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Britisches Gesundheitssystem
Schleichende Privatisierung

Viele Briten sind alarmiert: Sie fürchten, der überforderte staatliche Gesundheitsdienst NHS könnte privatisiert werden. Denn immer mehr Briten lassen sich privat versichern und entziehen damit dem staatlichen Dienst Ressourcen.

Von Marten Hahn | 20.03.2020
Schwangeres Paar bei der Ultraschalluntersuchung
Jeder Patient sucht die beste Behandlung - NHS-Aktivist O’Sullivan bedauert aber, dass dem öffentlichen System durch private Konkurrenz immer mehr Geld entzogen wird (imago / Monkeybusiness Panthermedia)
Jessica macht Tee, während ihr Baby auf dem Sofa einschläft. Ihr Sohn ist jetzt vier Monate alt.
"Die Geburt war eine großartige Erfahrung. Ich hatte einen Raum für mich, und die Hebammen waren fantastisch. Sie waren nur für mich zuständig und hatten immer alles im Blick. Wollte ich mehr Schmerzmittel, dauerte das nur zwei Minuten. Ich habe mich sicher und gut betreut gefühlt."
Privatpatientin: "Ich denke, dem NHS fehlen die Mittel"
Jessica, die eigentlich anders heißt, gehört zur kleinen, aber wachsenden Gruppe von Privatpatienten in Großbritannien. Die junge Mutter hat sich in ihrer Schwangerschaft gegen den staatlichen NHS und für eine Privatklinik entschieden.
"Ich fand den NHS wahnsinnig verwirrend. Ich verstand nicht, wie viele Untersuchungen wann und wofür geplant waren. Niemand erklärte irgendetwas. Es wird einfach erwartet, dass man zu diesen willkürlich gewählten Terminen auftaucht, in einem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt. Das war sehr unbequem."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Englischer Patient - Der Gesundheitsdienst NHS und der Brexit".
Die Kosten für eine Schwangerschaft im privaten System liegen umgerechnet zwischen 18.000 und 28.000 Euro. Jeder zusätzliche Bluttest kostet extra. Aber das war es Jessica wert, nicht nur aus Bequemlichkeit.
"Ich hörte auch immer mehr Geschichten von Freunden und Bekannten, die über ihre Erfahrungen mit dem NHS berichteten. Einiges klang fürchterlich. Das Risiko wollte ich nicht eingehen. Ich denke, dem NHS fehlen die Mittel, um sich vernünftig um Mütter zu kümmern."
Konkurrierende Systeme
Einige Aktivisten sehen Fälle wie Jessicas kritisch: Wer private Gesundheitsunternehmen unterstütze, entziehe dem staatlichen Dienst Ressourcen. Private Kliniken würden immer mehr Personal abwerben, dass der NHS dringend brauche, so das Argument. Privatpatientinnen wie Jessica würden so den NHS gefährden.
Ganz so harsch urteilt Tony O’Sullivan nicht. Der pensionierte Kinderarzt leitet "Keep Our NHS Public". Die Organisation setzt sich seit Jahren für den Erhalt des NHS als staatlichen Gesundheitsdienst ein.
"Ich verstehe absolut, dass eine einzelne Person, für sich oder Angehörige, die beste Entscheidung treffen muss. Eine private Behandlung würde ich deswegen bedauern, aber nicht kritisieren."
Für O’Sullivan handelt es sich um ein größeres, politisches Problem.
Privatisierung schon unter Thatcher und Blair
Vor allem den Konservativen wird vorgeworfen, den NHS mit ihrer Sparpolitik ruiniert zu haben. Die Tories regieren Großbritannien seit zehn Jahren. Aber O’Sullivan und Kollegen gründeten "Keep Our NHS Public" unter der Labour-Regierung von Tony Blair.
"Die Tony-Blair-Regierung ließ riesige Mengen Geld in den NHS fließen. Das war dringend nötig. Aber Blair führte auch den Trend fort, den Thatcher begann. Er ließ Krankenhäuser von Privatfirmen finanzieren, und der NHS mietete die Gebäude dann. Und er nutzte zu lange Wartelisten als Grund, um zunehmend Verträge für Dienstleistungen an private Anbieter zu vergeben."
Seitdem geht das Gespenst der Privatisierung um. Zuletzt befeuert wurde die Angst durch Donald Trump, der im vergangenen Jahr London besuchte und über das anstehende Handelsabkommen sagte: Alles stehe zur Debatte. Auch der NHS.
Aktivisten und Oppositionspolitiker schlugen schnell Alarm. Es ging die Angst um, der NHS könnte im Laufe der Verhandlungen scheibchenweise an US-Firmen verkauft werden. Handelsexperten halten einen Ausverkauf aber für unwahrscheinlich, darunter auch Dennis Novy, Wirtschaftsprofessor an der University of Warwick:
"Rein politisch wird es überhaupt keinen Sinn machen für die britische Regierung, sich darauf einzulassen. Zumal in den neuesten Handelsabkommen solche allgemein öffentlichen Dienste wie zum Beispiel Schulen, alles, was mit Militär zu tun hat, und auch Gesundheitssysteme häufig gar nicht von Handelsabkommen betroffen sind."
Outsourcing medizinischer Dienstleistungen
Aber NHS-Aktivist Tony O’Sullivan beruhigt das nicht. Die Privatisierung des NHS finde schon statt – auch ohne US-Firmen. Sich privat behandeln zu lassen, wie Jessica, sei nur die offensichtlichste Form. Subtiler sei das Outsourcen von medizinischen Dienstleistungen.
"Alle klinischen Dienstleistungen, die einen Vertragswert von über 600.000 Euro haben, müssen ausgeschrieben werden. Die großen Verträge werden dann in kleinere aufgeteilt. Darauf bewerben sich dann private Firmen wie Virgin oder Care UK. Die machen das sehr diskret. 7,1 Prozent aller klinischen Verträge sind mittlerweile in privater Hand."
Laut Untersuchungen landen so mittlerweile 18 Prozent des NHS-Budgets bei privaten Firmen. Dazu kommen gestiegene Kosten für die Verwaltung aller Verträge und Ausschreibungsverfahren, so O‘Sullivan. Dadurch gehe dem NHS dringen nötiges Geld verloren - ohne dass sich die Wartezeiten für Patienten verkürzt hätten.
"Das ist doch ein cleverer Weg, um öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren. Man unterfinanziert den staatlichen Dienst, bis er zusammenbricht. Dann fühlt sich die Öffentlichkeit im Stich gelassen und die, die es sich leisten können, lassen sich privat versorgen."
"Das Problem ist, das alle überlastet sind"
So wie Jessica. Die junge Mutter hält nichtsdestotrotz große Stücke auf den NHS.
"Der NHS ist eine brillante Institution. Die Menschen dort geben ihr Bestes. Das Problem ist, das alle überlastet sind."
Nach der Geburt ihres Sohnes, hat sich Jessica wieder in die Hände des NHS begeben.