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Brücken
Metaphorisch-symbolisches Potenzial

Brücken verbinden, Brücken kann man hinter sich lassen: Das Bauwerk muss für viele Metaphern herhalten. Denn die Brücke ist nicht nur eine funktionale Konstruktion. Philosophie und Literatur schreiben ihr einen ästhetischen Wert und eine politisch-gesellschaftliche Funktion zu.

Von Judith Klein | 09.02.2014
    Es ist eine Binsenweisheit, dass Brücken der Verbindung dienen. Selten tritt die folgenschwere Tatsache ins Bewusstsein, dass dem Verbinden eine Getrenntheit und dem Überqueren eine Trennung vorausgeht.
    Was ist - über ihre unmittelbar praktische Zweckbestimmung hinaus - die Bedeutung der Brücken? Woher kommt ihr ästhetischer Wert, woher ihr metaphorisch-symbolisches Potenzial? Was bindet sie an die Natur und worin besteht ihre politisch-gesellschaftliche Funktion?
    "Nur dem Menschen ist es, der Natur gegenüber, gegeben, zu binden und zu lösen, und zwar in der eigentümlichen Weise, dass eines immer die Voraussetzung des anderen ist. Indem wir aus der ungestörten Lagerung der natürlichen Dinge zwei herausgreifen, um sie als 'getrennt' zu bezeichnen, haben wir sie schon in unserem Bewusstsein aufeinander bezogen, haben diese beiden gemeinsam gegen das Dazwischenliegende abgehoben. Und umgekehrt: Als verbunden empfinden wir nur, was wir erst irgendwie gegeneinander isoliert haben, die Dinge müssen erst außereinander [sic] sein, um miteinander zu sein."
    Simmels "hinübergreifender Geist"
    Der erste Philosoph, der die "Korrelation von Getrenntheit und Vereinigung" als Merkmal der Brücken eingehend betrachtet hat, war Georg Simmel. In seinem 1909 erschienenen Essay Brücke und Tür schrieb er:
    "Praktisch wie logisch wäre es sinnlos, zu verbinden, was nicht getrennt war, ja, was nicht in irgendeinem Sinne auch getrennt bleibt. […] Aber nun kommt die natürliche Form hier diesem Begriff wie mit positiver Absicht entgegen, hier scheint zwischen den Elementen an und für sich die Trennung gesetzt zu sein, über die jetzt der Geist versöhnend, vereinigend hinübergreift."
    Dem Simmelschen Bild des "hinübergreifenden Geistes" ist ein Begriff verwandt, den der Philosoph und Pädagoge Ernst Kapp 1877 in seinem Werk Grundlinien einer Philosophie der Technik geprägt hatte: "Organprojektion".
    Das Bild und der Begriff meinen ein projektives Verhalten, an dem die räumliche Wahrnehmung, Wille, Fantasie und Spiel beteiligt sind. Beide sind Schlüssel zum Verständnis des geschichtlichen Ursprungs der Brücken. In dem einen Fall greift der in einem Körper lokalisierte Geist über das Getrennte hinüber, in dem anderen projiziert sich der Körper als Brücke und setzt sich in der Konstruktion fort; beide zusammen, Geist und Körper, erschließen und gestalten die Welt.
    Diese Deutungen widersprechen nicht der Annahme, dass über Bäche gefallene Äste und Bäume einst als Vorbilder gewirkt und über ihren unmittelbaren Gebrauch hinaus einen Anstoß zum "Hinübergreifen", Projizieren und Herstellen gegeben haben.
    Körperlichkeit macht Brücken für Metaphern gebräuchlich
    Der Philosoph Hans Blumenberg hat hundert Jahre nach Ernst Kapp den Schlüssel der "Organprojektion" aufgegriffen, um den metaphorischen Gebrauch der "technischen Elementaridee Brücke" an ihren Ursprung zurückzubinden:
    "Waren solche Gebilde nicht 'erfunden', sondern 'projiziert', dann war ihr Gebrauch zu Metaphern nur die unverstandene Anamnesis ihres Ursprungs."
    Ob die Anamnesis - Wiedererweckung, Wiederkunft - des Ursprungs der Brücken in der Metapher unverstanden oder vielmehr unbewusst bleibt, die These des Philosophen Blumenberg wird durch literarische Bilder bestätigt, in denen jener Ursprung anklingt.
    "bridge, gäscher, köprü, most, pont ..."
    Weil Brücken eine Körperlichkeit besitzen und in ihrer Anschaulichkeit ein Bild für das Trennen und Verbinden sowie für das Projizieren menschlicher Leiblichkeit in die Welt abgeben, war und ist das Wort Brücke - für den übertragenen Gebrauch in Metaphern, Symbolen und sprachlichen Bildern äußerst geeignet.
    Martin Heideggers Gedicht "Der Steg" verkündet:
    "Wir sind der Steg / Der Steg ist uns";
    und ein berühmter Song der 1970er-Jahre verspricht:
    "Like a bridge over troubled water, I will lay me down."
    Brücken sind allgegenwärtig
    Geläufig sind uns "Redewendungen" wie: Brücken schlagen, goldene Brücken bauen, die Brücken hinter sich abbrechen. Einst "Wegbereiter eines neuen Sprachgebrauchs" - wie der amerikanische Philosoph Richard Rorty es formulierte - haben sie sich mit der Zeit "lexikalisiert", verfestigt, abgeschliffen, was ihre Wiederbelebung in neuen Kontexten nicht ausschließt. Darüber hinaus mag es dichterisch denkenden Menschen gelingen, unerwartete Brückenmetaphern oder -gleichnisse zu erfinden, "Blitzen gleich, die neue Wege bahnen" - so Rorty.
    Brücken lassen nicht gleichgültig. Manche bezaubern, andere versetzen in ehrfürchtig-furchtsames Staunen. Und sie sind allgegenwärtig - nicht nur als tatsächliche Bauwerke, sondern auch als Vorstellungsinhalte und Bilder. Heftig, ja schmerzlich sind sie und ihre Bildhaftigkeit zuweilen mit der politischen Geschichte verknüpft.
    Die "Alte Brücke" der bosnischen Stadt Mostar, Stadtteile und Bevölkerungen verbindend, symbolisierte über Jahrhunderte die ethnisch-kulturelle Vielfalt. Am 9.11.1993 wurde sie von kroatischer Artillerie beschossen. Das Bild der Zerstörung, das sie nun darbot, wurde zum Symbol der kriegerischen Völkertrennungen auf dem Balkan. Seit ihrem Wiederaufbau verkörpert sie die Möglichkeit des Sich-wieder-Annäherns, Sich-wieder-Verbindens.
    Ein ungewisses Schicksal auf der anderen Seite
    In Literatur und Film wird deutlich, dass Brücken manchmal nur zögernd betreten und überschritten werden. Ein resolutes "dorthin will ich" oder ein erleichtertes "es ist geschafft" ist nicht jedem Menschen gegeben. Manch einen lähmt die Furcht, jenseits der Brücke, im Bereich des Unbekannten, lauere ein ungewisses Schicksal oder ein nie wieder rückgängig zu machendes Ereignis. Einen Moment lang ist Umkehr noch möglich, doch gleich wird es um die Person und ihr weiteres Leben geschehen sein.
    Menschen, die lange Jahre abwesend waren und an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren, verweilen oft auf der Brücke, die dorthin führt: Was wird ihnen das andere Ufer bescheren? Etwa die schmerzliche Erkenntnis, dass nichts mehr so ist, wie es war, oder dass nichts so geworden ist, wie es hätte werden sollen? Wird sich der Ort als Fremde erweisen wie in W.G. Sebalds Rückkehr-Erzählung "Il ritorno in patria?":
    "Das Dorf lag "wie ich mir bei meiner späten Ankunft dachte, weiter für mich in der Fremde als jeder andere denkbare Ort."
    Zunächst aber betritt der Ich-Erzähler die Dorfbrücke und bekennt im Anklang an die ersten Sätze aus Franz Kafkas Roman "Das Schloss":
    "Auf der steinernen Brücke kurz vor den ersten Häusern von W. blieb ich lange stehen, horchte auf das gleichmäßige Rauschen der Ach und schaute in die nun alles umgebende Finsternis hinein."
    Zwielichtige Zwischenwelt
    Die Erzählung offenbart Eigenschaften und Seinsbedingungen von Brücken, die über die von Georg Simmel enthüllte "Korrelation von Getrenntheit und Vereinigung" und über die von Hans Blumenberg wiederentdeckte "Körperprojektion" hinausgehen, wenn sie sich auch daraus ableiten lassen:
    "Auf einem Schuttanger neben der Brücke, auf dem Salweiden, Tollkirschen, Klettenstauden, Königskerzen, Eisenkraut und Beifuß wuchsen, war hier in den Sommermonaten der Nachkriegsjahre immer ein Zigeunerlager gewesen. Wenn wir ins Schwimmbad gingen, das die Gemeinde im 36er-Jahr zur Förderung der Volksgesundheit hatte anlegen lassen, mussten wir bei den Zigeunern vorbei, und jedes Mal hat mich die Mutter an dieser Stelle auf den Arm genommen. Über ihre Schulter hinweg sah ich die Zigeuner von den verschiedenen Arbeiten, die sie stets verrichteten, kurz aufschauen und dann den Blick wieder senken, als grauste es ihnen. [...] Wo sie her waren, wie es ihnen gelungen war, den Krieg zu überstehen, und warum sie sich ausgerechnet den öden Platz an der Achbrücke zu ihrem Sommeraufenthalt gewählt hatten, das sind Fragen, die mir erst jetzt durch den Kopf gehen."
    Die in den beiden Zitaten erwähnte Brücke am Dorfeingang, neben dem Schuttanger, bildet mit ihrer Umgebung eine etwas zwielichtige Zwischenwelt, in der sich ausgestoßene Menschen und Dinge aufhalten; und sie ist ein herausgehobener, doch noch mit der Erde verbundener Standort, von dem aus die Hinüberschreitenden in die Tiefe und in die Ferne blicken und auf dem sie, solchermaßen exponiert, erblickt werden können: getauschte - verbindende oder trennende - Blicke.
    Franz Kafka hat um 1917 das Gleichnis "Die Brücke" geschrieben. Es beginnt lapidar und albtraumhaft:
    "Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich."
    Das "Ich", das nicht ganz aufhört, Mensch zu sein, spricht über sein Bemühen, die Aufgaben der Brücke, die es geworden ist, zu erfüllen: durch Sich-Festbeißen und durch Einbohren der Hände und Fußspitzen in "bröckelndem Lehm".
    "Strecke dich, Brücke!"
    Die Brücke wartet auf einen Fußgänger, der sie endlich einmal als solche erkennen, benutzen und anerkennen würde. Ihre Hoffnung wird schließlich wahr: Ein "Mannesschritt" ist zu hören! Im Bewusstsein ihrer mangelhaften Ausstattung ermahnt sie sich:
    "Strecke dich, Brücke, setze dich instand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. [...] Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber - gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal - sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. - Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten."
    Franz Kafka, Schriftsteller
    Franz Kafka schrieb das Gleichnis "Die Brücke" (AP Archiv)
    Die Bemühungen der Brücke scheitern: Auf ihre Fürsorglichkeit - "halte den dir Anvertrauten", ermahnt sie sich - antworten die Übergriffe des Mannes. Auf die nach Wissen gierende Frage "wer war er?" folgt der Sturz - ein Ereignis, das nicht nur Zerstörung bedeutet, sondern auch Erlösung von den vorausgegangenen Zwängen und Qualen. Auf die gegen sie verübte Gewalt antwortet die Brücke weder mit Gegengewalt noch mit Protest. Sie ist ganz und gar widerspruchslose Hinnahme und Zurückhaltung.
    Im Übrigen ist der Text selbst eine Brücke zwischen Mensch und Ding, die beide ein und demselben Gesetz unterworfen sind:
    "Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein."
    Zugleich könnte das Gleichnis Franz Kafkas, der die Werke Friedrich Nietzsches kannte, ein - ironisches, tragikomisches - Echo auf dessen Gebrauch der Brückenmetapher in "Also sprach Zarathustra" sein. Zarathustra verkündet und mahnt:
    "Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. [...] Ihr seid nur Brücken: Mögen Höhere auf euch hinüberschreiten! Ihr bedeutet Stufen: So zürnt dem nicht, der über euch hinweg in seine Höhe steigt."
    Getrenntheit empfinden
    Das Trennen und Verbinden ist beim Brückenbau folgenreicher und schwieriger als bei anderen Aktivitäten des Trennens und Verbindens: Aufgrund der reißenden Ströme, der tiefen Schluchten, der Abgründe, die zu überbrücken sind, und der ökonomisch-geopolitischen Interessen, die sich durchzusetzen wünschen.
    "Zunächst gibt es da das Problem des Anfangens, nämlich, wie wir von da, wo wir uns befinden, was bis jetzt nirgendwo ist, ans andere Ufer gelangen. Es ist ein einfaches Überbrückungsproblem, das Problem, wie man eine Brücke zusammenzimmert."
    Auch das Sich-Losreißen und Hinübergreifen einer einzelnen Person ist, wenn sie sich anschickt, eine Brücke zu überqueren, intensiver als etwa beim bloßen Weg- und Weitergehen. Sie kann die Getrenntheit von dem Ufer, der Seite oder dem Dasein, denen sie zustrebt oder von denen sie sich entfernt, empfinden. Diese komplexen Vorgänge hat der Schriftsteller John M. Coetzee in seinem 2003 erschienenen Buch "Elizabeth Costello" metaphorisch zur Sprache gebracht.
    "[...] Nehmen wir einmal an, dass es, wie auch immer, geschafft ist. Nehmen wir an, dass die Brücke gebaut und überquert wurde, dass wir uns nicht mehr damit zu befassen brauchen. Wir haben das Gebiet, in dem wir uns vorher aufhielten, hinter uns gelassen. Wir befinden uns auf der anderen Seite, wo wir sein wollen."
    Das Überqueren der Brücke führt also zu einem neuen, nicht unbedingt endgültigen Getrenntsein: von den Orten, den Tätigkeiten, den Menschen, die eben verlassen wurden. Für den Aufbruch zu neuen Ufern, für diesen Akt des Verbindens, ist der Preis der Trennung zu zahlen. Dass es sich um einen einschneidenden, manchmal abenteuerlichen, ja tödlichen Akt handelt, bezeugt der Ausdruck "alle Brücken hinter sich abbrechen".
    "Zwischen Asien und Europa gab es damals, 1967, noch keine Brücke. Das Meer trennte die beiden Seiten, und wenn ich das Wasser zwischen meinen Eltern und mir hatte, fühlte ich mich frei."
    Doppelrolle als Mittel von Übergängen und Ort von Untergängen
    Dass zuweilen eine solche Trennung - ob sie nun über eine Brücke erfolgt oder gerade in der Abwesenheit einer Brücke begründet liegt - als Befreiung empfunden wird, bezeugen diese Sätze aus Emine Sevgi Özdamars Werk "Die Brücke vom Goldenen Horn".
    In den Brücken schwingt die vorausgegangene Trennung als Möglichkeit immer mit; daher rührt ihre Doppelrolle als Mittel von Übergängen und Ort von Untergängen. Bei jeder Art von Gewalteinwirkung, in Kriegen und bei Naturkatastrophen, droht die Verbindung abzubrechen.
    Die Geschichte der Kriege könnte, bis ins 20. Jahrhundert, als eine der gesprengten oder bombardierten Brücken sowie der ersatzweise oder operativ gelegten Schwimmbrücken erzählt werden. Fremdherrschaft stützte sich häufig - je nach geografischem Milieu - auf die Einnahme der Brückenbauwerke; und die Befreiung von Gewaltherrschaft setzte die Bildung von Brückenköpfen und die Rücknahme der Brücken voraus.
    Mirko Bonné hat dieses Thema zu einem der Eckpfeiler seines Romans "Nie mehr Nacht" gemacht. Der Protagonist erhält den Auftrag, für ein Kunstmagazin die bekanntesten jener Brücken zu zeichnen, die 1944 nach der Landung der alliierten Truppen in der Normandie umkämpft waren. Je intensiver er sich mit den dramatischen Ereignissen um die Befreiung Frankreichs und Europas von der nationalsozialistischen Herrschaft befasst, desto unmöglicher wird es ihm, den Auftrag zu erfüllen und die Brücken zu zeichnen.
    Rettungen und tragische Unfälle
    Eine Brücke kann mitten im Krieg der Rettung von Menschen dienen, die von einer mörderischen Gewalt bedroht werden. Ein solches Ereignis trug sich Mitte 1942 in der polnischen Stadt Przemyśl zu. Dort bildete eine Brücke über den Fluss San den einzigen Zugang zum jüdischen Getto, das 1941 von den deutschen Besatzern eingerichtet worden war. SS und Gestapo begannen mit Massenerschießungen und Deportationen der Juden. Einer der Adjutanten des deutschen Militärkommandos, Albert Battel, suchte nach einem - und sei es, begrenzten - Ausweg: Er verlangte, dass die jüdischen Arbeitskräfte der Wehrmacht und ihre Familien verschont wurden. Als seine Forderung zurückgewiesen wurde, beschloss er in Übereinstimmung mit seinem Vorgesetzten, die zum Getto führende Brücke durch Wehrmachtsoldaten besetzen und für die SS sperren zu lassen. So gelang es ihm, mit Lastkraftwagen Hunderte jüdischer Arbeiter über die gesperrte Brücke aus dem Getto zu holen und einen Teil von ihnen zu retten.
    Im Jahre 1879 ereignete sich eine der größten Katastrophen des Brückenbaus: Die zwei Jahre alte Eisenbahnbrücke über den Tay-Fjord im Norden Schottlands - bei ihrer Eröffnung längste Brücke der Welt, Symbol von Macht und Fortschritt - brach am 28. Dezember unter der Last eines Eisenbahnzuges und der Windlast eines Orkans zusammen. Der Zug mit über siebzig Menschen an Bord versank in den Fluten. Nachlässige Planung und schlampige Bauausführung waren die Hintergründe der Katastrophe. Im Zuge der industriellen Revolution trat der Brückenbau seit Mitte des 19. Jahrhunderts in eine neue Phase der technischen Entwicklung, die zuweilen auf ein Fiasko hinauslief.
    Theodor Fontane schrieb die Ballade "Die Brück’ am Tay", die als Kritik an der technik- und fortschrittsgläubigen menschlichen Hybris aufgefasst wird. Ein Gewirr von Stimmen, Gesprächsfetzen, die wie der Sturm über die Brücke fegen, rahmen das eigentliche Geschehen ein: Es sind die Stimmen von drei Hexen, personifizierten Naturgewalten, Mächten des Bösen.
    "Dann wütender wurde der Winde Spiel, / Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel, / Erglüht es in niederschießender Pracht / Überm Wasser unten ... und wieder ist Nacht."
    Der Refrain der Hexen lautet:
    "Tand, Tand / ist das Gebilde von Menschenhand."
    Ästhetischer und artistischer Wert der Brücken
    Wenige Jahrzehnte später hob Georg Simmel die Schönheit der Brücken und ihre Nähe zur Kunst hervor:
    "Zu einem ästhetischen Wert wird die Brücke nun, indem sie die Verbindung des Getrennten nicht nur in der Wirklichkeit und zur Erfüllung praktischer Zwecke zustande bringt, sondern sie unmittelbar anschaulich macht. Die Brücke gibt dem Auge denselben Anhalt, die Seiten der Landschaft zu verbinden, wie sie ihn für die praktische Realität der Körper gibt. […] Die Brücke verleiht einem letzten, über alle Sinnlichkeit erhabenen Sinn eine einzelne, durch keine abstrakte Reflexion vermittelte Erscheinung, die die praktische Zweckbedeutung der Brücke so in sich einzieht und in eine anschauliche Form bringt, wie das Kunstwerk es mit seinem 'Gegenstand' tut."
    Der so erklärte ästhetische Wert der Brücken darf nicht ihre artistischen Elemente vergessen machen. Man denke an eine der ersten Pariser Eisenbrücken, den reich dekorierten Pont Mirabeau, der 1896 eingeweiht wurde. An den Pfeilern erheben sich allegorische Figuren: die Stadt Paris, die Schifffahrt, der Handel, der Überfluss. Solche Ornamente und Skulpturen haben Anteil am ästhetischen Wert einer Brücke. Georg Simmel zufolge sind sie sogar "der erschöpfendste Ausdruck" des "an sich unanschaulichen, seelischen oder metaphysischen Sinnes", den die Brücken veranschaulichen.
    Wie auch immer der ästhetische Wert der Brücken begriffen und beschrieben wird, fest steht, dass die bildenden Künstler diesen Wert kennen und hoch schätzen. In der traditionellen Landschaftsmalerei Japans und Chinas sind die Brücken zahlreich, wenn es auch meist winzige Stege in gewaltigen Szenerien sind, eingebettet in einen Kosmos aus Nebelschwaden, Bergen und Bäumen, naturverflochten und filigran wie die Wasserläufe. Wird ihre Materialität betont, so, um die Materie der Landschaft nachzubilden und fortzusetzen, wie etwa auf dem Bild "Die Brücke am Wasserfall"; aus den Felsen wachsend, ist sie selbst Fels unter Felsen. Die Entgegensetzung von Kultur und Natur scheint aufgehoben.
    In der europäischen Kunst wurden Brücken insbesondere in der Zeit des Impressionismus, Expressionismus und Kubismus zu Lieblingsobjekten der Maler. Manche, etwa Lyonel Feininger, bekannten sich ausdrücklich zu ihrer Vorliebe. Eine 1905 in Dresden gegründete Künstlergruppe gab sich den Namen "Die Brücke", sei es, weil die beteiligten Künstler zum „Uferwechsel“ - zum Verlassen der Konventionen - entschlossen, sei es, weil sie von den Brücken Dresdens fasziniert waren.
    Sich-Einfügen in die Natur
    Im Werk von Claude Monet zeigen sich Brücken zunächst als Lebensadern der modernen Gesellschaft, vielleicht auch als Hoffnungsträger nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und den folgenden, blutig niedergeschlagenen Aufständen.
    Der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer schreibt in seinem Buch Manet malt Monet über eines der Brückenbilder Monets:
    "Das lichtere Blau der eisernen Bögen und Verstrebungen leitet über zur Farbe des wolkigen Himmels. Es ist sehr französisch, wie sich hier Zivilisation und Natur, das konstruktive Genie des Ingenieurs, Himmel und Wasser miteinander vertragen. Landschaft ist nicht romantische Einsamkeit wie so gerne in der deutschen Malerei. In der Landschaft verkehren die Menschen miteinander, sie ist künstlich und natürlich zugleich."
    Natur ist - wie Hans Blumenberg festgestellt hat - einerseits …
    "Schrei nach dem Zügel und Zaum des Menschen [...], nach seinen Wegen und Brücken, nach seinen Greifern und Räumgeräten";
    … andererseits ist sie Widerstand gegen Ausbeutung und Zerstörung durch Technik. Sie schreit nach Schonung, und, was die Brücken angeht, nach Respekt vor deren natürlichen Ursprüngen und naturnahen Eigenschaften. Zu diesen gehört das Sich-Einfügen in die Natur, das zugleich ein Sich‑Unterscheiden von fast allen anderen Bauwerken ist; es beruht darauf, dass Brücken von ihrem Ursprung her etwas Rundlich-Uneckiges, Mildes, Offenes und zugleich Zurückhaltendes besitzen: Anders als Straßen, die ein endloses Netz bilden, zeigen sie, nicht ausufernd, ihren Anfang und ihr Ende an, indem sie den „Abstand ihrer Fußpunkte“ „anschaulich und messbar“ machen, wie Georg Simmel schrieb. Zugleich ist ihnen - anders als Zellen- und Kapselbauten, etwa Containern, Baracken und „weißen Kuben“ - Abschottung und "Verkapsulierung" fremd. Und als Überbrückende lassen sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Konstruktionen, den sie tragenden Grund frei, sichtbar für das Auge; sie verdrängen oder zerstören dort im besten Fall nichts. Auf den unter ihnen gelegenen Boden oder das unter ihnen fließende Wasser werfen sie bloß flüchtige Schatten und die Brückenlampen, in der Dunkelheit, Spiegelungen.
    Metaphorisch-symbolisches Potenzial
    Es ist das Überbrücken und Verschonen der Natur, das - neben der Veranschaulichung der menschlichen Urerfahrung des Trennens und Verbindens - die Faszination der Brücken und ihr metaphorisch‑symbolisches Potenzial heute noch ausmacht.
    Martin Heidegger, der darauf hinwies, dass die Sterblichen "immer schon unterwegs zur letzten Brücke" sind, verklärte das Wesen und die Eigenschaften der Brücken in poetisch-religiösen Bildern. 1951 teilte er in dem Vortrag "Bauen Wohnen Denken" das Folgende mit:
    "Auch dort, wo die Brücke den Strom überdeckt, hält sie sein Strömen dadurch dem Himmel zu, dass sie es für Augenblicke in das Bogentor aufnimmt und daraus wieder freigibt. [...] Die Brücke versammelt auf ihre Weise Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen bei sich."
    Neue Erkenntnisse der Statik, der Materialentwicklung und der Bauverfahren machten Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts ungeahnte Spannweiten, Längen und Höhen im Brückenbau möglich. Bei einer kleinen südfranzösischen Stadt wurde eine der längsten Multischrägseilbrücken der Welt eröffnet, der Viaduc de Millau, im ostchinesischen Meer eine der größten Hängebrücken, die Xihoumen-Brücke. In hoch industrialisierten Zonen sind Brücken anzutreffen, die andere Brücken überbrücken und sich übereinander auftürmen.
    Viele neue Brücken verstören
    Soll das empirische Sein der in Bau befindlichen oder unlängst eröffneten Brücken begriffen werden, ist es notwendig, die weitere Umgebung - horizontal und vertikal - in Betracht zu ziehen.
    Aufgrund verkehrstechnischer und anderer Zwänge werden heute viele Brücken in eine ausschließlich baulich-instrumentelle Beziehung zu den Ufern, Flussbändern, Städten und Landschaften gesetzt, den Blick auf diese verstörend.
    Blick auf die Baustelle Waldschlösschenbrücke in Dresden. Im Hintergrund die Altstadt mit der Frauenkirche.
    Blick auf die Baustelle Waldschlösschenbrücke in Dresden. Im Hintergrund die Altstadt mit der Frauenkirche. (AP)
    Die Dresdner Waldschlösschenbrücke veranschaulicht diese Tendenz. Zweifellos verbindet sie Stadtteile miteinander, doch an den Auen und an den Augen vergeht sie sich. Noch gravierender ist der Fall der im Bau befindlichen Brücke, die als dritte den europäischen und den asiatischen Teil Istanbuls, kurz vor der Mündung des Bosporus ins Schwarze Meer, verbinden soll.
    "Die Brücke, das ist nun absehbar, wird das historische Istanbul wie eine Mauer durchschneiden."
    Der Bewohner der Stadt, der dies feststellt, lässt interessanterweise die geläufige Metapher des Verbindens umschlagen: Eine Brücke "wie eine Mauer"...
    Eine Brücke wie ein Monster, ließe sich hinzufügen, denn sie wird sich in Tentakeln - einem Netz von Straßen- und Autobahnen, zum Teil auf Stelzen - fortsetzen, Bauten, die das Trinkwasserreservoir Istanbuls und die Tier- und Pflanzenwelt bedrohen. Wildschutzbrücken sind geplant, die das Zerschnittene, die Lebenswelt der Tiere, wieder verbinden sollen.
    Wo ist das Milde und Zurückhaltende der Brücken geblieben? Hat es sich zu den Brücken hingerettet, die, kürzlich erbaut, nutzlos im Nirgendwo liegen, weil die Anbindung an ein zulängliches Straßen- und Schienennetz fehlt? Zwischen Bulgarien und Rumänien existiert ein solches Bauwerk, das die Donau überbrückt, ohne die beiden Länder wirklich zu verbinden: die Brücke "Neues Europa". Es wird geraunt, sie sei einsturzgefährdet.