Freitag, 19. April 2024

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Bruce Chatwin. Eine Biograhie

Wer war Bruce Chatwin? Nachdem vor zwei Jahren Susannah Clapp in einem ersten biografischen Versuch diese Frage weitgehend unbeantwortet ließ, hat nunmehr Nicholas Shakespeare das kometenhafte Leben Chatwins erforscht. Nicholas Shakespeare – als Romancier wie Journalist gleichermaßen renommiert - bringt alles mit, was ein Chatwin-Biograph benötigt: Ausdauer in der Recherche, Weltläufigkeit, Nüchternheit. Shakespeare kreist sein Objekt mit der Geduld und Akribie des Reporters ein, dem seinerzeit das Meisterstück gelang, den legendären Chef der peruanischen Maoistentruppe Sendero Luminoso aufzuspüren. Dieser tarnte sich unter falschen Namen und versteckte sich in den entlegensten Winkeln der Anden. Chatwin hingegen verbarg sich hinter einer ätherischen Wolke aus Flitter und Glanz, Arroganz und Blendung. Er war bezaubernd und saugrob, narzißtisch und großzügig, aufmerksam in seinen Geschenken und doch ein Schnorrer par Excellence. Chatwin war ein gesellschaftliches Ereignis, lange bevor er Schriftsteller wurde und Erfolg in diesem Metier hatte. Als unverwechselbares Kennzeichen hätte in seinem Paß stehen müssen: "Quatscht ununterbrochen.

Tobias Gohlis | 13.12.2000
    50 Interviews in 22 Ländern hat Shakespeare geführt, um ihn einzukreisen – kein Gesprächspartner, der nicht Chatwins unaufhörliches, manchmal brillantes, manchmal nervtötendes Dauergeschnatter in Erinnerung behalten hat. So mancher hielt ihn deshalb für verrückt, aber Chatwin sah außerdem auch noch verdammt gut aus. Übereinstimmung herrscht darin, dass Chatwins Auftreten einzigartig war. Susan Sonntag erinnert sich:

    «Er bot einen herrlichen Anblick.Es gibt nur wenige Menschen auf dieser Welt, deren Aussehen einen bezaubert und fasziniert. Der Magen fällt einem in die Kniekehlen, das Herz bleibt einen Moment lang stehen - man ist einfach nicht darauf vorbereitet. Ich habe es bei Jack Kennedy gesehen. Und Bruce hatte es. Es ist nicht bloß Schönheit, es ist ein Leuchten, etwas in den Augen. Und es wirkt auf beide Geschlechter.»

    Und Salman Rushdie, der mit ihm in Australien unterwegs gewesen war: « Er war so kolossal komisch, dass man sich vor Schmerzen am Boden krümmte. Wenn er in Fahrt geriet, konnten seine Geschichten einen umhauen.»

    Dem bizarren und polarisierenden Charakter Chatwins, dessen öffentliches Bild durch Eigenmystifizierung und -mythologisierung verzerrt ist, nähert sich Shakespeare mit größtmöglicher Neutralität. Er hat Meinungen und Anekdoten gesammelt, Kranken- und Kirchenberichte studiert, Einblick in Chatwins Notizbücher genommen und auch im Nachlaß gestöbert, der der Öffentlichkeit noch bis 2010 verschlossen sein wird. Jeder negativen Meinungsäußerung hat Shakespeare eine positive gegenübergestellt und sich bis auf ganz wenige Ausnahmen jeder eigenen Wertung enthalten. 800 Seiten umfaßt nunmehr die Buchfassung seiner Recherchen; auf jedes der knapp 49 Jahre, die Chatwin lebte, entfallen rund 17 Seiten.

    Chatwin begann spät zu schreiben – das bedeutet, dass 300 Seiten allein der Vorgeschichte des Schriftstellers gewidmet sind. Mit 29 hatte Chatwin sich bereits vom kleinen Registrator zum Direktor zweiten Ranges im Auktionshaus Sotheby hochgearbeitet, hatte dort gekündigt, zweieinhalb Jahre Archäologie studiert, geheiratet, und außer den USA in längeren Reisen Ägypten, Griechenland, Afghanistan, den Sudan, Moskau, Leningrad und praktisch das ganze westliche Europa aufgesucht. Bravourstückchen wie die Erstellung einer Echtheitsexpertise über ein impressionistisches Gemälde nach zwei Minuten Betrachtung fielen Chatwin leicht, fast ebenso leicht wie die verführerische Umgarnung greisenhafter Sammler, deren Schätze er unter Sothebys Hammer bringen wollte. Mit der Schriftstellerei hingegen tat sich Chatwin schwer.

    Seinen ersten Verlagsvertrag machte er über einen Essayroman. Darin wollte er seinen Lieblingsspleen beweisen, dass der Mensch zum Nomadentum geboren sei. 17 Jahre, von 1969 bis 1987, benötigte Chatwin, den Shakespeare übrigens stets vertraulich "Bruce" nennt, um den damals gezahlten Vorschuß von 200 Pfund einzulösen. Und letztlich ist es wohl auch seiner Aids-Erkrankung geschuldet, dass die Traumpfade erschienen, die ihn dann endgültig weltberühmt machten. Denn während alle Welt dem von Chatwin verbreiteten Gerücht aufsaß, er sei durch den Genuß eines giftigen 1000-jährigen Eis aus China erkrankt, sah er den Tod vor sich, nahm den Kampf gegen Krankheit, literarische Skrupel und Zeit auf und schloß endlich sein Werk ab. 1989 starb er, kurz vor seinem 49. Geburtstag.

    In der Nachzeichnung von Chatwins Liebesleben erweist Shakespeare sich als blendender Psychologe: ihm gelingt ein verständnisvolles Bild der komplizierten Ehe mit Elizabeth Chatwin und der noch viel vertrackteren Beziehungen zu Männern. Zahllose unbedeutende Mystifikationen und Legenden um Chatwin fallen wie nebenbei Shakespeares Akribie zum Opfer. Eher implizit durch Komposition seiner Recherche-Ergebnisse als explizit rückt Shakespeare vor allem zwei Vorstellungen zurecht, die auch hierzulande das Bild Chatwins prägen und noch im Klappentext des Buches ihren Niederschlag gefunden haben.

    1. Der Reiseschriftsteller: Als Chatwin für die Traumpfade einen Preis für Reiseliteratur erhalten sollte, bat er, man solle ihn von der Kandidatenliste streichen. Er wolle nicht in einem Atemzug mit Leuten genannt werden, die "Die Kykladen für fünf Dollar pro Tag" verfaßt hatten. Er bestand darauf, sein Romanessay beruhe zwar auf Erlebnissen, sei aber durch und durch erfunden. Auch wenn Shakespeare leider nur wenige Anhaltspunkte für Chatwins Kompositionstechnik und Erfindungsverfahren gibt, wird eins doch ganz deutlich: Chatwin war schon deshalb kein Reiseschriftsteller, weil er vom Reisen so gut wie nichts verstand. Er war zwar ständig unterwegs, hielt sich aber nirgendwo – außer zum Schreiben – länger auf. Selbst die Traumpfade, die ja zum Australienbuch per se avancierten, beruhen auf nicht mehr als zwei Reisen von insgesamt neun Wochen. In Australien verkehrte er fast ausschließlich mit Weißen, die etwas über Aborigines geforscht hatten, nicht mit diesen selber. Chatwin konnte auf Reisen nicht alleine sein, war extrem hypochondrisch und benahm sich zudem auch noch so naiv provokant, dass er mehrmals nur durch phänomenales Glück mit dem Leben davon kam.

    Wenn man unter einem Reiseschriftsteller jemanden versteht, der die tatsächlichen Erlebnisse und Erfahrungen seiner Reisen literarisch gestaltet, kann Chatwin höchstens als wahnhafter Reiseschriftsteller durchgehen. Denn seine Stärke oder sogar Genialität bestand nicht darin, Entdeckungen und Erfahrungen vor Ort zu machen, sondern die Leute und Schauplätze aufzusuchen und zu finden, die seinen fixen Ideen entgegenkamen. Deshalb sind fast alle Menschen, die er in seinen als Reise-Erzählungen mißverstandenen Texten porträtiert hat, auch ziemlich sauer auf Bruce, seien es seine walisischen Landsleute in Patagonien, die australischen Ethnologen oder die Vertreter von Aborigine-Interessen. Sie fanden sich darin nicht wieder.

    2. Der Nomadentheoretiker: Auf dem Klappentext heißt das "Migrationsforscher" und beweist nur, dass der Klappentexter nicht eine Zeile des betexteten Buches gelesen haben kann, denn dieser Begriff wäre selbst Chatwin nicht im Traum eingefallen. Aber auch mit seiner Nomadentheorie ist es wissenschaftlich gesehen nicht weit her. Alle Fachleute, die Shakespeare ausgiebig zitiert, billigen Chatwin bestenfalls zu, als begabter Dilettant einige faszinierende Thesen fürs Feuilleton aufgestellt zu haben, die keinen Bezug zur behaupteten Realität haben.

    Wer war aber Chatwin dann? Kein Reiseschriftsteller, kein Nomadentheoretiker. Als Kunstsachverständiger mit dem Auge gab er auf. Ein Romancier also.

    Aber darüber, über die Literatur, die Chatwin schrieb, schweigt sich Shakespeare eigenartig aus. Er beschreibt zwar des längeren und breiteren und für Chatwin-Fans auch von detektivischem Interesse, wie und wo er seine Texte recherchierte und schrieb, rekonstruiert Personen und Geschichten in ihren tatsächlichen Zusammenhängen, zitiert auch manche erhellende Beurteilung pro und contra. Aber über die Ästhetik, das Innovative und die Qualität seiner Arbeiten äußert der Biograph keine Meinung, entsagt sich jeder Analyse. Damit sind wir im Entscheidenden so klug als wie zuvor.

    Eine umfassendere, besser recherchierte Biographie über Chatwin wird es wohl kaum mehr geben. Doch Shakespeares Perspektive ist begrenzt. Für ihn ist Bruce = Bruce. Und um Bruce herum gab es nur Bruce’ Kontakte. Shakespeare verweigert jede kulturelle und zeitgeschichtliche Einordnung des Phänomens Chatwin, von dem doch kaum einer genau weiß, war es irgendwie epochemachend oder doch nur ein duftiges Lüftchen.

    Wer Chatwin war, müssen weiterhin seine Leser entscheiden. Einige werden ihn als Vorläufer auf den eskapistischen Pfaden des 68er Zeitgeists sehen, andere als erotisch faszinierenden Scharlatan, und wieder andere als recht talentierten Autor, der unter den vielfältigen Versuchen seiner Zeit, den alten europäischen Roman mit Fakten und Exoten aufzufrischen, einen unkonventionellen, romantischen Weg ging.