Freitag, 19. April 2024

Archiv

Buch der Woche
Die Lizenz zum Grauen mit dem Siegel von Otranto

Mit seinem 1764 erschienenen Melodram "The Castle of Otranto" begründete der Engländer Horace Walpole ein neues Genre: den Schauerroman. Er machte quasi die Gänsehaut gesellschaftsfähig. Und Generationen von Autoren wie Anne Radcliffe, Edgar Allen Poe oder E.T.A. Hoffmann orientierten sich an ihm.

Von Sacha Verna | 03.08.2014
    Blick von Marazion aus auf die Burg auf der Felseninsel St. Michael's Mount in Cornwall.
    Düstere Burgen dürfen in Schauerromanen nicht fehlen. ( picture-alliance / dpa / Jörg Schmitt)
    "Ach! Gnädiger Herr! Der Prinz! Der Prinz! Der Helm! Der Helm!"
    Das klingt nicht gut, und es kommt noch schlimmer:
    "Bestürzt über diese Klagelaute und voller Furcht vor dem Ungewissen trat (Manfred) hastig hinzu – aber was offenbarte sich da dem Auge des Vaters: Er sah sein Kind zerschmettert und schier begraben unter einem riesigen Helm, welcher zu hundert Malen grösser war als jede für Menschen gemacht Sturmhaube und den eine fügliche Menge schwarzer Federn bedeckte."
    Die Zeit ist die der Kreuzzüge. Der Ort ist Italien, und die Szene eröffnet, was heute als erster Schauerroman der Literaturgeschichte gilt. Es geschieht tatsächlich eine Menge Schauerliches in Horace Walpoles fantastischem Melodrama. Rüstungen rasseln Treppen hinauf und hinunter, Statuen bluten aus der Nase und Porträtierte verlassen seufzend ihre Bilderrahmen.
    Doch zunächst zu den Familienverhältnissen:
    "Manfred, der Fürst von Otranto, hatte einen Sohn und eine Tochter. Die letztere, eine ausnehmend liebreizende Jungfrau von achtzehn Jahren, ward Matilda genannt. Conrad, der Sohn, zählte drei Jahre weniger - ein biederer Jüngling, kränklich und ohne versprechende Anlagen; gleichwohl war er der Liebling seines Vaters, welcher niemals irgends Zuneigung gegen Matilda erzeigte. Manfred hatte seinem Sohn ein kontraktlich Verlöbnis auferlegt mit Isabella, der Tochter des Marquis von Vicenza; und deren Vormünder hatten sie bereits in die Hände Manfreds gegeben, auf dass er, sobald es Conrads schwache Gesundheit erlaubte, die Hochzeitsfeierlichkeiten ins Werk richten möchte."
    Der Tag, an dem der riesige Helm mit Federbusch aus dem Himmel fällt und Conrad unter sich begräbt, hätte der Hochzeitstag des jungen Paares werden sollen. Entsprechend groß ist die Bestürzung darüber, dass durch dieses Unglück eine Braut ihres Bräutigams, ein Vater seines Sohnes und alle übrigen eines kostenlosen Festmahls beraubt worden sind. Besonders Manfred zeigt sich betroffen, allerdings weniger, weil er soeben sein Kind verloren hat, als aus Sorge über die Thronfolge, die nun nicht mehr gesichert ist.
    "Das Schloss und die Herrschaft Otranto [...] dem iezigen Geschlecht soll kommen ab Handen, so wie der würckliche Innhaber zu groß worden, darinne zu hausen."
    Was diese alte Prophezeiung bedeutet, weiß niemand genau. Doch scheint sie der Grund für Manfreds Versessenheit auf einen Erben zu sein und auch der Grund dafür, dass er kurzerhand beschließt, sich von seiner Frau Hippolita scheiden zu lassen, und Isabella selber zu heiraten. Darauf folgt eine Tragödie der Irrungen und Wirrungen. Manfred erweist sich als Usurpator, der wahre Herr von Otranto taucht auf, zarte Liebensbande werden geknüpft und jäh zerfetzt.
    Erst in der zweiten Ausgabe zum Werk bekannt
    "A Gothic Story" nannte Horace Walpole sein Werk in der zweiten Ausgabe. In der ersten Ausgabe von 1764 war "The Castle of Otranto", "Das Schloss Otranto" noch einfach "A Story", "Eine Geschichte". Walpole, ein geschätztes Mitglied des britischen Parlaments und ein wohlhabender Junggeselle, gab sich darin als Übersetzer namens William Marshal aus:
    "Das gegenwärtige Werk fand sich in der Bibliothek einer alten katholischen Familie im Norden Englands. Gedruckt wurde es in Fracturlettern zu Neapel, anno 1529. Um wie viel eher die Niederschrift erfolgte, ist nicht bekannt."
    So schreibt Horace Walpole alias William Marshal im Vorwort und beruft sich dabei auf einen gewissen Onuphrio Muralto, Kanon der Sankt Nicholas Kirche in Otranto, der seinen Text auf Erzählungen aus dem 13. Jahrhundert zurückführt. Solche komplizierten Versteckspiele waren unter Verfassern von Unterhaltungsliteratur damals durchaus üblich. Nach dem überraschenden Erfolg seines Erstlings trat Horace Walpole allerdings hinter den Pseudonymen hervor:
    "Das Misstrauen in die eignen Fähigkeiten und das ihm Neue seines Versuchs waren die einzigen Anlässe, sich dieses Mäntelchen umzuhängen, daher er der Hoffnung lebt, dass sein Beginnen entschuldbar sei. Er überließ das Werk dem unparteiischen Urteil des Publicums, entschlossen, es im Fall einer Missbilligung der Vergessenheit anheimzugeben, aber auch nicht gesonnen, viel Wesens darum zu machen, wenn anders nicht bessere Richter verkünden sollten, er könne sich ohne Erröten dazu bekennen."
    In der Vorrede zur zweiten Ausgabe bekennt sich Horace Walpole also ohne zu Erröten zu seinem Werk und zu noch viel mehr. Ihm schwebt nämlich nichts Geringeres vor als die Erschaffung einer neuen Gattung:
    "... ein Versuch, die beiden Arten von Romanen einander zu vermengen, die alte und die neue."
    Spuk und Realismus verbinden
    Mit der alten Art von Romanen meint Horace Walpole Fabeln, Märchen und Romanzen, mit der neuen die durch und durch diesseitigen Daseinsberichte, die der Belletristik, die von der gebildeten Schicht missbilligt worden war, eben erst zu etwas Respekt verholfen hat. Einbildungskraft und Aufklärung, Spuk und Realismus - sie sollen in Horace Walpoles "Gothic Story" zusammenfinden, auf dass es ein Ende habe mit dem, was er beklagt:
    "... dass, in allen inspirierten Dichtungen, die Personen unter dem Walten von Wundern und als Zeugen erstaunendster Phänomene niemals das Ansehen menschlichen Characters verlieren; dahingegen in den romanhaften Productionen, ein unwahrscheinliches Ereignis niemals verfehlt, in Begleitung eines vernunftwidrigen Dialogs zu sein."
    Horace Walpole plädiert für Vernunft und Vergnügen, für natürlich wirkende Figuren und übernatürliche Phänomene.
    Am natürlichsten wirkt in Otranto das Schloss. Das ist kein Wunder, denn als Modell dafür, so wird vermutet, hat Horace Walpole sein eigenes Anwesen am Ufer der Themse gedient. "Strawberry Hill" hieß der Landsitz, den Walpole zu einem Monument des neugotischen Furors umbaute, der ihn und andere Briten Mitte des 18. Jahrhunderts packte und Freunde klarer Linien und klassizistischer Symmetrie um die ästhetische Gesundheit der Nation fürchten ließ.
    Ob Strawberry Hill, Traum- oder Alptraumhaus, die Kulisse ist entscheidend für das, was sich davor abspielt. Wo Türme wie Teufelshörner in den Gewitterhimmel ragen, wo schwere Holztüren zuschlagen und Zimmerfluchten im dunklen Nichts enden, kann nur Verhängnisvolles im Anzug sein. Ein Kloster gehört mit dazu, ebenso ein Labyrinth unterirdischer Kreuzgänge, die das verfluchte Schloss und den Ort Gottes miteinander verbinden.
    Das Ensemble, das diese Bühne betritt, entstammt halb Hamlet und Macbeth, halb Absurdistan und dem Kabarett. Manfred ist ein Tyrann und als solcher machtbesessen, brutal und unberechenbar. Die Frauen sind tugendhaft und fallen in Ohnmacht. Theodore, der Held und rechtmäßige Herrscher über Otranto, ist mutig, selbstlos und galant. Der Mönch und Hüter des Klosters, Vater Jerome, ist gütig, aber schwach, und die Dienstboten sind dumm und geschwätzig.
    Schloss Warwick in Mittelengland
    Schloss Warwick in Mittelengland (Claudia Dichter und Antje Deistler)
    "Der große Meister der Natur, Shakespeare, war das Modell, welchem ich nacheiferte."
    Immerhin ist Horace Walpole nicht bescheiden in seinen Ansprüchen. Geister gibt es bei Shakespeare tatsächlich zuhauf, aber eben auch Geist und Vielschichtigkeit, und damit sind Walpoles Akteure nicht im Übermaß gesegnet.
    "'Jacquez und ich, gnädiger Herr -'
    'Jawohl, ich und Diego', unterbrach der zweite, der in noch ärgerer Verstörung hinzutrat."
    Die beiden sind damit beauftragt, Prinzessin Isabella zu suchen, die vor Manfred und der drohenden Ehe mit ihm ins nahe Kloster zu Vater Jerome geflohen ist.
    "'Sprecht nur einer auf einmal', gebot Manfred; 'ich frage euch, wo ist die Prinzessin?'
    'Das wissen wir nicht', erwiderten die beiden aus einem Munde; "aber wir sind vor lauter Furcht ganz außer Verstand.'
    'Das denke ich mir, ihr Schafsköpfe', sprach Manfred; 'was ist’s darüber ihr so in Schrecken seid?'
    'Ach, gnädiger Herr', entgegnete Jaquez, 'Diego hat eine Erscheinung gesehen!'
    'Was sind das wieder für Alfanzereien?' rief Manfred; 'tut mir genaue Antwort, oder, bei Himmel –'
    'Sehr wohl, gnädiger Herr, wenn Euer Hoheit, belieben, mich anzuhören', erwiderte der arme Tropf, 'Diego und ich –'
    'Ja, ich und Jacquez –' rief sein Gefährte."
    An die Komik der Totengräber bei Shakespeare kommt Horace Walpole mit diesen beiden Hampelmännern nicht heran. Doch sorgen die dämlichen Diener und abergläubischen Kammerjungfern im Schloss von Otranto für ein Lächeln vor dem Sturm. Horace Walpole:
    "Nach meiner bescheidenen Meinung setzt der Gegensatz zwischen der Erhabenheit der Helden und der Naivität der Untergebenen das Pathos der ersteren in grelleres Licht. Die große Ungeduld, die ein Leser empfindet, da ihn die derben Lustbarkeiten des agierenden Pöbels daran hindern, zur Kenntnis der bedeutsamen Katastrophe zu gelangen, deren er sich bereits versieht: Sie bestärkt ihn vielleicht seiner Teilnahme, gewiss aber beweist sie ihm, dass es der Kunst gelungen sei, sein Interesse am drohenden Ereignis zu wecken."
    Die Männer toben, die Frauen schluchzen
    Weniger kalkuliert dürfte die Lachnummer sein, die "Das Schloss von Otranto" auch ohne Hofnarren darstellt. Horace Walpole präsentiert sämtliche Emotionen seines vom Schicksal gebeutelten Personals mit mindestens drei Ausrufezeichen. Die Männer toben, die Frauen schluchzen, alle schlottern, und gemäßigt geht gar nichts. Neben dem Stammbaumgewirr in diesem Roman schrumpft jeder Dschungel zum Zierwald. Und selbst gestandene Troubadoure würden von Zungenkrämpfen befallen, müssten sie an gezierten Konversationen wie den folgenden herumformulieren:
    "Halt ein! Edle Prinzessin", sprach Theodore",
    der Isabella zur Flucht vor Manfred verhilft,
    "und beug nicht den Nacken vor einem hab- und freudlosen jungen Mann. Hat mich der Himmel zu deinem Erretter erkoren, so soll er sein Werk mit Glimpf vollenden und mir den Arm zu deinem Frommen stärken."
    "Ach! Worauf geht Euer Sinn, mein Herr?" fragte sie. "Zwar Euer Handeln ist edel, und Euer zierlich Empfinden kündet die Lauterkeit Eurer Seele, aber geziemt sich’s, dass ich Euch gänzlich allein in diese verworrenen Schleichecken begleite? Finde man uns beisammen, was würde die tadeleifrige Welt von meinem Betragen halten?"
    Isabella und Theodore befinden sich in einem stockfinsteren Tunnel, Manfreds Häscher sind ihnen auf den Versen:
    "Isabella! Hoiho! Isabella!"
    Und die beiden tauschen Artigkeiten aus, anstatt endlich von dannen zu eilen.
    "Ist wer da unten?" fragte die Prinzessin; "wenn ja, so sprich.'
    "Ja", gab eine unbekannte Stimme zur Antwort."
    Diesmal spricht Manfreds Tochter, Prinzessin Matilda, die ein Seufzen gehört hat und nun aus dem Fenster schaut. In die Kammer unter ihr ist Theodore vorübergehend eingesperrt.
    "Wer ist’s?" fragte Matilda.
    "Ein Fremder", erwiderte die Stimme.
    "Was für ein Fremder?" fragte die Prinzessin; "und wie kommst du zu so ungewohnter Stunde hierher, wo doch die Schlosstore sämtlich verriegelt sind?"
    "Ich bin nicht aus freien Stücken hier", versetzte die Stimme. "Aber um Vergebung, Mamsell, dass ich eure Ruhe gestört; ich wusste nicht, dass ich Zuhörer habe. Der Schlaf war mir entfleucht; ich hab’ mein rastloses Lager verlassen und wollt’ die ermüdenden Stunden darauf wenden, dem lieblichen Nahen des Morgens entgegenzuharren, voll Ungeduld, aus diesem Schloss beurlaubt zu werden."
    Mittelalterliches Bettgeflüster? Eine vor-viktorianische Turtelei?
    "Deine Worte und Reden", sagte Matilda, "haben einen Anflug von Schwermut; bist du unglücklich, so dauerst du mich." [...]
    "Ich bin allerdings unglücklich", sagte der Fremde; [...] "Aber ich klage nicht über das Los, welches der Himmel mir zugeteilt; ich bin jung und gesund und schäme mich nicht, mein Fortkommen mir selbst zu verdanken – aber wähnt nicht, ich sei stolz. [...] In meinen Gebeten wird’ ich Euer eingedenk sein und Fürbitte tun, dass Segen falle auf Eure gütige Person – wenn ich seufze, Mamsell, so über andere, nicht über mich selbst."
    Erinnerungen an surrealistische Stummfilmexperimente
    Nach diesem innigen Austausch sind Matilda und Theodore sterblich in einander verliebt. Auch das ist keine Shakespeare’sche Balkonszene und führt überdies zu einer Reiberei zwischen Matilda und Isabella, die sich ebenfalls in Theodore verguckt hat, dann aber zugunsten ihrer Freundin großmütig auf den Jüngling verzichtet.
    Es geht um menschliche Erfahrungen und übermenschliche Gewalten. Horace Walpole bringt beides öfter durcheinander, als dass er es harmonisch miteinander kombiniert. Seinen Ruf als Klassiker verdient "Das Schloss von Otranto" trotzdem. Ja: Gerade die Übertreibung und die Verzerrung machen das Wesen des Genres aus, dass dieser Roman begründet. Bei Horace Walpole nehmen Dinge und Gestalten buchstäblich überdimensionierte Formen an. Am Anfang ist es der tödliche Helm, und am Schluss, wenn die Schlossmauern hinter Manfred zusammenkrachen, wächst der Rächer von Otranto über die Trümmer hinaus und zieht himmelwärts. Da denkt man an die surrealistischen Stummfilmexperimente der 1920er-Jahre, nicht ans georgianische England oder an Rittertourniere. Oder man denkt an den Untergang des Hauses Usher und an Edgar Allen Poe – zu Recht.
    Auf die Trümmer des Schlosses von Otranto haben Generationen von Autoren nach Horace Walpole gebaut. Ein Unhold; eine verfolgte Unschuld; Geistliche und überhaupt religiöse Anspielungen und Requisiten; ein Fluch oder ein vertuschtes Verbrechen: Diese Zutaten zählen seit Walpole zum Grundrezept der "Gothic Literature". Vor allem braucht die Schauerliteratur angelsächsischer Prägung ein Otranto, einen Schauplatz mit angemessen gespenstischer Atmosphäre. Sind die Geschichten in ferner Vergangenheit angesiedelt, umso besser.
    "Die Welt ist eine Komödie für jene, die denken, aber eine Tragödie für die, die fühlen",
    lautet ein häufig zitierter Satz von Horace Walpole. Im Schloss von Otranto halten sich Tragisches und unfreiwillig Komisches die Waage. Allerdings wird eindeutig mehr gefühlt als gedacht.
    Auf Gespenstergeschichten für denkende Leser spezialisierte sich unmittelbar nach Horace Walpole Anne Radcliffe. Diese Landesgenossin Walpoles holte in Romanen wie "The Mysteries of Udolpho" die Metaphysik für die Rationalisten ihrer Epoche auf den Boden zurück und bot ihnen für jeden Schrecken eine Erklärung. Matthew Gregory Lewis, ein anderer von Walpoles Schülern, erklärte nichts, bemühte sich aber umso mehr um grausige Anschaulichkeit.
    Je weiter sich Autoren vom grob gehauenen Fundament Otrantos entfernten, desto unverwechselbarer wurden ihre Werke. Ob "Die Drehung der Schraube" von Henry James oder Daphne du Mauriers "Rebecca", ob Mary Shelleys "Frankenstein" oder "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde" - keine dieser höchst unterschiedlichen Erzählungen weist sämtliche Gattungsmerkmale der "Gothic Literature" auf, manche gar keine, und doch ist Walpoles Geist in ihnen allen zu spüren.
    Neugotische Schnörkel zum literarischen Debüt
    Dasselbe gilt für den deutschen Sprachraum, wo die romantische Schauerliteratur mit E. T. A. Hoffmann zweifellos ihre unheimlichsten und schönsten Blüten trieb. Davor hatten sich schon andere mit Nachtstücken versucht, darunter sogar Friedrich Schiller in seiner unvollendeten Novelle "Der Geisterseher". Die Grotesken von Hans Heinz Ewers, Gustav Meyrink oder Alfred Kubin mögen mit Horace Walpoles Urtext nur noch sehr entfernt verwandt sein. Auch ihre Lizenz zum Grauen trägt aber irgendwo das Siegel von Otranto.
    "Die Tür war nur angelehnt; der Abend düster und mit Wolken verhangen."
    Im Schloss von Otranto stehen die Untoten interessanterweise alle im Dienst des Guten.
    "Als er sacht die Tür aufschob, sah er eine Gestalt vor dem Altar knien. Er trat näher; es schien keine Frau zu sein, sondern ein Unbekannter in einem langen hären Gewand, welcher ihm den Rücken zukehrte. Die Gestalt war offenbar in ein Gebet versunken."
    "Er" ist Frederic, der Marquis von Vincenza, ein anderer älterer Herr, der eine junge Frau begehrt, nämlich Matilda, und diesen Wunsch deren Mutter mitzuteilen gedenkt:
    "Ehrwürdiger Vater, ich suche die gnädige Frau Hippolita."
    "Hippolita!" erwiderte eine hohle Stimme; "bist du zu diesem Schloss gekommen, um Hippolita zu suchen?" Hierauf dreht sich die Gestalt langsam um und offenbarte Frederic den fleischlosen Rachen und die leeren Augenhöhlen eines Geripps, gehüllt in die Mönchskutte eines Klausners.
    "Ihr Engel des Himmels, behütet mich!" rief Frederic zurückschaudernd.
    "Verdiene dir ihre Hut!" sprach die Spukgestalt".
    Frederic sank auf die Knie und beschwor das Phantom, sich seiner zu erbarmen.
    "Was muss ich tun?"
    "Matilda vergessen!" sprach das Phantom – und verschwand.
    Horace Walpoles Geister erweisen sich als Jugend- und Tugendwächter, was man von den meisten, die nach ihnen kommen, nicht mehr behaupten kann.
    Schauerliteratur lässt sich hervorragend psychologisieren. Geschichten über Gespenster, Vampire und existenzielle Grenzregionen eignen sich für archaische Ängste, Aberglaube und das Freud’sche Es gleichermaßen als Interpretationsvehikel. Vor zu viel klinischer Analyse sei im Schloss von Otranto allerdings abgeraten. Zu amüsant ist der jenseitige Optimismus, der allen Oh-Weh’s zum Trotz darin herrscht und zu kurios das Happyend, das an dieser Stelle natürlich nicht verraten wird.
    Hans Wolf hat den Roman für diese deutsche Neuausgabe übersetzt. Das englische Original ist in absichtlich staubigem Englisch gehalten, und Hans Wolf hat den altertümelnden Ton beibehalten. Durch die sprachlichen Spinnenfäden tritt die Künstlichkeit des Werkes noch stärker hervor, worunter die künstlerischen Aspekte gelegentlich leiden. Doch damit ist zu rechnen bei einem Stoff aus dem 13. Jahrhundert, der ein italienischer Kleriker des 16. Jahrhunderts erstmals in Druck gegeben und ein Übersetzer im England des 18. Jahrhunderts gefunden haben will. Die neugotischen Schnörkel passen zum literarischen Debüt eines Lebemannes, der sich neben William Shakespeare stellt:
    "Nach allem Gesagten verbleibt mir nur noch, mich mit meinem eignen Wagstück getreu an die Richtschnur des hellsten Genius zu halten, welchen mein Vaterland immerhin hervorgebracht hat. Ich hätte wohl anführen können, mir als dem Schöpfer einer neuen Romangattung stehe es frei zu entscheiden, welche Regeln ich zu ihrer Behandlung für tauglich befinde: Allein, mein Stolz gilt mehr dem Umstand, einem so meisterhaften Muster, wenngleich ohne dessen Glanz, dürftig und nur von ferne, gefolgt zu sein, als der Freude über das volle Verdienst der Erfindung – gesetzt, ich vermochte meinem Werk den Stempel sowohl des Genius als auch der Originalität aufzudrücken.
    Also schrieb Horace Walpole und machte die Gänsehaut gesellschaftsfähig.
    Horace Walpole: "Das Schloss Otranto – Ein Schauerroman"
    Mit einem Nachwort von Norbert Miller
    Aus dem Englischen übersetzt von Hans Wolf
    C.H. Beck Verlag, München 2014
    182 Seiten. 15.95 Euro