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Buch der Woche
Der Zauber des Gewöhnlichen

Mutmaßungen über die Sorgen einer Kuh, die Farbe von Tiefkühlerbsen oder alter Fisch - Lydia Davis ist eine Meisterin der alltäglichen Beobachtungen. Mit "Kanns nicht und wills nicht" sind nun vier Bücher von ihr auf Deutsch erhältlich.

Von Sacha Verna | 26.10.2014
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    Die amerikanische Schriftstellerin Lydia Davis (picture alliance / dpa / Theo Cote/Droschl)
    Fische zum Beispiel: "Alte Frau, alter Fisch. Der Fisch, der mir den ganzen Nachmittag im Magen gelegen hat, war, als ich ihn zubereitete und aß, so alt, dass es mich nicht zu wundern braucht, dass mir unwohl ist - eine alte Frau, die einen alten Fisch verdaut."
    Oder: "Hausübung, zweite Schulstufe: Mal' diese Fische an. Schneide sie aus. Stanze in jeden Fisch oben ein Loch. Zieh' ein Band durch alle Löcher. Binde die Fische zusammen. Nun lies, was auf den Fischen geschrieben steht: Jesus ist ein Freund. Jesus versammelt Freunde um sich. Ich bin ein Freund von Jesus."
    Fische ziehen sich wie ein silberner Faden durch Lydia Davis' Werk. Sie tauchen als Wesen auf, die einen zu moralischen Entscheidungen zwingen, weil man die wenigsten von ihnen noch bedenkenlos essen kann - vorausgesetzt man isst überhaupt Fisch, was manche tun und sich trotzdem Vegetarier nennen. Fische machen einsam, wenn sie wie Sardellen stark riechen, oder sie machen krank, wenn jemand Forelle "almondine" bestellt, der keine Nüsse verträgt. Fische erleiden auf Speisekarten einen zweiten gewaltsamen, grammatikalischen Tod, wo junger Kabeljau auf Englisch als "schrod" bezeichnet wird anstatt korrekt als "scrod", und das ausgerechnet in einer Gegend, zu deren Spezialitäten junger Kabeljau gehört. Fischen ist, wie eine Anthologie von Nachrufen zeigt, ein erstaunlich beliebtes Hobby.
    Lydia Davis schreibt seit 40 Jahren Geschichten, die eigentlich keine sind. Der längste Text in ihrer neuen Sammlung umfasst 34 Seiten, der kürzeste trägt den Titel "Haushaltsführungskontrolle" und ist zwei Zeilen lang: "Unter all diesem Schmutz ist der Boden wirklich sehr sauber."
    Universelle Wahrheiten und Nichtigkeiten
    "Kanns nicht und wills nicht" ist Lydia Davis' siebter Band mit Erzählungen. Wie immer geht es darin um alles und nichts, um universale Wahrheiten und um die Nichtigkeiten, aus denen sie zusammengesetzt sind. Dazu zählen Fahrten im öffentlichen Nah- und Fernverkehr, Leichenbestatter und Roland Barthes und die Musik von Georg Friedrich Händel als Ursache ehelichen Unmuts. Selten haben die Geschichten eine Handlung, meistens haben sie ein Motiv. Sie sind entschieden im Diesseits angesiedelt und häufig von jenseitiger Komik: "Mittelalterliche Geschichte lernen: Sind die Sarazenen die Ottomanen? Nein, die Sarazenen sind die Mauren. Die Ottomanen sind die Türken."
    Was macht eine Erzählung zu einer Erzählung? Diese Frage drängt sich auf angesichts von Lydia Davis' Werk. Aber es ist die falsche. Die Richtige lautet: Was macht eine Erzählung zu einer Erzählung von Lydia Davis? Die Antwort darauf ist keine, und doch die einzig richtige, nämlich: Dass sie von Lydia Davis stammt, macht eine Erzählung zu einer von ihr. Diese Autorin hat eine Form für sich erfunden, in die alles passt, was sie dafür aussucht. Es ist eine Form, die sich selber definiert.
    "Die Sprache der Telefongesellschaft: Das Problem, das Sie unlängst gemeldet haben, funktioniert jetzt tadellos."
    Das Erzählen scheint immer bei der Autorin selbst zu beginnen.
    "Stories" nennt Lydia Davis ihre Geschichten. Nicht "short stories", Kurzgeschichten, obschon viele davon wirklich kurz sind und sie sich damit in eine hehre Tradition stellen würde. Lydia Davis lässt sich durchaus mit berühmten Vorläufern vergleichen. Sie verfügt über die Lakonie von Raymond Carver und über die Doppelbödigkeit von John Cheever. Mit Zeitgenossen wie George Saunders verbindet sie eine Affinität zum Skurrilen, und wie bei Alice Munro scheint das Erzählte immer bei ihr selber zu beginnen.
    "Bloomington": "Nun, da ich mich hier seit kurzem aufhalte, kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich noch niemals hier war."
    Das ist ein Ich, dem eine geografische Erleuchtung widerfährt.
    "Kontingenz (versus Notwenigkeit) 2: Im Urlaub": "Es könnte mein Mann sein. Aber er ist nicht mein Mann. Er ist ihr Mann. Und so macht er ein Foto von ihr (und nicht von mir) in ihrer geblümten Strandgarderobe vor der alten Festung."
    Das sind die ontologischen und messerscharf modallogischen Überlegungen eines Ichs kurz vor dem Sonnenstich. Lydia Davis dirigiert ein ganzes Ensemble von Ichs, die dieselbe Bühne von ihr beleuchtete Bühne bespielen.
    Die meisten Autoren schaffen Universen, die sie ihrer stilistischen Bearbeitung unterziehen. Die einen spezialisieren sich auf Neurosengärten mit modernistischem Touch, die anderen auf Paartänze im Cyberspace, und die dritten mögen apokalyptische Szenarien im Anklagemodus. Das Entscheidende bei Lydia Davis ist der Blick. Sie betrachtet die Welt leicht schief und durch die Lupe. Was unter diese Lupe gerät, überrascht immer wieder und ebenso sehr, wie das, was die Vergrösserung offenbart. Es kann das Ego sein:
    "Meisterin": "Du willst Meisterin sein', sagte er. 'Nun, du bist keine Meisterin.' Das verpasste mir einen Dämpfer. Sieht so aus, als müsste ich noch eine Menge lernen."
    Es können Kühe sein: "Jeder neue Tag, an dem sie aus dem hinteren Teil des Stalls hervorkommen, ist es wie der nächste Akt oder der Beginn eines gänzlich neuen Stücks."
    Darauf folgen 88 Notizen voller Wiederkäuer-Dramatik und subversiver Bukolik: Mutmaßungen über die Sorgen einer Kuh, Studien von Kuh-Hintern, Bilder von Kühen im Schnee. Es ist ein Krimi für Koma-Patienten, nur dass dieses Protokoll aus dem Küchenfenster selbst Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte packt.
    Verseuchte Brunnen, Psychiater und Pfirsich-Tarte
    "Kanns nicht und wills nicht" ist in fünf Kapitel unterteilt, von denen jedes rund zwei Dutzend Prosastücke enthält. In der Art von Lydia Davis' früheren Erzählungsbänden funktioniert auch dieser wie ein gelungenes Varieté. Die einzelnen Nummern kontrastieren und komplementieren die übrigen.
    "Der alte Staubsauger gibt bei ihr ständig den Geist auf": "Der alte Staubsauger gibt bei ihr ständig den Geist auf/jedes Mal wieder/bis ihm die Putzfrau endlich/Angst einjagt, indem sie ihn anschreit:/"Motherfucker!"
    Diese Vignette wird eingerahmt von einer Geschichte über eine Goldgräbergeisterstadt, verseuchte Brunnen und Psychiater sowie einem 32 Zeilen langen Satz über Gustave Flauberts Umgang mit dem beschränkt-singulären Blickwinkel.
    Dieser französische Schriftsteller ist für Lydia Davis in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen hat sie einige seiner Werke ins Englische übersetzt, zuletzt "Madame Bovary". Zum anderen oder eben deshalb tritt Flaubert in „Kanns nicht und wills nicht" wiederholt auf. Diese „Geschichten von Flaubert" basieren auf Briefen des Autors, mit denen sich Lydia Davis gewisse Freiheiten erlaubt hat. Sie hat Passagen ausgelassen oder kombiniert und hier und da ein wenig von "Madame Bovary" eingefügt.
    Prosa, Lautgedichte und twitterkompatible Haikus
    "Die Lehre der Köchin (Geschichte von Flaubert)": "Heute wurde mir eine grossartige Lehre zuteil; unsere Köchin war die Lehrerin. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt und eine Französin. Als ich sie fragte, fand ich heraus, dass sie nicht weiß, dass Louis-Philippe nicht mehr König von Frankreich ist und wir nun eine Republik haben. Und doch ist es fünf Jahre her, dass er vom Thron stieg. Sie sagte, die Tatsache, dass er nicht mehr König sei, interessiere sie nicht im Geringsten - so ihre Worte. Und ich bilde mir ein, ein intelligenter Mensch zu sein! Aber verglichen mit ihr bin ich ein Schwachkopf."
    Ein weiteres wiederkehrendes Element bilden Träume:
    "Die Grossmutter": "Jemand mit einer grossen Pfirsich-Tarte ist zu meinem Haus gekommen. Er hat auch ein paare andere Leute mitgebracht, einschließlich einer alten Frau, die sich über den Kies beklagt und danach mit viel Mühe ins Haus getragen wird. Bei Tisch lässt sie im Gespräch mit einem Mann die Bemerkung fallen, dass sie seine Zähne hübsch finde. Ein anderer Mann schreit ihr immer wieder ins Gesicht, aber sie hat keine Angst, sondern wirft ihm bloß vernichtende Blicke zu. Zuhause stellt sich später heraus, dass sie beim Verzehr von Cashew-Nüssen aus einer Schale auch ihre Hörhilfe mitgegessen hat. Obwohl sie fast zwei Stunden lang auf ihr herumgekaut hatte, war es ihr nicht gelungen, sie so zu zerkleinern, dass sie sie schlucken konnte. Als sie schlafen ging, spuckte sie sie in die Hand ihres Pflegers und erklärte ihm, diese Nuss sei schlecht."
    Manchmal unterscheiden sich Träume kaum vom Stoff aus der wirklichen Welt.
    Alle von Lydia Davis' Texten sind sorgfältig gegliedert. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass darin nichts zufällig und jedes Komma sorgfältig gesetzt ist. Besonders die Kürzestgeschichten erinnern in ihrem Erscheinungsbild oft an Gedichte. Manche sind beinahe Gedichte, ja sogar Lautgedichte:
    "Notizen eines langen Telefongesprächs mit Mutter":
    "für den Sommer sie braucht/
    hübsches Kleid Cotton/
    cotton nottoc/coontt/tcoont//toonct/tocnot tocnont/tocton/contot"
    Ruf als "stille Gigantin" und "meistgeschätzte Unbekannte"
    Lange galt Lydia Davis in den Vereinigten Staaten als "stille Gigantin", als "meist geschätzte Unbekannte". Bestsellerautoren wie Jonathan Franzen und Dave Eggers schwärmten von ihr und die Kritik sowieso. Inzwischen haben auch Nicht-Eingeweihte sie entdeckt. Die Twitter-Kompabilität von Lydia Davis' "Stories" ist nicht ungefährlich. Die Geschichten sind meistens amüsant und manchmal ein bisschen rätselhaft. Sie laden zum Nachdenken ein oder auch nicht, auf jeden Fall sind sie auf die Schnelle geniessbar. Tatsächlich lauern die Bonmots bei Lydia Davis gelegentlich gleich um die Ecke. Dass sie dort bleiben, spricht für die Autorin. Sie hält sich ans Prinzip der Angemessenheit. Keine ihrer Geschichten ist der Witzigkeit halber witzig, kaum eine davon wirkt wie eine verunglückte Haiku-Ambition. Hier wird gesagt, was gesagt werden muss, und zwar so, wie es gesagt werden muss.
    "Urteilsvermögen": "Auf welch kleinem Raum sich das Wort Urteilsvermögen zusammendrängen lässt: Es muss in ins Gehirn eines Marienkäfers passen, da er, vor meinen Augen, Entscheidungen fällt."
    Eines von Lydia Davis' Standard-Ichs ist eine Schriftstellerin, die an einer Universität eine ungeliebte Stelle als Literaturdozentin hat und selten viel Geld. Sie bewirbt sich um Stipendien und bekommt manchmal welche. Es gibt Literaturpreise und noch öfter gibt es keine:
    "Kanns nicht und wills nicht": "Unlängst erkannte man mir einen Literaturpreis nicht zu, weil man behauptete, ich sei faul. Mit faul meinte man, dass ich zu viele Schmelzworte verwendete: So schreibe ich zum Beispiel die Wörter kann es nicht und will es nicht nicht aus, sondern zöge sie zu kanns nicht und wills nicht zusammen."
    Dieses Ich verbittert zu nennen, wäre verfehlt. Die Haltung dieser Figur gleicht eher der von Herman Melvilles Bartleby, dem Schreiber. Das "Ich möchte lieber nicht" von Lydia Davis Figur gilt allerdings weniger dem Leben an sich als seinen Ansprüchen. Oder besser: Dieses Ich verweigert sich dem Großen und widmet sich dem Kleinen. Lydia Davis hat die Obsession zur Kunstform erhoben und die Sublimation des Alltäglichen zu ihrer Spezialität gemacht.
    "Die Sprache der Dinge im Haushalt": "Die Waschmaschine im Schleudergang: 'Pakistani, Pakistani!' (...) Ein Löffel, mit dem man Hefe in einer Schüssel umrührt: 'Unilateral. Unilateral.' (...)Wasser, das durch den Abfluss der Küchenspüle weggesaugt wird: 'Dvořák.'
    Wer hätte gedacht, dass sich hinter Saugnäpfen, Parmesanstreuern und Orangensaftbehältern ganze UNO-Vollversammlungen und Orchester verbergen? Lydia Davis schenkt all jenen Dingen Aufmerksamkeit, die einem erst auffallen, wenn man sie wahrnimmt. Das mag paradox klingen, doch verpasst man unendlich viel mehr, als man sich zu sehen die Zeit nimmt.
    "Ihr Geburtstag": "105 Jahre alt: Sie wäre heute nicht am Leben, selbst wenn sie nicht gestorben wäre."
    Besser also, man sperrt die Augen Ohren auf, so lange man kann.
    Beobachtung des Alltags
    Wäre die Literatur eine Zeitung der 1920er-Jahre, fände man Lydia Davis' Stücke darin unter dem Strich. Dort, auf der ersten Seite und eben buchstäblich unter einem Strich, brachte zumal die deutsche und die österreichische Presse täglich die Feuilletons von Flaneuren und die Aperçus von Kaffeehausliteraten, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Dieser Platz gehörte nicht den Nachrichten über vergangene oder drohende Kriege oder gewesene Könige. Hier herrschte der Zauber des Gewöhnlichen. Es war das Gebiet von Autoren wie Alfred Kerr, Franz Hessel und Siegfried Kracauer, von Joseph Roth und Alfred Polgar. Es ist sicher kein Zufall, dass Lydia Davis mit Peter Altenberg und Robert Walser selber zwei Schriftsteller übersetzt hat, die unterm Strich brillierten und das Nebensächliche zur Hauptsache erklärten – wie Lydia Davis:
    "Falsches Dankeschön im Theater": "Während sich das Theater für die Vorstellung füllt, erhebe ich mich im hinteren Teil des Zuschauerraums von meinem Sitz, um eine Frau zu ihrem Sitz in der gleichen Reihe vorbeizulassen. 'Danke', sagt sie. 'Mmm-hmm!', sage ich zur Bestätigung.
    Aber ich habe missverstanden. Sie hat nicht mir gedankt, sie hat der Platzanweiserin gedankt, die ein paar Fuss hinter mir steht. 'Nein, ich habe sie gemeint', sagt sie, ohne mich anzusehen. Sie wollte das bloss klarstellen.
    Da ist die beste Vorstellung schon gelaufen, bevor die eigentliche beginnt.
    Viele von Lydia Davis' Figuren haben feste Ansichten und beharren unerbittlich auf Kleinigkeiten. Gedanken werden ad absurdum geführt und Beobachtungen zu mikroskopischer Makulatur. Der literarische Reklamationsbrief ist deshalb eine ideale Gattung, die Lydia Davis vielleicht nicht erfunden, ganz bestimmt aber zur Perfektion gebracht hat. Niemand beklagt sich eloquenter über die unattraktive Abbildung auf einer Packung Tiefkühlerbsen als Lydia Davis' Tiefkühlerbsenkonsumentin in ihrem Schreiben an den Produzenten.
    "Brief an einen Tiefkühlerbsen-Produzenten": "Sehr geehrter Tiefkühlerbsen-Produzent,
    wir schreiben Ihnen, weil wir der Meinung sind, dass die auf Ihrer Packung Tiefkühlerbsen abgebildeten Erbsen farblich höchst unattraktiv sind. Wir beziehen uns dabei auf die Halbkilo-Packung, auf der drei oder vier Schoten abgebildet sind, eine davon aufgeplatzt, so dass ein paar Erbsen neben ihr herausgerollt sind. Mit ihrem stumpfen Gelb-Grün haben die Erbsen eher die Farbe von Erbsensuppe als die von frischen Erbsen und entsprechen farblich so gar nicht den Erbsen Ihrer Packung, deren Färbung von einem frischen Dunkelgrün ist."
    Mit geradezu chirurgischer Präzision nimmt die Schreiberin daraufhin die Erbsen auf und in der Packung auseinander. Sie stellt die Qualität der letzteren jener der ersteren gegenüber und zieht zur Unterstützung ihrer Argumente überdies die Verpackungen anderer Firmen Tiefkühlerbsen-Produzenten hinzu. Ähnlich wissenschaftlich geht sie in einem Brief an den Hersteller von Pfefferminzbonbons vor, der seine Old Fashioned Chewy Peps in einer roten Blechdose verkauft, in der sich statt der angegebenen "etwa 74" Bonbons nur gerade 51 befinden. So präsentiert Lydia Davis, sei es als Doña Quijote der Tiefkühlerbsen oder als Spießbürgerin, die sich übers Ohr gehauen fühlt, einem wieder und wieder die Petrischale der überlebenswichtigen Trivialitäten.
    "Die Polenta": "Heute Morgen haben sich auf der Unterseite des durchsichtigen Tellers, der auf einer Schüssel mit heißer, gekochter Polenta lag, Tröpfchen von Kondenswasser gebildet: Also wird auch sie auf ihre bescheidene Art und Weise aktiv."
    Einen Roman hat Lydia Davis verfasst. Er hieß "The End of the Story" und erschien 1995 auf Englisch, 2009 als "Das Ende der Geschichte" auf Deutsch. Er handelt von einer älteren Schriftstellerin, die einem jüngeren Liebhaber nachtrauert und zugleich versucht, darüber einen Roman zu schreiben. Der Roman leidet an der Konventionalität von Beziehungskrämpfen. Dem "Ende der Geschichte" fehlt das Funkeln der Geschichten. Lydia Davis' Stärke ist das Buffet. Es ist das Smörgåbord aus überfahrenen Hähnen, vergessenen Geburtstagen und Anleitungen zum Lesen alter Ausgaben des Times Literary Supplement. Es sind die vermischten Meldungen aus dem Dasein eines Erdenwesens, ob im Traum- oder im Wachzustand oder mit einem direkten Umweg über Gustave Flaubert.
    Mit "Kanns nicht und wills nicht" sind nun vier Bücher von Lydia Davis auf Deutsch erhältlich. Sie alle hat Klaus Hoffer aus dem Englischen übersetzt. Ihm gelingt es dabei, nahe am Original zu bleiben, ohne der Sprache ihre Beweglichkeit zu nehmen. Er trifft den Ton, und das ist ziemlich schwierig bei einer so detailversessenen Autorin, in deren Texten Töne erwartungsgemäß nicht nur im übertragenen Sinn eine zentrale Rolle spielen:
    "Kurze Begebenheit betreffend das kurze a, das lange a und den Schwa-Laut": "Aschfahler Kater betrachtet entspannt lange, schwarze Ameise. Mann starrt angespannt Kater und Ameise an. Ameise naht entlang Pfad. Ameise halt! Ratlos. Ameise Abgang – gradaus katerwärts. Kater: Alarm! Abstand. Mann standhaft, lacht. Ameise auf und davon. Kater abermals entspannt, betrachtet Ameise abermals."
    Auf Englisch klingt das Stück so: "Brief Incident in Short a, Long a, and Schwa": "Cat, gray tabby, calm, watches large black ant. Man, rapt, stands, staring at cat and ant. Ant advances along path. Ant halts, baffled. Ant backtracks fast – straight at cat. Cat, alarmed, backs away. Man, standing, staring, laughts. Ant changes path again. Cat, calm again, watches again."
    Lydia Davis' Geschichten teilen die Bartleby-Natur der Figuren, die sie bevölkern. Sie verweigern sich Rundum-Interpretationen und eignen sich nicht für kanonische Klassenfahrten. Sie sind einzigartig und vieldeutig, autonom und überall zu Hause. Ironie und Melancholie prägen diese Prosa, ob Lydia Davis über die Angst vor dem Tod im Flugzeug schreibt oder über die Redundanz eines warmen roten Feuers. "Doktorat": "All die Jahre dachte ich, ich hätte ein Doktorat. Aber ich habe kein Doktorat."
    Das macht nichts. Vor dieser Literatur zieht man trotzdem den Hut.
    Lydia Davis: Kanns nicht und wills nicht. Stories. Droschl Verlag, Graz 2014. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. 304 Seiten. 23 Euro.