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Bruchstücke aus einer entschwundenen Welt

Er gehörte zu den musikalischen Wunderkindern und ihm war ein langes erfolgreiches Leben beschieden: Camille Saint-Saëns. Nach einer Karriere als Pianist, Komponist und Dirigent mutierte er in seiner zweiten Lebenshälfte zum Flaneur und Weltreisenden.

Von Frieder Reininghaus | 09.10.2010
    "O, da kommt der Elefant"

    Zumindest etwas gehört haben viele kleine und große Freunde der klassischen Musik von ihm - vom Komponisten des Charakterstücks "L'Éléphant" aus dem "Karneval der Tiere". Aber vielleicht konnten sie sich den Namen Camille Saint-Saëns nicht merken, als sie mit der aus vielen Miniaturen zusammengesetzten "Großen zoologischen Phantasie" Bekanntschaft machten.

    In ihr wimmelt es nur so von musikgeschichtlichen Reminiszenzen. Subtile Parodien auf die Zeitgenossen Berlioz, Offenbach und Rossini ließen es Saint-Saëns geraten erscheinen, die Gelegenheitsarbeit aus dem Frühjahr 1886 nicht zur Publikation freizugeben. Der erhabene Eindruck der gleichzeitig entstandenen Orgel-Symphonie op. 78, des orchestralen Hauptwerks, sollte nicht getrübt werden. Der Siegeszug des Tier-Karnevals begann erst, nachdem der Komponist Ende 1922 in Algier gestorben war.
    " ... und das ist, vielleicht der Schwan”

    Am 9. Oktober 1835 in Paris geboren, wurde Camille Saint-Saëns von seiner verwitweten Mutter und einer als Klavierlehrerin tätigen Großtante früh gefördert. Bereits mit zweieinhalb Jahren lernte er Noten lesen und Klavierspielen. Mit dreieinhalb legte das Wunderkind eine erste Komposition vor und demonstrierte sein absolutes Gehör. Rasch gelangte der Hochbegabte auf wohlbestallte professionelle Geleise. Über sich und sein erstes Konzert im größten Pariser Konzertsaal schrieb er:

    "... der Junge von zehn Jahren, zart, schmächtig, naiv, doch voller Glut und Freude maß sich [...] mit Mozart und Beethoven ..."

    Womöglich kam das Ausleben der Kindheit zu kurz über dem Studium der alten und auch neueren Meister, in deren Stilen er virtuos nachzuschaffen verstand. Saint-Saëns konnte "nach Belieben ein Werk à la Rossini, à la Schumann, à la Wagner schreiben". Aber gerade den Spuren Richard Wagners folgte er auch später ausdrücklich nicht:

    "Niemals erhebt er den Anspruch, irgend etwas reformieren zu wollen",

    resümierte Charles Gounod in seinen Memoiren. So eröffnete sich ein erfolgverwöhntes und erfolggekröntes Leben in konservativen Bahnen: Als 16-Jähriger gewann Saint-Saëns den ersten Preis des Konservatoriums seiner Heimatstadt im Fach Orgel und brachte seine erste Sinfonie zu Papier. Ein Jahr später wurde er als Organist an die Kirche Saint-Séverin verpflichtet und bereits 1857 gab er in Bordeaux sein Debüt als Dirigent.

    Die Presse begann seine "hervorragendsten französischen Eigenschaften" zu rühmen - vornan die "vollkommene Klarheit" seiner Schreib- und Spielweise. Keine Gattung ließ er aus: schrieb Messen, Kantaten und kleinere kirchenmusikalische Werke, große tragische und kleinere komische Opern, Symphonien und Sinfonische Dichtungen, Orgel- und Klavierwerke, Kammermusik und Lieder. Das Œuvre dokumentiert eine "hohe enzyklopädische Musikkultur".

    "Es ist bemerkenswert, wie wenig dieser hochgebildete Künstler durch sein Wissen behindert wird, wie frei er ist von jeder Pedanterie - dieser Pedanterie, die der wunde Punkt der deutschen Kunst ist",

    ... urteilte Romain Rolland, der Begründer der französischen Musikwissenschaft und Liebhaber der deutschen Tonkunst, und bescheinigte Saint-Saëns neben Zügen "einer melancholischen Mattheit" auch "nervöse Heiterkeit". Vor allem auch einen unkonventionellen Freiheitswillen.

    So war es alles andere als Zufall, dass der tragische Held Samson aus dem Alten Testament auch zum Protagonisten der ersten Oper von Saint-Saëns avancierte: Samson et Dalila kam 1877 am Theater in Weimar heraus. Neben dem als Prüfungsstück obligatorischen Cellokonzert op. 33 und einigen anderen Orchesterwerken hat sie sich im Repertoire gehalten.

    "Da liegt das Geheimnis seiner Persönlichkeit: Er bringt in die Unruhe unserer Kunst ein wenig vom Licht und von der Milde von einst, wie Bruchstücke aus einer entschwundenen Welt."