebenden, heute vierundvierzigjährigen Fotografen Thomas Ruff, dem als Schüler von Bernd und Hilla Becher, neben Andreas Gursky und Thomas Struth, der steile Sprung in die internationale Kunstszene geglückt ist, sind die Inszenierungen der Modefotografen nicht nur zu gestylt, sondern auch zu romantisch und zu unzeitgemäß. Kurz, Schnee von gestern. Auf seiner Recherche nach adäquaten Bildern, die mehr die Realität von heute dokumentieren und die zugleich über den Tag hinaus Gültigkeit erlangen können, sichtete er allerlei Bildmaterial.
    Bei seiner Bestandsaufnahme landete er im Internet unwillkürlich auch auf den Pornoseiten mit den knallharten Fakten. Sex pur, zugänglich nur für Erwachsene. Für den Fotografen, der seine Fähigkeiten gerne an alltäglichen Dingen erprobt und dabei von Genre zu Genre springt, als ginge es ihm um dessen Aktualisierung, waren die Pornobilder gerade recht. Eben Ausdruck einer Aktfotografie, wie sie sich im Bereich der Alltagskultur darstellt.

    Ich dachte, man müsste eine Art Erwachsenennacktfotografie machen. Es sollte schon härter sein als nur schöne nackte Körper am Strand bei schönem Licht. Wie gesagt bei der Recherche im Internet stieß ich unweigerlich auf die Pornoseiten. Ich fand das Spektrum, was dort dargestellt ist, viel ehrlicher als, was die gesamte künstlerische Fotografie an Aktengeliefert hatte. Als ich meine Pixelspielerei auf ein paar Bilder aus den Pornoseiten angewandt hatte, hatte ich plötzlich die Nudes".

    Ruff, von Kritikern als Konzeptkünstler gefeiert, wurde schlagartig bekannt, als er 1987 seine Porträts von Künstlerfreunden so groß wie Gemälde abziehen ließ. Ein Novum mit Folgen für die Fotografie, die von nun an seitens der Galeristen, Museen und Ausstellungsmachern mit größerer Aufmerksamkeit bedacht wurde. Nicht nur, weil sie auf einmal wandfüllend war, sondern auch, weil sie verwandelt erschien. Neue, bis dahin ungeahnte Möglichkeiten kündigten sich an. Was man da sah, waren frontal aufgenommene Gesichter vor einfarbiger Kulisse. Keine Requisiten. Nichts, was den Blick vom Faktum der Oberfläche ablenkt. Nicht ein Hinweis auf Charaktere. Ruff deutete nicht. Er hielt sich zurück.

    Ich gehe davon aus, dass Fotografie nur die Oberfläche der Dinge abbilden kann. Wenn ich jemanden porträtiere und behaupte, ich hätte eine Interpretation gefunden, so ist das eine Lüge. Das Porträt einer Person ist nur eine von zig Möglichkeiten, diesen Menschen zu sehen. Deshalb wollte ich damals keine Interpretation der Person, sondern habe mich mit der Oberfläche begnügt.

    Ehe er seine Freunde in sein Studio einlud, Modell zu sitzen, hatte er mit seiner Plattenkamera bereits kleinbürgerliche Interieurs aufgenommen. Das entsprach seiner nüchternen Art der Beschäftigung mit der eigenen Herkunft. Es folgten Bilder von Häusern, die alles andere als ein schöneres Wohnen suggerierten. Er demonstrierte in einer Serie, wie sich eine durchschnittliche, gar langweilige Architektur so fotografieren lässt, dass daraus Bilder werden, die als Bild funktionieren. Weil ihn Kleinigkeiten wie Straßenschilder störten, nutzte er damals als einer der Ersten die digitale Retusche und ließ entfernen, was nicht ins Bild passte.

    Seit jeher daran interessiert, wie sich die Alltagsobjekte unserer Wahrnehmung im Kunstkontext als Sujets behaupten, stellten die Pornobilder eine besondere Herausforderung dar. Wie ließen sie sich nur in den Bereich der Kunst überführen, ohne pornografisch zu sein? Wo fängt Pornografie überhaupt an, wo hört sie auf? Fragen, auf die Ruff reagierte, indem er die aus dem Internet heruntergeladenen Bilder digital kolorierte. Die Verwischungen und Unschärfen, die sich zwangsläufig durch die Vergrößerung ergaben, schaffen nicht nur eine große Distanz zu den Körpern, die dabei als obskure Objekte der sexuellen Begierde in den Hintergrund rücken. Darüber hinaus geben sie den Bildern auch eine malerische Qualität, die oft mit Gerhard Richter in Verbindung gebracht wird, obwohl das Unscharfe und Verwischte rein technisch begründet ist.

    Gut, die ganzen Kunsthistoriker denken als erstes an Richter, der es mit dem Pinsel gemacht hat. Unscharfe Malerei gibt es nicht. Ich bestehe schon auf die Pixel-Struktur. Ich habe die Pixel-Sicht bewusst gelassen, damit man wirklich sieht, dass es aus der elektronischen Welt kommt. Dass die Bilder so unscharf sind, hat tatsächlich mit der Pixel-Struktur zu tun. Man kann eben Pixel nicht einfach multiplizieren. Man muss sie leicht verschieben, um aus einem Pixel acht unterschiedliche Pixel zu kriegen. Aber die Unschärfe hat mir dann eigentlich doch sehr gefallen, weil sie so eine hübsche malerische Struktur erzeugt, obwohl sie aber mit Malerei nichts zu tun hat.

    Beim Durchblättern des Buches zur Serie, das mit einer Kurzerzählung des französischen Skandalautors Michel Houellebecq versehen ist, stößt man auf fast alle Spielarten der Sexualität, als sei da die Zeit der Tabus längst vorbei. Die Toleranz ist kein Ideal mehr, sondern endlich Praxis. Man sieht, wie sich Frauen mit Männern vergnügen. Die bisexuelle Lust ist da ebenso vertreten wie die gleichgeschlechtliche. Keiner ist anders als der andere, alle sind normal. So lautet wohl die Devise.

    Ich habe versucht, möglichst demokratisch zu sein. Das ganze Spektrum sollte vertreten sein, und es sollte nicht nur mein bisexueller Blick auf Sexualität gerichtet sein. Ich wollte objektiv sein. Ich wollte keine Bewertung und wollte auch nicht sagen die bisexuelle liebe sei die beste Liebe, weil ich selbst bisexuell bin. So viele Menschen es auf der Welt gibt, so viele Vorlieben gibt es auch. Ich wollte weder Gewichtungen noch werten, dass eben bisexuelle Liebe moralisch, katholisch, höherwertiger als homosexuelle oder lesbische Liebe ist.

    Wer nun aber glaubt, hier werde die Lust des Betrachters beflügelt, der irrt gewaltig. Denn seltsam an diesen Bildern ist, dass sie alles neutralisieren. Ihre Wirkung ist weder eine plakative noch eine direkte. Um zu sehen, was zu sehen ist, muss das Auge sich erst an die Unschärfe gewöhnen. Die Bilder von den "Nackten" aus dem Internet funktionieren wie Wackelbilder, die unser Sehen verlangsamen. Kaum erkannt, ist das Gesehene schon wieder vom Verschwinden bedroht. Das Dargestellte ist nicht fassbar. Es entzieht sich dem direkten Zugriff des Betrachters, der sich vorkommt, als bewege er sich in einer visuellen Zwischenzone. Das Sehen wird da zu etwas Fragilem.


    Thomas Ruff
    Nudes
    Schirmer Mosel, 150 S., EUR 49,80