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Brüsseler Schicksalstage

Die EU lässt mit dem Gipfel von Brüssel die bleiernen Jahre hinter sich. Das ist die einhellige Reaktion unter den Mitgliedern auf das richtungsweisende Treffen. Die Beschlüsse zeigten, dass die EU auch in der großen Runde der 27 Länder noch handlungs- und entscheidungsfähig sei.

Von Volker Finthammer, Doris Simon, Peter Kapern und Ursula Welter | 23.06.2007
    "Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela, im Namen Europas danke ich sehr herzlich und freue mich auf weitere gemeinsame Arbeit."

    Blumen und Küsschen vom EU-Kommissionspräsidenten, überschwänglicher Dank von allen Seiten, nicht nur von Jose Manuel Barroso: Angela Merkel ist es nach zwei Tagen härtester Verhandlungen gelungen, den EU-Gipfel in Brüssel mit einem wirklichen Erfolg zu beenden. Heute früh um halb Fünf hatten die ersten Agenturmeldungen die Runde gemacht: Die 27 europäischen Staats- und Regierungschefs, hieß es, hätten sich auf den Weg zu einem neuen Grundlagenvertrag geeinigt, der die gescheiterte Verfassung ersetzen soll.

    Eine halbe Stunde später dann kam die Ratspräsidentin in den Pressesaal. Müde, mit roten Augen, aber zufrieden. Und weil nicht alle Journalisten dasselbe Durchhaltevermögen wie die Staats- und Regierungschefs bewiesen hatten, konnte sie sich einen kleinen Seitenhieb an die Adresse der zermürbten Medienvertreter nicht verkneifen:

    "Gestern Abend waren viel mehr hier als heute früh, dabei gab es gestern Abend viel weniger zu erzählen."

    Allerdings hatte die Bundeskanzlerin in diesem Moment ein wenig die Orientierung im Kalender verloren. Ihre vorangegangene Pressekonferenz hatte sie nicht gestern, sondern bereits vorgestern Abend abgehalten. Aber wem gelingt es schon, bei solchen Marathonverhandlungen die Übersicht über alle Details zu behalten. Begonnen hatte das Schauspiel am Donnerstag.

    Ein gemeinsames Abendessen der Chefs, Rollmops mit grüner Soße, während gleichzeitig die Chefunterhändler fieberhaft Kompromissformeln ausloteten. Aus der einen oder anderen Delegation sickerten Berichte über eine frostige Atmosphäre in den Pressesaal. Als Angela Merkel sich dann kurz vor Mitternacht mit den Journalisten traf, wollte sie dies nicht bestätigen. Ein paar Allgemeinplätze, ein paar Leerformeln. Das brachte ihr den Vorwurf der Presse ein, es mit der Geheimhaltung zu übertreiben:

    "Das ist schon etwas, was ja nicht nach jedem Abendessen geschieht, das man hat, dass man über das Gespräch berichtet. Und insofern ist das also schon für ein Abendessen ein hohes Maß an Transparenz."

    Zur gleichen Zeit versammelt die polnische Außenministerin Anna Fotyga die Journalisten ihres Landes um sich. Denen berichtet sie von der wachsenden Popularität der polnischen Quadratwurzel. Allerdings muss sie einräumen, dass sich die Anhänger dieses Rechenmodells nicht im Sitzungssaal der Regierungschefs finden:

    "Die Stärke unserer Position resultiert aus dem Gewicht unseres Vorschlags. Er wird bereits von vielen Medienvertretern unterstützt. Dieser Vorschlag ist gerechter als das, was im Verfassungsentwurf vorgesehen ist."

    Der nächste Tag stand ganz im Zeichen des Beichtstuhls. Das ist ein traditionelles Mittel, um in der EU schwierige Kompromisse zu finden. Der jeweilige Ratspräsident ruft die Sorgenkinder zu sich, einzeln und nacheinander. Dort sollen sie offen legen, wo ihre Schmerzgrenze liegen. Angela Merkel will den Beichtenden das Geständnis möglichst angenehm machen und hat den Raum in der fünften Etage des Brüsseler Ratsgebäudes über und über mit Blumen schmücken lassen.

    Vielleicht lässt ja dies den polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski schwach werden. Nach mehreren Vier-Augen-Gesprächen mit der Kanzlerin wird am Nachmittag ein vorläufiger Kompromiss vereinbart. Wie vorläufig der ist, zeigt sich drei Stunden später. Der andere Kaczynski, Ministerpräsident Jaroslaw, lehnt den Kompromiss ab. In Warschau verkündet er dies im Fernsehen. Da reißt Angela Merkel der Geduldsfaden. Sie stellt Polen in die Ecke und lässt wissen, dass sie nun nur noch im 26er-Kreis weiterverhandeln will. So etwas hat es in der EU seit 20 Jahren nicht mehr gegeben.

    Der Schachzug zeigt Wirkung. Vier Staats- und Regierungschefs, Sarkozy, Blair, Zapatero und Juncker, greifen zum Telefonhörer, versuchen den abwesenden Kaczynski umzustimmen. Jean-Claude Juncker macht den rettenden Vorschlag, Polen lenkt, nach weiteren Zugeständnissen der EU-Partner, ein. Ein paar Stunden später, um halb fünf Uhr heute früh, sind dann auch die letzten Vorbehalte anderer Länder gegen den Kompromiss ausgeräumt. Angela Merkel hat sich durchgesetzt, und selbst der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski gibt sich am Ende überschwänglich

    "Ich bin sehr glücklich und das nicht nur über das Ergebnis, sondern damit, wie die Zusammenarbeit mit denjenigen EU-Mitgliedern lief, für die die polnischen Forderungen besonders schwierig waren. Das ist wirkliche Solidarität zwischen den Ländern."

    Der Mandatsentwurf. auf den sich die Staats- und Regierungschefs in der Nacht zum Samstag geeinigt hatten, war längst noch nicht in alle 23 Amtssprachen der Europäischen Union übersetzt, da meldete sich der europakritische britische Think Tank "Open Europe" schon zu Wort, mit dem Vorwurf, die Staats- und Regierungschefs hätten trotz aller Streitigkeiten der im Jahr 2005 in Referenden in Frankreich und den Niederlanden klar abgelehnten Verfassung nur einen neuen Namen gegeben. Denn in nur 3 von 40 inhaltlichen Punkten habe es Änderungen gegeben. Die britische Regierung müsse deshalb ihr Versprechen einlösen und eine Referendum abhalten.

    Auch in den Niederlanden verlangen die oppositionellen Sozialisten, die vor zwei Jahren eine große und erfolgreiche Kampagne gegen die EU-Verfassung geführt hatten, bereits ein weiteres Referendum. Der Gipfelkompromiss ist daher nicht mehr als ein Teilerfolg und ein erster Schritt hin zu dem möglichen Vertrag. Die durch den heutigen Beschluss beauftragte Regierungskonferenz soll dem von 11 auf 17 Seiten angewachsen Entwurf folgen und bis um Ende des Jahres den Reformvertrag mit den geforderten Änderungen vorlegen.

    "Unser Ziel aus der Berliner Erklärung war ja, dass dieser Vertrag 2009 in Kraft treten kann, dass also die Ratifizierungsverfahren noch abgeschlossen sind. Mit der Tatsache, dass wir jetzt eine Regierungskonferenz haben können, die bis Ende 2007 abgeschlossen ist, haben wir dafür die Voraussetzungen geschaffen","

    sagt die Ratsvorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel. Um eine erneute Ablehnung des neuen Vertrages bereits im Vorfeld zu verhindern, wurde bis zuletzt nach den Kompromissformeln gesucht, mit denen alle Seiten leben können. Denn schließlich muss der Reformvertrag am Ende von den Regierungschefs einstimmig angenommen und von allen Mitgliedsstaaten erneut ratifiziert werden, um angenommen zu werden.

    """Das ist aus der Erfahrung geschehen, dass die Unterzeichnung eines Vertrages noch nicht die Garantie ist, dass dieser Vertrag auch wirklich in Kraft treten kann. Und deshalb haben wir alles daran gesetzt, dass jetzt die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen auch dann in Kraft tretenden Vertrag haben, sehr groß ist."

    Unter anderem deshalb ist nicht mehr von der Verfassung die Rede, sondern schlicht vom einem Reformvertrag. Verzichtet wird darin auf alles, was auf ein einheitliches Erscheinungsbild hinweisen könnte wie etwa die Fahne, die zwölf gelben Sterne auf blauem Grund oder die Europahymne. Doch jenseits dieser Symbolik schreitet die EU einen großen Schritt voran. Denn bei den institutionellen Reformen hat es letztlich so gut wie keine Abstriche gegeben. Statt der halbjährlich wechselnden Ratspräsidentschaften - die deutsche endet in einer Woche - soll ein gewählter EU-Präsident den Vorsitz für die Dauer von zweieinhalb Jahren übernehmen.

    Künftig soll es zudem deutlich mehr Bereiche geben, so etwa in der Justiz und Innenpolitik, in denen nach dem Mehrheitsprinzip entschieden wird. Am System der doppelten Mehrheit, das zum einem jedem Land eine Stimme und im zweiten Schritt auch die Bevölkerungszahlen zueinander ins Gewicht setzt und berücksichtigt, soll festgehalten werden. Die harte Haltung Polens hat jedoch dazu geführt, dass dieses System erst ab dem Jahr 2014 in Kraft tritt mit einer Übergangsfrist bis zum Jahr 2017.

    "Tja, es war nicht anders möglich."

    Bis zum Jahr 2014, aber längstens bis zum Jahr 2017 gilt das jetzige Abstimmungssystem des Vertrages von Nizza weiter, das Polen aber auch Spanien gegenüber Deutschland und Frankreich ein verhältnismäßig größeres Gewicht einräumt als im System der doppelten Mehrheit. Damit aber wird man leben können, denn ohnehin spielen Mehrheitsentscheidungen, knappe zudem, im alltäglichen Geschäft der EU keine große Rolle.

    ""Insofern bin ich mit der Entscheidung sehr zufrieden und sage, wir haben angesichts einer wirklich schwierigen Diskussionslage vor diesem Rat es geschafft, dass keiner jetzt nach Hause fährt und den Eindruck hat, er steht irgendwo in der Ecke."

    Ergänzend dazu sollen die Zuständigkeiten zwischen der EU und den Nationalstaaten nach dem Subsidiaritätsprinzip stärker voneinander abgegrenzt werden. Eine Forderung, auf der nicht nur die Niederlande beharrten, sondern die auch in der deutschen Europapolitik seitens der Union immer wieder herausgestellt wurde. Dazu soll ein Verfahren verankert werden, wodurch die Bedenken der nationalen Parlamente gegen Vorschläge der EU-Kommission stärker berücksichtigt werden sollen. Von einer Roten Karte der nationalen Parlamente kann aber keine Rede sein.

    Erstmals in ihrer Geschichte bekommt die EU einen Außenminister, der jedoch aus Rücksicht auf Großbritannien nicht so heißen darf, sondern als der Hohe Repräsentant der Union für Außen- und Sicherheitspolitik firmiert:

    ""Aber das Amt wird genau das gleiche sein. Das heißt, es wird nur noch eine Person innerhalb der EU geben, und diese Position wird gleichzeitig Vizepräsident der Kommission sein, so wie es im Verfassungsvertragsentwurf vorgesehen ist."

    Deshalb wird die EU künftig auch als einheitliche Rechtspersönlichkeit in Erscheinung treten, was eine neue Qualität in der Integration der Staatengemeinschaft darstellt. Auch die bereits im Jahr 2000 beschlossene Grundrechte-Charta soll mit dem Reformvertrag rechtsverbindlich werden, allerdings nur über einen Verweis. Um den britischen Befürchtungen vor Auswirkungen auf die liberalere Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung entgegenzukommen, wurden Ausnahmeregeln festegelegt, die dazu führen sollen, dass die Bestimmungen der Charta in keiner Weise die britische Rechtssprechung beeinflussen können. Von einer europäischen Verfassung wird in Zukunft keiner mehr sprechen, sagt die Ratsvorsitzende Angela Merkel, aber:

    "Die ganze Konstruktion ist eine andere, und die Substanz ist trotzdem in hohem Maße erhalten, so dass ich sagen würde, da ist vieles erreicht und vieles möglich, was im Verfassungsvertrag auch so war."

    In Amsterdam im Juni 1997 schien die Welt noch in Ordnung. Der Befund war eindeutig und unstrittig: Ein größeres Europa braucht straffere Entscheidungsstrukturen. Die Kommission solle verkleinert, die Stimmenverteilung im Rat neu gewichtet werden, so lauteten die Beschlüsse von Amsterdam. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl:

    "Der Vertrag von Amsterdam ist nach meiner Auffassung eine solide Grundlage für die vor uns liegenden Aufgaben."

    Von der Absichtserklärung bis zum heutigen Tag sind also zehn Jahre vergangen. Dabei hatte schon das Gipfeltreffen von Nizza im Dezember 2000 tragfähige Entscheidungsstrukturen bringen sollen. Doch ein historischer Markstein wurde Nizza in ganz anderer Hinsicht: Es wurde das Gipfeltreffen der vertanen Chancen. Denn tragfähig für eine immer größer werdende Europäische Union waren die Beschlüsse von Nizza nicht. Nationale Egoismen ließen den Vertrag von Nizza zu einem in jeder Hinsicht unzureichenden Dokument werden, das bis heute gültig ist. Nicht zuletzt der Abstimmungsmodus missriet zu einem komplizierten Etwas, das den Namen "Klare Entscheidungsstruktur" nicht verdiente.

    Ein Jahr nach dem Mittelmaß von Nizza entschied der Europäische Rat im belgischen Laeken die Einsetzung eines Konvents, der einen demokratischen und bürgernahen Vertrag ausarbeiten soll. Das neue Vertragswerk soll unter dem Vorsitz des früheren französischen Präsidenten Valery Giscard d'Estaing ausgearbeitet und anschließend einer Regierungskonferenz vorgelegt werden-

    In elf Arbeitsgruppen und drei Arbeitskreisen beriet der Konvent, er tagte 27 Mal und legte im Juni 2003 dem Europäischen Rat von Thessaloniki den Verfassungsentwurf vor. Konventspräsident Valéry Giscard d'Estaing hatte auf den weitreichenden Begriff "Verfassung" bestanden. Die Geschichte sollte zeigen, dass nicht zuletzt diese Symbolik Teil des Problems werden würde.

    Im Oktober 2003 begann die Regierungskonferenz- jenes Instrument, das zur Änderung der EU-Verträge zwingend eingesetzt werden muss. Die "Beschlussfassung über den Verfassungsentwurf", wie die Aufgabe der Regierungskonferenz offiziell hieß, scheiterte. Schon die Konventsfassung hatte, was die künftigen Abstimmungsregeln im Europäischen Rat betraf, die Kritik Spaniens und Polens provoziert. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder:

    "Der polnische Präsident beharrt noch auf Veränderungen substanzieller Art, und die kann es wegen der Güte des Vorschlages vom Konvent nicht geben. Man kann nicht Neumitglied in der EU werden wollen und diese Mitgliedschaft mit einem Veto beginnen wollen."

    Man kann. Die Tagung des Europäischen Rates in Brüssel im Dezember 2003 scheitert. Eine Einigung über den Verfassungsentwurf kommt nicht zustande. Die Frage der "doppelten Mehrheiten von Staaten und Bevölkerung" lässt sich nicht lösen.

    Doch nur drei Monate später beschließt der Europäische Rat in Brüssel, einen neuen Anlauf zu wagen. Und tatsächlich gelingt es, Spanien und Polen mithilfe finanzieller Zusagen umzustimmen, so dass sich im Juni 2004 alle 25 Mitgliedstaaten auf den Verfassungsvertrag einigen, der am 29. Oktober 2004 in Rom auf dem Kapitol feierlich unterzeichnet wird. Nach und nach laufen in den einzelnen Staaten die Ratifizierungsverfahren an, aber schon im ersten Halbjahr 2005 sagen die Franzosen "Non" und die Niederländer "Nee" zum Verfassungsentwurf, andere wie Großbritannien blasen ihre Referenden daraufhin ab. Jean-Claude Juncker, Luxemburgs Premier, ist Ratsvorsitzender in dieser Zeit.

    "Ich stelle fest, dass der gesunde Menschenverstand in kleineren Staaten besser entwickelt ist als in Flächenstaaten."

    Was folgt, ist eine so genannte Denkpause der Europäer. Der Verfassungsentwurf in der Fassung von 2004 gilt jetzt, drei Jahre später, als tot. Der Name Verfassung ist gestrichen.

    "Europa hat innere Gegner, die sich da gezeigt haben, und es war ein sehr entschlossener Kampf","

    sagt der grüne Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber. Die EU lässt mit diesem Gipfel die bleiernen Jahre hinter sich, das ist die einhellige Reaktion heute in Brüssel. Die Beschlüsse zeigten, dass die EU auch in der großen Runde der 27 Länder noch handlungs- und entscheidungsfähig sei. Joachim Fritz-Vannahme, der Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung, bewertet den Gipfelkompromiss allein schon deshalb als Erfolg:

    ""Seit 15 Jahren verhandelt die EU über neue vertragliche Grundlagen. Und diese 15 Jahre haben die EU in vielerlei Hinsicht all zu sehr beschäftigt. Diese 15 Jahre sind jetzt Gott sei Dank endgültig erst mal vorbei. Mit dem, was da letzte Nacht erreicht worden ist, kann die Union in den nächsten Jahren effizienter arbeiten als in der Vergangenheit."

    Mehr Handlungsfähigkeit für die EU, das war eines der Hauptziele der gescheiterten Europäischen Verfassung gewesen. Dass das gerechtere und einfachere Stimmverfahren der doppelten Mehrheit erst bis 2017 eingeführt werde, sei ein Wermutstropfen, meint der Sozialdemokrat Jo Leinen, Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europaparlament, aber ein Wermutstropfen, den die Mehrheit der Gipfelrunde zu Recht hingenommen habe-

    ""Noch länger das hinauszögern, hätte keinen Mehrwert gebracht, im Gegenteil, Gelegenheit macht Diebe. Die Gefahr war doch groß, dass noch weitere Länder mit Sonderwünschen kommen. Das musste jetzt unter deutscher Präsidentschaft durchgebrochen werden, weil die andern vielleicht noch weniger Möglichkeiten gehabt hätten, diesen Sack voller Flöhe zusammenzubinden."

    Gelitten unter all den Forderungen, Sonderwünschen und Vetodrohungen hat auch die Sprache in dem Dokument, das den Weg zu einem neuen Grundlagenvertrag frei machen soll: Es ist ein Text geworden, den nur Europapolitiker und Kenner des europäischen Rechts verstehen, absolut unleserlich. Die deutsche Ratspräsidentschaft wollte damit garantieren, dass alle Gipfelteilnehmer das Papier ohne Bauchschmerzen unterschreiben können: Die Niederländer und Briten können nun beruhigt behaupten, dieses Juristenchinesisch sei doch beim besten Willen keine Europäische Verfassung, die von der Bevölkerung ja abgelehnt worden war.

    Doch das Ziel der Bürgernähe durch Lesbarkeit, das Verständlichmachen dessen, wofür Europa steht und was es sein will, dieses Ziel ist auf der Strecke geblieben. Für Joachim Fritz-Vannahme ist es mehr als nur ein Makel:

    "Das ist eine sehr unglückliche Situation, weil der Bürger ja schon ganz gerne verstehen möchte, was da eigentlich verhandelt wird. Die Eleganz des, sagen wir mal, ersten Teils des Verfassungsvertrages oder die Lesbarkeit der ersten 30, 40 Artikel des Grundgesetzes erreicht dieses Konvolut auf gar keinen Fall."

    Dass der britische Premier Tony Blair durchgesetzt hat, dass die Grundrechte-Charta nicht für sein Land gilt, hält der grüne Europaabgeordnete Voggenhuber für unannehmbar. Er will dafür kämpfen, dass das Europaparlament in diesem Punkt dem heute beschlossenen Gipfelentwurf nicht zustimmt:

    "Ich sehe Putin grinsen übers ganze Gesicht. Europa stellt sich hin und ist nicht im Stande. den Kernbestand der eigenen Wertegemeinschaft, den es vor den eigenen Bürgern und der ganzen Welt beschwört, den eigenen Bürgern zu garantieren, allen eigenen Bürgerinnen und Bürgern zu garantieren. Das beschädigt die Integration und die Würde dieses Projektes im Kern Und wir sollten den Briten sagen, wollt ihr Teil sein, dann ganz und ohne opting-out aus den Grundwerten Europas, oder nicht, dann seid gute Nachbarn."

    Auch Joachim Fritz-Vannahme von der Bertelsmann-Stiftung hält die Politik des scheidenden britischen Premierministers Tony Blair für gefährlich. Blair gehe es nicht darum, etwas für sein Land herauszuholen, er wolle vielmehr die anderen ausbremsen:

    "Die Briten haben im Moment unter Tony Blair zusehends die Tendenz entwickelt, andere an etwas hindern zu wollen. Und ich glaube, das war das, was hier auf dem Gipfel auch viele Regierungschefs dann so aufgebracht hat. Blair hat sich sehr lange, sehr geschickt hinter der polnischen Position einfach versteckt und ist erst im aller letzten Moment aus der Deckung getreten und hat da sehr kategorisch gesagt, das und das und das wird mit uns nicht stattfinden."

    Diejenigen EU-Länder, die zu weitergehenden Schritten bereit sind, sollen sich in Zukunft öfter ohne Großbritannien oder andere unwillige EU-Mitglieder zusammenschließen, fordert der Vorsitzende des Verfassungsausschusses, Jo Leinen:

    "Wir brauchen, glaube ich, mehr verstärkte Zusammenarbeit unter den Mitgliedsländern der EU."

    Dass der Gipfel ein Erfolg wurde, schreibt nicht nur der grüne Abgeordnete Voggenhuber allein der Bundeskanzlerin zu. Immer ruhig, immer freundlich, aber ebenso entschlossen: Ohne Angela Merkels Drohung, 26 EU-Länder würden auf der Regierungskonferenz notfalls auch ohne Polen den Weg zu einem neuen Grundlagenvertrag beschreiten, hätte es keine Einigung gegeben, davon ist der grüne Europaabgeordnete überzeugt:

    "Da hat eine Figur, eine Frau die europäische Bühne betreten, von der ich heute sagen muss nach dieser langen Nacht, ich habe keine anderen Europäer gesehen, wenige, und keine solchen, das war schon erstaunlich."