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Buch der Woche
Danilo Kiš - ein literarischer Familienchronist

Danilo Kiš gilt heute als der wichtigste Autor des modernen Jugoslawiens. Er wurde nur 54 Jahre alt und starb 1989. Nun erscheint eine umfassende Ausgabe seiner wichtigsten Romane und Erzählungen. Die Herausgeberin ist sich sicher: Hätte Kiš länger gelebt, wäre er irgendwann Nobelpreisträger geworden.

Von Helmut Böttiger | 23.11.2014
    In einer alten mechanischen Schreibmaschine steckt ein Blatt Papier.
    Die Figur des Vaters verliert bei Danilo Kiš nie seinen Zauber und ist zuweilen mythologisch aufgeladen. (picture alliance/dpa-Zentralbild - Matthias Tödt)
    Jeder, der sich mit der Literatur dieser Region beschäftigt, sagt heute, dass Danilo Kiš in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der bedeutendste Schriftsteller Jugoslawiens gewesen ist. Sein früher Tod, im Alter von 54 Jahren im Jahr 1989, setzte jedoch auch für seine Rezeption eine schmerzhafte Zäsur. Außerdem gab es noch einen anderen, tief greifenden Einschnitt: Kiš starb zur selben Zeit, als auch sein Land Jugoslawien zu zerfallen begann. Nach seinem Tod gab es kein Land mehr, das ihn als Autor für sich reklamieren und seine Heimat sein wollte. In dem Band, der jetzt zum 25. Todestag Kiš' erscheint, sind seine fünf wichtigsten Bücher versammelt. Einiges fehlt allerdings. Man kann zum Beispiel sein Debüt "Die Dachkammer" von 1962 durchaus vermissen: die spielerisch-ironisch umkreiste Genese eines jungen Provinzlers, der in einer Dachkammer in Belgrad zu sich selbst kommt und Schriftsteller wird. Berühmt wurde Kiš aber durch eine Trilogie, die aus verschiedenen Perspektiven seine Familiengeschichte zeigt. Die drei Bücher haben die Titel "Garten, Asche", "Frühe Leiden" sowie "Sanduhr" und sind im Original 1965, 1969 und 1972 erschienen. Spaßeshalber nannte Danilo Kiš diese Romane zusammenfassend "Familienzirkus", deshalb hat die Herausgeberin Ilma Rakusa dem neuen Sammelband diesen Titel gegeben. Der Familienzirkus besteht in allererster Linie aus dem Vater, als literarische Figur heißt er Eduard Sam. Die autobiografische Grundlage ist unverkennbar. Der Übergang zu fiktiven, symbolisch-überhöhten Momenten wird aber nie markiert. Das schafft einen schwebenden, lyrischen Zwischenzustand.
    Zitat:
    "Und wie er so über den Damm ging, in seinem schwarzen Gehrock, den Stock durch die Luft schwingend, schwankend wie ein Schiffsmast, mit seinem vergilbten Kautschukkragen, seiner Nickelbrille, ins Leere starrend, trat mein Vater in die Landschaft wie in ein gerahmtes Bild und verlor jeglichen Zauber."
    Kiš versucht immer neue Anläufe, das Schicksal seines Vaters literarisch festzuhalten und zu bannen. Der reale Vater, Eduard Kiš, entstammte einer jüdischen Familie namens Kohn, die sich in Ungarn niedergelassen hatte. Zur Zeit von Danilos Geburt lebte er in der jugoslawischen Vojvodina, in Subotica an der Grenze zu Ungarn, war mit einer serbisch-orthodoxen Montenegrinerin verheiratet und hatte als Oberinspektor bei der jugoslawischen Eisenbahn gearbeitet. Einer einheitlichen Nation ist diese Biografie also keineswegs zuzuschreiben, Eduard Kiš war ein typischer Vertreter einer Kultur, in der sich die verschiedensten Einflüsse mischten – Ungarisch, Serbokroatisch und Deutsch wurden gleichermaßen gesprochen. Er verfasste ein Werk, auf das der Sohn in literarisch verwandelter Weise öfter zu sprechen kommt: einen "Fahrplan des Schiffs-, Eisenbahn- und Flugzeugverkehrs", der in den Anrufungen des Sohnes zu so etwas wie einem mythischen Weltatlas wird, der alle dem Menschen zugänglichen Erkenntnisse über Zeit, Leben und Universum verarbeitet und transformiert hat.
    Im Alter von 38 Jahren wurde Kiš' Vater, 1928, von der Eisenbahn entlassen. Das aktualisierte psychische Probleme. Die längere stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik wird vom Sohn in seinen Werken des öfteren thematisiert. 1931 heiratete Eduard Kiš, ein Jahr darauf wird eine Tochter geboren, vier Jahre später der Sohn Danilo. Die 30er-Jahre stehen aber auch im Zeichen verschärfter politischer Krisen, Nationalismus und Rassismus werden dominierende Strömungen. Kiš' Vater wird 1941 zur Zwangsarbeit verschickt, entrinnt in Novi Sad dem bereits sicher geglaubten Tod und kommt bei ungarischen Verwandten unter bedrückenden Verhältnissen in einem Dorf unter. 1944 verbringt man ihn zusammen mit den meisten Verwandten ins Ghetto einer ungarischen Kleinstadt, von dort führt der Weg nach Auschwitz.
    Der kleine Junge als autobiografische Folie
    In den drei Romanen "Garten, Asche", "Frühe Leiden" und "Sanduhr" erscheint das Leben des Vaters in sehr unterschiedlicher Weise. In "Frühe Leiden" wird alles durch die Augen des kleinen Jungen, der autobiografischen Folie von Danilo Kiš, gesehen, der Autor sprach selbst von einem unmittelbaren, naiven Zugang zu den Ereignissen. In "Garten, Asche", dem vorher verfassten ersten Buch der Trilogie, mischt sich dieser Blick mit der Perspektive des Schriftstellers, der sich mit dem Kind identifiziert – das fügt sich zu einer aufregenden literarischen Form, einer Erzählhaltung, die das Geschehen in einen eigenen Kosmos überführt. "Sanduhr" schließlich ist das formal ambitionierteste Buch. Es gibt keine Erzählerstimme, es gibt nicht den äußeren Blick auf die Ereignisse, sondern ein quasi objektives Festhalten. In mehreren, collagehaft zusammengestellten Kapitelfolgen entsteht ein komplexes Gesamtbild, das vor allem durch die kleinen Details, die Einzelszenen geprägt wird und nicht durch die große historische Erzählung. Manche Motive tauchen in allen drei Romanen auf. Wer zunächst "Garten, Asche" liest, wird aber vor allem durch einen unerwarteten, ungewohnten Ton gebannt.
    Zitat:
    "Da höre ich aus der Küche die Mohnmühle und rieche Vanille und den Mohn, den Mutter mahlt, und ich zweifle nicht mehr daran, dass wir fahren werden. Denn Mohnkuchen bedeutet, dass wir verreisen. Da stehe ich schnell auf und gehe in die Küche, um Mutter zu helfen und mit einem Löffelchen die Reste der Füllung aus dem Topf zu kratzen. Der Tag vergeht in feierlichem Fieber. Anna wickelt gekochte Eier in Papierservietten, unser gelber Schweinslederkoffer steht auf dem Tisch. Es riecht nach gegerbtem Leder und nach Leim, und auf der Innenseite des Deckels changiert die gelbbraune Seide des Bezugs in hellen Tönungen; es riecht nach Minze, Naphtalin und Kölnisch Wasser. Die Sachen stehen gepackt auf dem Tisch. Der Koffer ist mit Gurten verschnürt. Neben ihm die Reisetasche und die Thermosflasche. Der Mohnkuchen erfüllt das Zimmer mit seinem Duft: er befreit seine Seele, die aus dem Pulver exotischer Gewächse, aus Vanille, Zimt und Mohn besteht, und diese Gewürze, deren Herkunft mir völlig unbekannt ist, zeugen mit ihrem üppigen Dahinsterben – es ist, als würde jemand einbalsamiert – von der feierlichen Erhabenheit des Reisens, dem sie zum Opfer gebracht wurden, wie Thymian."
    In diesen Szenen aus der frühen Kindheit scheint eine verlorene Welt auf, in der wie aus der Ferne die Essenzen einer Proustschen Weltwahrnehmung erkennbar sind – die Farben, die Formen, die Geschmäcker, die Düfte üben einen starken Reiz aus, in ihnen wird das Vergangene und nie wieder Erreichbare körperlich konkret. Die Suche nach einer verlorenen Zeit, die Danilo Kiš unternimmt, leitet die Proustschen Skalen, Farben und Zustände sanft ins ehemalige Habsburgische über. Kiš' Kindheitswelt, obwohl sie in der Grenzregion zwischen Ungarn und Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit verortet ist, ist noch durch und durch vom Altösterreichischen geprägt, vom Vielvölkerstaat und einem Konglomerat aus verschiedenen Sprachen und Kulturen. Aber es handelt sich keineswegs um eine Idealisierung. Die Schatten der Geschichte sind immer zu spüren, vor allem die prekäre Situation, in der sich die Juden befinden. Dennoch gibt es Selbstverständlichkeiten des Nebeneinanders. In der Perspektive von "Garten, Asche" entfalten die in der Erinnerung aufbewahrten Gegenstände, Szenen und Begebenheiten einen Sehnsuchtsraum, der mit einer glücklichen Kindheit identifiziert werden kann. Der habsburgische Mohnkuchen tritt an die Stelle von Prousts Madeleine. Aber die Proustsche Erinnerungssinnlichkeit, die anschmiegsamen Satzschleifen und Bilderketten sind bei Kiš mit den geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts durchtränkt, und das ergibt einen spezifischen schmerzlichen Unterton.
    Zitat:
    "Die Kastanienbäume in unserer Straße berührten sich mit den am weitesten ausgestreckten Zweigen und bildeten einen Säulengang. Wie Efeu wuchs Laub über die zwischen den gewaltigen Arkaden aufgespannten Gewölbe. Die ganze Architektur stand während der Tagundnachtgleiche oder auch an gewöhnlichen windstillen Tagen unbeweglich und stabil in ihrer kühnen Konstruktion da, nur die Sonne jagte von Zeit zu Zeit ihre nutzlosen Bandilleras durch das dichte Laub. Schräg und kreuz und quer drangen sie durch das Geäst, flimmerten noch einen Moment, vom eigenen Schwung getragen, lösten sich auf und tropften wie flüssiges Silber auf das Kopfsteinpflaster. Wir gehen unter diesen feierlichen Gewölben hindurch – feierlich sind sie und leer – und beeilen uns, die Hauptverkehrsadern der Stadt zu erreichen. Stille, die erhabene Festlichkeit eines feiertäglichen Vormittags. Noch schlafen hinter herabgelassenen, staubigen Jalousien Postbeamte und Handelsgehilfen. Wir gehen an Erdgeschosswohnungen vorbei, sehen uns an und lächeln voller Respekt: durch dunkle, wehende Vorhänge und Ziehharmonikaläden dringt das Röcheln der letzten Schläfer."
    Der Vater mutiert zur gewaltigen, mythischen Figur
    Wenig später brechen die zerstörerischen politischen Ereignisse über die Familie herein. Das Einzigartige von Kiš' Prosa besteht darin, dass sie ganz nah an der unerhörten, rätselhaften, charismatischen Figur des Eduard Sam bleibt, dass die geschichtlichen Vorgänge nie als solche thematisiert werden. Kiš' Roman verwebt in einem unauflöslichen Zusammenhang realistische Vorgänge mit absurden, surrealen, grotesken Sprachfäden. Dadurch erscheint die historische Katastrophe umso eindringlicher. Der Schmerz lässt in der Erinnerung den Vater zu einer großen, gewaltigen, mythischen Figur mutieren. Eduard Sam ist gleichzeitig ein hochkarätiger Wissenschaftler, ein Bohemien, ein Magier und ein Verzweifelter. Er symbolisiert die jüdische Existenz, er symbolisiert die ehemalige osteuropäische Alltagskultur, er symbolisiert den Wahnsinn seiner Zeit. Danilo Kiš spielt auf einer sämtliche Höhen und Tiefen differenziert ausmessenden Sprachklaviatur. Phantasmagorische Szenen gehen über in realistische Detailbeschreibungen. Und durch virtuose Aneinanderreihungen, durch eine überraschende Form der Aufzählung werden Erkenntnis und Sinnlichkeit gleichermaßen transportiert. Diese Sprache hat etwas Musikalisches. Und hier ist, als Randnotiz, durchaus auch Kritik an dieser verdienstvollen Ausgabe angebracht. Denn die ursprüngliche Übersetzung von "Garten, Asche" wurde leider überarbeitet. Man hielt es offenkundig für notwendig, exakter zu sein. In der ursprünglichen Übersetzung von Anton Hamm aus dem Jahr 1986 heißt es im ersten Absatz des Buches:
    "Wer das Tablett hielt (und das war meistens meine Mutter), musste unter den Kuppen der dicht anliegenden Daumen mindestens drei-vier halbkugelförmige Ausbuchtungen spüren, ähnlich den Buchstaben des Blindenalphabets. Hier, um diese Knospen herum, hatte sich eine ringförmige Fettschicht angesetzt, kaum sichtbar, gleichsam der Schatten dieser kleinen Kuppeln. Diese winzigen Ringe von einer Farbe wie der Schmutz unter den Fingernägeln stammen von Kaffeesatz, Lebertran, Honig und Scherbet. Auf der glatten und glänzenden Oberfläche der Platte zeichnen sich in Form dünner Halbmonde Spuren von Gläsern ab, die eben erst von ihrem Platz gerückt worden waren."
    Dieselbe Passage lautet jetzt so:
    "Wer das Tablett hielt (und das war meistens meine Mutter), dürfte unter den Kuppen der aufliegenden Daumen mindestens drei, vier kugelige Ausbuchtungen gespürt haben, ähnlich den Buchstaben des Blindenalphabets. Um die Knospen herum hatten sich Fettringe angesetzt, kaum sichtbar, wie Schatten. Die schmalen Ringe, dunkel wie der Schmutz unter Fingernägeln, stammten von Kaffeesatz, Lebertran, Honig und Scherbet. Dünne Mondsicheln auf der glatten, glänzenden Oberfläche zeigten, wo eben noch Gläser gestanden hatten."
    Hier ist der Ton ein völlig anderer. Die atmosphärisch dichten Umkreisungen, die bei der Übersetzung von Anton Hamm eine unverwechselbare Stimmung heraufbeschwören, sind jetzt in eine bloße Benennung übergegangen, mit ungelenken Verkürzungen und Einschüben. Es gibt keine Melodie mehr. Wo man vorher ein Cello hörte, hört man jetzt ein paar Streicherkratzer. Besonders prekär wird das in einer anderen, bereits zitierten Szene. Bei Anton Hamm hört es sich so an:
    "Damals, als er über den Damm ging, in seinem schwarzen Gerock, den Stock durch die Luft schwingend, schwankend wie ein Mastbaum, mit seinem bereits vergilbten Kautschukkragen, seiner eisengefassten Brille, ins Leere starrend – damals trat mein Vater in die Landschaft hinein wie in einen Bilderrahmen, vollkommen entmythologisiert."
    Und die Überarbeitung lautet so:
    "Und wie er so über den Damm ging, in seinem schwarzen Gehrock, den Stock durch die Luft schwingend, schwankend wie ein Schiffsmast, mit seinem vergilbten Kautschukkragen, seiner Nickelbrille, ins Leere starrend, trat mein Vater in die Landschaft wie in ein gerahmtes Bild und verlor jeglichen Zauber."
    Die einfachere Übersetzung verfälscht den Inhalt
    Anton Hamm hebt durch seinen Satzbau das zentrale Bild am Schluss hervor. Außerdem wirkt die Fassung "trat in die Landschaft hinein wie in einen Bilderrahmen" eleganter als "trat in die Landschaft wie in ein gerahmtes Bild". Besonders stark aber fällt das letzte Wort ins Gewicht. Bei Anton Hamm ist der Vater "vollkommen entmythologisiert", in der Neufassung hingegen "verlor" er "jeglichen Zauber". Und das hat eine Konnotation, die dem Geist des Textes nicht entspricht. Der Vater verliert bei Danilo Kiš nie seinen Zauber. Aber er kann gelegentlich entmythologisiert werden, und das ist etwas ganz anderes. Die vermeintlich einfachere, zugänglichere Fassung verfälscht also den Inhalt. Dennoch – dies ist der einzige Schatten, der auf die neue Ausgabe fällt. Die beiden großen Werke, die Kiš nach seiner Vater- und Kindheitstrilogie veröffentlicht hat, haben eine völlig andere Sprache und sind sehr gut übersetzt: Bei "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" ist die Fassung von Ilma Rakusa aus dem Jahr 1983 beibehalten und zusätzlich mit einem für die englischsprachige Ausgabe verfassten Vorwort von Joseph Brodsky ergänzt worden. "Enzyklopädie der Toten", eine Sammlung von Erzählungen über paradigmatische menschliche Schicksale, wurde von Katharina Wolf-Grieshaber für diese Ausgabe neu übersetzt, und hierfür sind die Argumente triftiger.
    Mit "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" hat sich Danilo Kiš einem völlig anderen historischen Kapitel zugewandt: dem Totalitarismus unter Stalin, den Irrwegen der kommunistischen Idee. Das Buch löste im Jugoslawien der späten 70er-Jahre eine heftige Diskussion aus. Kiš erzählt in seinem Buch mit dem Untertitel "Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte" die Biografien russischer, polnischer, ungarischer, irischer und meist jüdischer Revolutionäre, kommunistischer Idealisten, die im stalinistischen Gulag endeten. Auch dieses Mal geht Kiš von historischen Fakten aus, um sie in einen größeren erzählerischen Zusammenhang zu stellen. Leitmotive spielen dabei eine besondere Rolle. Es entsteht eine ästhetische Durchdringung der Realität, die sie mehr erhellt, als es ein purer Tatsachenbericht vermöchte. "Seine Kunst ist niederschmetternder als jede Statistik", schreibt Joseph Brodsky in seinem Vorwort.
    Zitat:
    "Nowskij zu brechen war für Fedjukin eine Ehrensache, eine Herausforderung ersten Ranges. Während seiner langen Karriere als Untersuchungsrichter hatte er es stets geschafft, Rückgrat und Willen auch der Hartnäckigsten zu brechen (weshalb man ihm auch die härtesten Fälle anvertraute); doch Nowskij stand vor ihm wie ein wissenschaftliches Rätsel, wie ein unbekannter Organismus, der sich – im Rahmen seiner bisherigen Praxis – völlig erwartungswidrig und atypisch verhielt. (Zweifellos gab es in Fedjukins respektheischenden Spekulationen – bedenkt man seine bescheidene Ausbildung – wenig Angelesenes, weshalb ihm auch teleologische Überlegungen völlig fremd waren; er empfand sich lediglich als Urheber jener Doktrin, die er in die einfachen und allgemein verständlichen Worte fasste: "Auch der Stein wird reden, wenn man ihm die Zähne herausschlägt."
    Als dieses Buch in Jugoslawien erschien, begann eine Kampagne gegen Kiš, unter dem Deckmantel eines Plagiatsvorwurfs. Hintergrund war, dass sich auch manch jugoslawischer Funktionär von den geschilderten Parteipraktiken angesprochen fühlte. Kurz darauf verließ der Autor Jugoslawien und ließ sich in Paris nieder. Dass er viel zu früh an Lungenkrebs starb – er lebte exzessiv und war ein starker Raucher – ist ein bedeutender Verlust. Die jugoslawische Tragödie hatte er schon beschrieben, bevor es zu dem Bürgerkrieg in den 90er-Jahren kam. Jegliche Form von Nationalismus war ihm zuwider, und als Sohn kulturell sehr unterschiedlich geprägter Eltern stand er für eine jugoslawische Utopie, die vorerst gescheitert ist. Man braucht aber kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass Kiš' Werk für die Bewohner des ehemaligen Jugoslawien ein Schlüssel bleiben wird, um den Zugang zur eigenen Geschichte zu finden. Und gleichzeitig ist es ein ästhetisches Monument, das in seiner genauen, sinnlichen und musikalischen Sprache etwas Zeitloses hat.
    Danilo Kiš: "Familienzirkus. Die großen Romane und Erzählungen"
    Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ilma Rakusa
    Hanser Verlag, München 2014
    907 Seiten, 34,90 Euro