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Britische Abgeordnete am Pranger

Britische Abgeordnete haben trickreich legale Spesenregelungen zu ihren - und des Steuerzahlers - Ungunsten genutzt. Prominentestes Opfer: der "Speaker" des britischen Unterhauses trat zurück. Der verhasste Labour-Regierungschef Gordon Brown steht mit dem Rücken an der Wand: Verliert seine Partei die Europawahl an die Tories, sind seine Tage endgültig gezählt.

Von Martin Zagatta | 29.05.2009
    "Das ist Unsinn – lass' abstimmen. Dieb - gib das Geld zurück", hallt es Andrew MacKay entgegen. Der Abgeordnete der konservativen Tories wird niedergebrüllt von den 300 Menschen, die sich in der Gemeindehalle von Bracknell versammelt haben, in seinem Wahlkreis in der Grafschaft Berkshire westlich von London. Blanke Wut kocht hoch, seit bekannt geworden ist, dass der 59-Jährige und seine Ehefrau, die ebenfalls dem Unterhaus angehört, die Zweitwohnungszuschüsse für Parlamentarier doppelt kassiert haben, in acht Jahren umgerechnet fast 300.000 Euro, so haben Zeitungen ausgerechnet.

    "Das ist Diebstahl von Steuergeldern - Er ist dabei erwischt worden und muss abtreten", fordern Leute, die angeben, MacKay gewählt zu haben. Seinen Job als einer der engsten Berater des konservativen Oppositionsführers David Cameron hat er schon aufgegeben, als er in seinem Wahlkreis Rede und Antwort steht. Am nächsten Morgen, am Tag nach der turbulenten Versammlung verkündet der Abgeordnete, dass er bei der nächsten Wahl nicht wieder für das Unterhaus kandidieren wird, dem er seit 26 Jahren angehört. Seiner Gattin, Julie Kirkbride, die sich diesem Schritt zunächst nicht anschließen wollte, wurden die Fensterscheiben eingeworfen, in ihrem Wahlkreisbüro in den englischen Midlands.

    Julie Kirkbride habe die Wähler von Bromsgrove betrogen. Sie habe das Vertrauen ihres Wahlkreises verloren und solle abtreten. Mehr als 4000 Unterschriften hat eine örtliche Bürgerinitiative gesammelt, um die Politikerin zum Abgang zu drängen. Inzwischen hat auch sie erklärt, keine Wiederwahl mehr anzustreben. Über Parlamentarier wie Frau Kirkbride und ihren Mann ist der Volkszorn hereingebrochen, seit der "Daily Telegraph" damit begonnen hat, die dubiosen und betrugsverdächtigen Abrechnungen ihrer Spesen aufzulisten. Hundefutter auf Steuerkosten, Windeln, Klobürsten, ein Entenhäuschen. Ein Minister soll Damenslipeinlagen abgerechnet haben. Enthüllungen, die in wirtschaftlich so schwierigen Zeiten erst recht für Empörung sorgen. Politiker sind derzeit so beliebt wie Schweinegrippe, schreibt die Zeitung "News of the World", und Stefan Shakespeare vom Meinungsforschungsinstitut YouGov nickt.

    "Immerhin 60 Prozent sind überzeugt, dass die meisten Abgeordneten betrügen oder das Abrechnungssystem missbrauchen. Das ist eine erstaunlich hohe Zahl. Eine Katastrophe für Labour, für die Regierungspartei, aber auch die konservative Opposition bekommt das zu spüren. Die Vorbehalte sind groß. Die Bindung an politische Parteien bröckelt. Das Vertrauen ist dahin."

    Und das bekommt auch Harriet Baldwin zu spüren, die in Malvern, einer Kleinstadt in den englischen Midlands, von Haus zu Haus zieht, um Flugblätter einzuwerfen, Stimmung für die Tories zu machen vor der Europawahl und den gleichzeitig anstehenden Kommunalwahlen auf der Insel. Für sie ein einziger Spießrutenlauf.

    "Wenn Sie an die Türen klopfen, als freiwilliger Helfer, ohne jede Bezahlung, und die Leute sagen Ihnen – Oh – Sie machen das nur, um abzusahnen – dann ist das ganz schön frustrierend","

    …beschwert sich die Lokalpolitikerin. Aber nichts zu machen: Der Spesenskandal überschattet die Kommunalwahlen und auch die Europawahl, für die sich im Königreich jetzt erst recht kaum jemand so richtig interessiert. Stattdessen droht der Urnengang zu einer Denkzettelwahl zu werden, fürchtet auch die Europaministerin, Caroline Flint.

    " "Wir können nicht übergehen, dass die Vorgänge um die Spesen der Abgeordneten derzeit das Thema Nummer Eins sind. Natürlich trifft uns das, und wir müssen handeln, um soviel Vertrauen wie möglich zurückzugewinnen. Und das, daran lässt Premierminister Gordon Brown ja keinen Zweifel, muss passieren."

    Fragt sich nur, wie. Den Umfragen zufolge wird zwar auch die konservative Opposition Stimmen einbüßen. Der Ärger über die Spesenaffäre richtet sich aber noch stärker gegen die Regierungspartei und vor allem gegen Gordon Brown. Dabei hat die Labour-Partei bei der Europawahl vor fünf Jahren mit nur knapp 23 Prozent der Stimmen, damals mitten im Streit um den Irak-Krieg, schon so katastrophal abgeschnitten, dass dies eigentlich nur schwer zu unterbieten ist. Doch Labour muss diesmal mit einem noch schlechteren Ergebnis rechnen, angesichts des Unmuts in der Bevölkerung.

    Das sei absolut lächerlich, was die beanspruchen. Die seien verlogen und sie habe jedes Vertrauen in die Politiker verloren, so eine junge Frau, und ihr Begleiter kündigt an, das nächste Mal BNP zu wählen. Die British National Party, die rechtsextreme Positionen vertritt, nur Weiße in ihren Reihen zulässt und für einen Austritt Großbritanniens aus der EU plädiert, könnte den Umfragen zufolge tatsächlich von der Empörung über den Spesenskandal profitieren und zum ersten Mal Abgeordnete in das EU-Parlament bringen. Davon geht auch Peter Kellner aus, der Präsident des YouGov-Instituts.

    "Viele werden ihren Unmut zum Ausdruck bringen, indem sie zuhause bleiben, manche indem sie kleinere Parteien unterstützen. Und es ist möglich, dass die BNP Sitze gewinnt, zwei vielleicht oder auch vier. Und wenn die Wahlbeteiligung sehr niedrig ausfällt, dann ist jede Stimme für die BNP mehr wert. Das könnte ihr helfen."

    Zumal die Britische Nationalpartei ihren ursprünglich geplanten Wahlslogan noch schnell abgeändert hat. Statt "Gegen die Islamisierung Großbritanniens" heißt es jetzt: "Bestraft die Schweine!" Und Nick Griffin, der wegen Aufhetzung zu Rassenhass vorbestrafte Chef der BNP, versucht in Wahlspots in Radio und Fernsehen Kapital aus dem Spesenskandal zu schlagen.

    "Wir sind alle erbost über die Berufspolitiker, die mit ihren Rüsseln in den öffentlichen Trögen stecken. Zum Glück gibt es jetzt eine echte Alternative, weil wir anständige Leute sind und keine schweinischen Politiker."

    Geht die Rechnung der BNP auf, dann könnte Nick Griffin, so wird spekuliert, gar zum Chef einer rechtsextremen Gruppe im Europaparlament werden. Ob es dazu kommen wird, ist schwer vorauszusagen, da die Befragten den Meinungsforschern gegenüber erfahrungsgemäß oft nicht zugeben, solch extreme Parteien wählen zu wollen.
    Von der Wut auf gierige Politiker könnte allerdings die UKIP ganz besonders profitieren, die United Kingdom Independence Party, die Unabhängigkeitspartei, die ebenfalls für einen Austritt Großbritanniens aus der EU eintritt. Sie hat es schon bei der letzten Europawahl auf 16 Prozent der Stimmen gebracht. "Wir können so gut abschneiden", so frohlockt schon der UKIP-Chef, Nigel Farage, "dass wir die Labour-Partei auf den vierten Platz verweisen können. Um Gottes willen – Ukip könnte dafür sorgen, Gordon Brown loszuwerden."

    Verliert die Labour-Partei die Europawahl mit Pauken und Trompeten, so das Kalkül, wird der Premierminister unter Druck kommen, die regulär erst in einem Jahr fällige Unterhauswahl vorzuziehen. Über den Termin bestimmt offiziell allerdings allein der Regierungschef, und Gordon Brown macht angesichts der schlechten Umfragewerte für seine Partei bisher keine Anstalten, eine schnelle Neuwahl anzusetzen. Im Gegenteil. Der Premierminister argumentiert, vor einem solchen Urnengang müsse das Abrechnungssystem im Parlament erst einmal völlig neu geregelt werden.

    "Wer unvorschriftsmäßige Ansprüche geltend gemacht hat, muss das Geld zurückzahlen, und die Labour-Partei wird bei der nächsten Wahl keine Abgeordneten aufstellen, die gegen die Regeln verstoßen haben."

    Zu der Ankündigung, hart durchzugreifen, hat sich Gordon Brown allerdings erst durchgerungen, nachdem der Oppositionsführer David Cameron schon vorgeprescht war. Er hatte Missetätern in den eigenen Reihen da schon längst den Ausschluss aus Fraktion und Partei angedroht. Mit den Vorsitzenden der Konservativen und der Liberaldemokraten hat sich der Premierminister zwar vorerst auf eine eingeschränkte Spesenordnung für die Abgeordneten geeinigt und grundsätzlich auch auf eine externe Aufsicht über die Ausgaben. Das allerdings reicht dem Tory-Chef Cameron – so sagt er –nicht aus.

    "Wir haben neue Regeln bekommen. Das ist gut. Aber jetzt muss die Öffentlichkeit einbezogen werden. Die sollte darüber entscheiden. Die sollte entscheiden, wer in dem neuen Parlament sitzt, wer die neuen Vorschriften erlässt. Es ist Zeit für ein neues Parlament, Zeit für eine nationale Neuwahl. Das ist die wirkliche Reform, die das Land benötigt. Wir brauchen einen Neuanfang."

    Bei einer Neuwahl können die britischen Konservativen mit einem überwältigenden Sieg rechnen. Die Tories liegen in Umfragen rund 20 Prozentpunkte vor Labour. Die Regierungspartei müsste sich auf eine vernichtende Niederlage einstellen und würde den Meinungsforschern zufolge so schlecht abschneiden wie noch nie. Und der ohnehin schon höchst unbeliebte Premierminister Brown hat weiter an Ansehen verloren. Ihm wird vorgeworfen, auf den Spesenskandal viel zu zögerlich reagiert zu haben. So hat er trotz zunehmenden Missmuts auch in den eigenen Reihen bis zuletzt an seinem schottischen Parteifreund Michael Martin festgehalten, dem so genannten "Speaker." Der Präsident des Unterhauses musste nach immer heftigeren Vorwürfen, die Aufklärung zu behindern, und nach tumultartigen Szenen schließlich doch zurücktreten, was in dem traditionsreichen Parlament seit mehr als 300 Jahren nicht mehr vorgekommen ist. Und die Glaubwürdigkeit des Premierministers leidet darunter, dass in dem Spesenskandal auch eine ganze Reihe seiner Minister noch immer am Pranger steht.

    "Wie kann Schatzkanzler Alistair Darling, der Finanzminister, von uns fordern, keine Steuern zu hinterziehen, wenn er Erst- und Zweitwohnung ständig ummeldet, um seine Zuschüsse in die Höhe zu treiben? Wie kann man sagen, wir gehen gegen Betrüger vor, wenn Abgeordnete mit ihren Spesen betrügen?"

    Peinliche Fragen bei Interviews in der BBC. Denn wie zahlreiche Abgeordnete haben auch Kabinettsmitglieder mit dubiosen Zweitwohnungszuschüssen jährlich bis zu 30.000 Euro eingestrichen. Schatzkanzler Darling hat seine Angaben, wo er hauptsächlich wohnt, so vier Mal abgeändert. Die Kommunalministerin Hazel Blears soll durch Ummeldungen in nur einem Jahr Zuschüsse für gleich drei Wohnungen eingeheimst haben. Und Innenministerin Jacqui Smith hat nicht nur Pornofilme und Badewannenstöpsel abgerechnet. Sie hat ein Gästezimmer ihrer Schwester zu ihrem Hauptwohnsitz erklärt. Das soll die gewaltigen finanziellen Zuschüsse für das Haus in ihrem Wahlkreis rechtfertigen , in dem sie mit Mann und Kindern lebt, offiziell die Zweitwohnung. Der "Daily Telegraph" , der die bisher geheim gehaltenen Abrechnungen einem Informanten abgekauft und veröffentlicht hat, wirft Premierminister Brown vor, immer noch eine Auge zuzudrücken, so der Chefkommentator Ben Brogan.

    "Die Öffentlichkeit hat allen Grund, misstrauisch zu sein. Mister Martin musste ja nur gehen, weil er sonst rausgeworfen worden wäre. Und dann stellt man sich schon die Frage, wie es mit den Abgeordneten weitergeht, die jetzt mit Dingen davonzukommen scheinen, die nicht in Ordnung sind.
    Die Wähler, unsere Leser, sind immer noch wütend, und es ist doch so, dass die Politiker, die jetzt alles Mögliche erklären, uns bisher keine saubere Lösung anbieten. Die Stunde der Wahrheit kommt wohl erst bei der nächsten Unterhauswahl, wenn die Öffentlichkeit von ihrem Recht Gebrauch machen kann, die Strolche rauszuwerfen."

    Mindestens die Hälfte der mehr als 600 Unterhausabgeordneten wird ihren Parlamentssitz verlieren, entweder durch Rücktritt, einen Rückzug oder durch eine Niederlage bei der nächsten Wahl. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Plymouth. Oppositionsführer Cameron hat angeboten, auch Menschen, die bisher nichts mit Politik zu tun hatten, als Kandidaten aufzustellen. Das Parlament müsse Vertrauen zurückgewinnen, so der Tory-Chef, der, wenn es günstig für ihn läuft, jetzt auch noch den EU-Vertrag von Lissabon kippen könnte. Cameron will eine von der Labour-Partei versprochene, aber nicht gewährte Volksabstimmung über die EU-Reform schnellstmöglich nachholen. Und sollte es noch im Herbst zu Neuwahlen kommen auf der Insel, würde das wohl auch das Aus für das umstrittene Dokument bedeuten. In Irland, wo die Bevölkerung die Lissabon-Vereinbarung mit ihrem "Nein" blockiert hat, muss erst noch ein zweites Referendum abgehalten werden. Und David Cameron hofft darauf, dass der Vertrag noch nicht in Kraft ist, wenn er an die Macht kommt.

    "Wenn ich als Premierminister gewählt werde und dieser Vertrag immer noch zur Debatte steht, dann werde ich ganz schnell ein Referendum ansetzen und den Leuten empfehlen, mit Nein zu stimmen, weil ich die europäische Verfassung nicht unterstütze. Und wir werden das nicht auf sich beruhen lassen, weil wir der Meinung sind, dass schon viel zu viel Macht von Westminster nach Brüssel abgegeben worden ist, und wir wollen einen Teil dieser Befugnisse zurück."

    Schon das, so argumentiert der Oppositionsführer, sei bei der Europawahl jetzt ein Grund, für die Konservativen zu stimmen. Schneiden die Tories gut ab bei dem Urnengang, erhöhe das den Druck auf Premierminister Brown, die Wahl zum Unterhaus schon auf den Herbst vorzuziehen. Und darauf drängen jetzt die meisten Briten nach dem Spesenskandal.

    Die Öffentlichkeit ist derart verärgert, dass 36 Prozent der Wähler eine sofortige Neuwahl wollen, weitere 30 Prozent eine Neuwahl noch in diesem Jahr – so geben Nachrichtensender die jüngsten Umfragen wieder. Zum ersten Mal wünscht eine Mehrheit demnach auch den sofortigen Rücktritt von Gordon Brown, der das Amt des Premierministers vor knapp zwei Jahren von Tony Blair übernommen hat. "Ermöglicht Neuwahlen, stürzt Brown", beschwört das Massenblatt "Sun" die Labour-Partei und auch der "Guardian", seine Kolumnistin Polly Toynbee, gibt dem Premierminister keine Zukunft mehr.

    "Für Gordon Brown ist es schon zu spät. Der tappt in jede Falle, scheint kein Fettnäpfchen auszulassen. Er müsste seiner Partei den Dienst tun, endlich zu gehen. Er hat es geschafft, zum unbeliebtesten Premierminister aller Zeiten zu werden. Labour steht in Umfragen so schlecht da wie noch nie seit fast 70 Jahren. Die wären doch verrückt, so weiterzumachen, in vollem Bewusstsein, dass sie nicht nur die nächste Wahlen verlieren, sondern auch noch eine so schlimme Niederlage riskieren, dass sie sich davon erst nach zwei, drei weiteren Wahlen wieder erholen können."

    Die Meinung, dass mit Gordon Brown kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist, dass er auch für seine Partei längst zu einer Belastung geworden ist, wird inzwischen offenbar auch schon von der Mehrheit der Labour-Mitglieder und –Anhänger geteilt. Mehr als 60 Prozent von ihnen plädieren nun für ein baldige Ablösung des Premierministers, so das Ergebnis einer Umfrage, die ein parteinaher Internetdienst jetzt veröffentlicht hat, der von Alex Smith betrieben wird.

    "Diese Umfrage zeigt, dass Gordon das Vertrauen der Basis der Labour-Partei verloren hat. Bei Männer wie Frauen und in allen Altersgruppen herrscht jetzt die Meinung vor, dass Gordon Brown nicht unbedingt der Mann ist, der die Labour-Partei in die nächste Wahl führen soll."

    Die meisten Labour-Anhänger wünschen sich demnach Gesundheitsminister Alan Johnson als Nachfolger. Und die Forderungen an Gordon Brown, zurückzutreten, seinen Platz räumen, dürften noch lauter werden, wenn die Regierungspartei, wie vorausgesagt, jetzt ein Debakel erlebt bei den Europa- und Kommunalwahlen. In einer Karikatur des "Guardian" kauft sich Gordon Brown schon seinen Sarg – und bittet um eine Spesenquittung.