Freitag, 19. April 2024

Archiv

Buch der Woche
Ein Schatz, von dem sich lange zehren lässt

Kein anderer hat das Reden über Popmusik hierzulande so stark geprägt wie Diedrich Diederichsen. Ganz eigenwillig und neu schrieb der Kritiker über Pop-Musik, indem er den Gegenstand wirklich als eigenständige Kunstform ernst nahm. Die Arbeit an Diederichsens neuestem Werk "Über Pop-Musik" soll mehr als zehn Jahre in Anspruch genommen haben.

Von Ulrich Rüdenauer | 11.05.2014
    Eine Discokugel, aufgenommen am 04.12.2012 in München (Bayern)
    Diedrich Diedrichsen hat "Über Pop-Musik" geschrieben. (dpa picture alliance / Tobias Hase)
    Unserem Musiklehrer, einem redlichen Mittdreißiger, konnte man am Vollbart, dem C&A-Pullover und einer weiten Hose aus dickem Cord ansehen, dass er sich von allem Jugend- und Popkulturellen schon frühzeitig verabschiedet hatte. Vielleicht war er auch nie in Gefahr geraten, damit in Berührung zu kommen. Das wäre nicht weiter schlimm. Aber er war dennoch nicht ganz frei von jenem pädagogischen Impetus, der Lehrer manchmal dazu verleitet, sich bei ihren spätpubertären Zöglingen beliebt machen zu wollen. Es muss in der zehnten Klasse gewesen sein, als er die Idee hatte, mit uns eine Schulstunde lang in eine ihm fast gänzlich unbekannte Welt einzudringen: Die Terra Incognita hörte auf den Namen Popmusik. In den Jahren zuvor hatten wir Volkslieder geträllert, etwas über die Sonatenhauptsatzform gelernt, die Geschichte der Sinfonie für Klassenarbeiten memoriert, wir konnten das Leuchten in den Augen unseres Lehrers sehen, wenn er uns Beethoven, Mozart und Schubert vorspielte und erklärte, wie wir uns als zivilisierte Menschen bei einem klassischen Konzert zu benehmen hätten. Ein gewisser Stolz auf seine progressive Didaktik, gepaart mit Unbehagen, war ihm anzumerken, als er eine Schallplatte von Queen auflegte. Als Freddie Mercury und seine Chorbrüder das Intro von "Bohemian Rhapsody" schmetterten, als wollten sie den Wiener Sängerknaben Konkurrenz machen, dozierte unser Musiklehrer anerkennend mitten in die Aufnahme hinein. Popmusik, sagte er, müsse nichts mit Krach und unausgebildeten Stimmen zu tun haben, sondern könne tatsächlich harmonisch intelligent und musikalisch anspruchsvoll sein. Intuitiv war unsereinem klar, dass der Mann nichts verstanden hatte. Und hätte man damals die intellektuelle Kapazität und zudem Diedrich Diederichsens neues Buch zur Hand gehabt, man hätte dem Musiklehrer ganz ruhig und sachlich folgendes entgegenhalten können:
    "Pop-Musik basiert auf einfacher Musik. Es geht um etwas anderes als darum, mit Musik-als-Musik jemanden zu beeindrucken. Oft geht es um die Negation von klassischen musikalischen Effekten: das Ausbleiben einer melodischen Schließung, das Ausbleiben oder Verzögern des B-Teils, der Bridge, des Chorus oder darum, durch die Hegemonie des Rhythmischen das Melodische und Harmonische (und so das konventionellerweise eigentlich Musikalische) in den Hintergrund zu verbannen, zu dienenden Funktionen zu degradieren. Im Gegensatz zu populärer Musik im alten Sinne (Schlager, Folklore), die auf die Melodie-Effekte des Liedes und seiner musikalischen Mnemotechnik setzen, und im Gegensatz auch zur E-Musik, die auf die nicht-triviale Gestaltung und Bestimmung des Klangmaterials setzt, benutzt und produziert die Pop-Musik musikalische Zeichen nicht im Hinblick auf ihren Eigenwert, ihr jeweiliges expressives oder mnemotechnisches Vermögen, sondern greift auf vorgefundene, oft vernutzte, entleerte, billige musikalische Ideen zurück. Sie tut dies vor allem in allen Erneuerungsphasen wie Punk oder Techno."
    Womit wir mitten im Zentrum dessen wären, was Diedrich Diederichsen in seinem Buch "Über Pop-Musik" zu beschreiben versucht. Pop-Musik definiert Diederichsen als eine "andere Sorte Gegenstand", genauso weit entfernt vom Populären und der Musik-Musik, also notierten, klassischen Musikformen. Sie ist einerseits Teil der Kulturindustrie, andererseits deren Störelement.
    "Man versuchte natürlich sehr lange, die neue Pop-Musik und ihre Reize, die Reize des Rock'n'Roll, des Phil-Spector-Pop, des Motown-Soul, des Blues-Rock etc. als musikalische Errungenschaften zu beschreiben; mithin als Leistungen von Musikern, Songwritern, Instrumentalisten. Dass sich noch heute Pop-Rezensenten wundern, jemand sei faszinierend und könne doch gar nicht singen, zeigt, wie tief dieses Missverständnis sitzt."
    Biographischer Aspekt bleibt bewusst ausgespart
    Bei Pop-Musik geht es eben nicht allein um Musik, noch nicht einmal primär um diese, so Diederichsen. Sie greift auf bereits vorhandenes Material zurück. Es geht um mehr und anderes. Es geht um Sounds und Posen. Um Rhythmus, der einigen Apologeten ernster Musik wie Adorno immer suspekt war oder den sie als reine "Zählzeit" missverstanden haben. Und es geht um das ganze, das eigene Leben. Noch bevor der erste Akkord auf der Gitarre erlernt ist, übt der Pop-Star in spe schon vor dem Spiegel die richtigen Gesten. Pop-Musik sei genau die Musik, bei der man wissen will, wie der Sänger aussieht, sagt Diederichsen. Deshalb kann man sie nicht den Musikwissenschaften als Untersuchungsobjekt anvertrauen. Sie verhält sich zur Musik wie die Fotografie zur Malerei oder das Kino zum Theater. Diese zentrale These exerziert der Mastermind des Pop, der hierzulande seit 35 Jahren als Übervater den Diskurs über das Genre prägt, aus verschiedenen Perspektiven durch: soziologisch, zeichentheoretisch, historisch, ästhetisch, auch politisch. Aus immer wieder neuen Richtungen zielt er auf seinen Gegenstand, tänzelt elegant um ihn herum und zieht dabei solch ellenlange Satzschleppen hinter sich her, dass man Sorge hat, er könne sich darin verheddern - was er aber im Gegensatz zum Leser niemals tut. Mit der kühlen Distanz eines Großphilosophen konstruiert er abstrakte Theoriemodelle, um sich kurz darauf in einen Science-Nerd zu verwandeln, der unterm Mikroskop feinste Risse und Mutationen in der Zellstruktur des Pop aufspürt. Er liest Adorno gegen Adorno, plündert Walter Benjamin, Roland Barthes und Charles Sanders Pierce für seine Zwecke, entdeckt in Sergej Eisensteins Montageverfahren bereits die Bausteine für sein Verständnis von Pop, mixt überhaupt im durchaus einschüchternd akademischen Diederichsen-Sound alle möglichen Denker zu einem Diskurs-Shake, der kräftig blubbert, meistens aber sehr gehaltvoll ist. Diederichsen definiert etwas sich Definitionen per se Entziehendes. Er verleiht seinem Untersuchungsgegenstand eine Relevanz, die ihm so noch nicht zugekommen ist.
    Was dabei zunächst überrascht: Der biographische Aspekt bleibt, anders als bei vielen Autoren und Journalisten, die sich über Pop-Musik geäußert haben, bewusst ausgespart. Die Theorie bindet die Erfahrung. Oder anders ausgedrückt: Das ursprüngliche, Interesse auslösende Hingerissensein, der subjektive Pop-Musik-Sozialisationsprozess ist zwar kondensiert in der exzessiven theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema enthalten, allerdings kaum noch sichtbar. Diedrich Diederichsens Studie "Über Pop-Musik" geht einen großen Schritt über das Zusammentragen von solchem das Ich konstituierenden Materials hinaus – es ist hier schon geordnet, eingeordnet. Und wenn Diederichsen sich doch einmal eine biographische Abschweifung ins eigene Leben als Fan erlaubt, dann nicht zur Selbstvergewisserung, sondern um aus diesem Moment etwas für seine Argumentation zu gewinnen. Gleichwohl wäre das Theoriegebäude ohne die gefährliche Primäransteckung mit den verschiedenen ästhetischen Komponenten des Pop gar nicht möglich. Deshalb steht am Anfang dieses eng bedruckten 450-Seiten-Klotzes die Schilderung des ersten Mals, eines Konzerts, das den damals 14-Jährigen 1971 in Hamburg, man muss es so ausdrücken, umgehauen hat:
    "Ganz anders erlebte ich den Auftritt der Hauptband, sie hieß Johnny Winter And. Es war ein Auf-Tritt. Winter sprang auf die Bühne wie ein wildes Pferd und rannte unruhig hin und her. Dabei stöpselte er seine Gitarre ein und stieß einen seiner Schreie aus. Diese Schreie waren keine expressiven Kitschschreie authentischer Individualität, sondern pure Soundeffekte, ein Erkennungszeichen. Dieses Erkennungszeichen, offensichtlich live und vor meinen Augen produziert, vereinigte sich mit diesem ebenfalls offensichtlich persönlich anwesenden Körper zu einem sehr kurzen, aber unglaublichen Moment von Präsenz, der mich - wie man so sagt, aber wirklich - erschauern ließ. Dieser bislang nur als medialer Effekt gekannte Winter-Sound, der nur von Fotos bekannte hagere Körper dieses strähnig langhaarigen Albinos erstanden plötzlich als miteinander verbundene Attribute eines sehr wirklichen Körpers vor unserer aller überraschter Augen. Ein Geist war herabgestiegen und benahm sich komisch. Mir stockte der Atem. Wenn ich so sagen darf."
    Pop-Musik sagt nein, indem sie ja sagt
    Dass hier vom stockenden Atem eines infizierten und damit initiierten Jugendlichen gesprochen wird, ist in diesem Buch fast schon das Höchstmaß an euphorischer Exaltation - obwohl Diederichsens Pop-Begriff ja grundsätzlich ein emphatischer ist. Aber schnell geht es zurück in die Gefilde von Academia. Diederichsen beschreibt dieses Erlebnis eben nicht als ein individuelles, das lediglich in die Arme einer Gemeinschaft führt und im Zweifel eine Durchgangsstation in einem bürgerlichen Entwicklungsroman hin zum Erwachsenenleben darstellt, sondern als die Erfahrung des Zusammenhangs zwischen diesem Ereignis und "seinen vielen Auslösern, Repräsentanten, Indikatoren, Illustrationen". Mit anderen, auch avancierten Beispielen konnte dieses erste Erleben wiederholt werden, "als Kunst".
    "Im Idealfall ist Pop-Musik ein Versprechen, das von einer Realität sowohl eingelöst als auch dementiert wird - und damit als Kunst auf den Unterschied von Kunst und Leben drastisch verweist, im Glücksfall zugunsten des Lebens. Und dies ist nur möglich, weil Pop-Musik Kunstform und Lebenswelt verbindet, zwischen beiden hin- und herspringt, weil Pop-Musik in der Negation und dem Dementi des Authentizismus authentisch sein kann."
    Wir haben es also mit einem Paradox zu tun. Pop-Musik sagt nein, indem sie ja sagt. Sie nutzt die vorhandenen kulturindustriellen Zusammenhänge, reagiert affirmativ auf sie und verweigert sich ihnen zugleich, indem sie mit ihnen spielt. Das macht sie wenn auch nicht immer zu etwas Widerständigem, so doch zu etwas Eigenständigem.
    Die Verbindung von hybrider Kunstform und Lebenswelt hat eine historische Geburtsstunde: Es ist der Moment Mitte der 1950er Jahre, in dem die Aufzeichnungstechnik - das Recording - aufs Fernsehen trifft, die massenmediale Bildproduktion. Als Elvis, zunächst bei Ed Sullivan noch zensiert ohne seinen shakenden Pelvis zu sehen, immer wieder über den Bildschirm flimmerte und bei den jugendlichen Zuschauern ein flirrendes Kollektiv-Gefühl erzeugte, war etwas Neues geschehen - die Fantasie, die sich aus Stimme, Plattencover, Zeitschriftenfotos nährte, wurde nun noch von Bewegtbildern befeuert. Die Fantasie ist aber Produkt einer subjektiven Arbeit.
    Anders als das Kino, das im Lichtspielhaus einen festen Ort hatte, gibt es in der Pop-Musik kein zentrales "medial-technisches Dispositiv". Der Fan muss sich die verschiedenen Komponenten aus Musik, Auftreten, Style, Haltung, die Klänge und Platten-Cover, Starfotos und das eigene Begehren selbst zusammen bauen. Das ist Pop - keine reine, für sich stehende Kunst, sondern eine immer wieder zu aktualisierende Bastelarbeit.
    Für Diederichsen ist diese rezeptionsästhetische Dimension das eigentlich Innovative und Aufregende an der Pop-Musik: Man brauche eine fanatische Neigung, um das Produkt aufzutrennen, einzelne Teile zu fetischisieren, andere zu verwerfen - und sich selbst bei dieser Tätigkeit zu beobachten. Melodie, Rhythmus, Text, die ekstatischen Verrenkungen des Gitarristen, die Frisur des Sängers - man nimmt, was man gebrauchen kann. Und in der Wiederholung und im Wiederhören finden immer neue Aneignungsprozesse statt, die aber stets auf vorhergegangene referieren. Diese Praxis lässt sich sowohl euphorisch als Selbstermächtigung eines Subjekts wie auch pessimistisch als ein Aufgehen in kulturindustriellen Zusammenhängen deuten. Diederichsen entscheidet sich in seinen Ausführungen gar nicht so sehr für die eine oder andere Seite, wenngleich die jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Gegenstand Pop-Musik für eine gewisse Faszination zumindest für diese Ambiguität spricht.
    Die produktionsästhetische Seite als technische Ermöglichung dieser neuen Form der Auseinandersetzung ist aber mindestens ebenso bedeutsam wie die Rezeptionsebene:
    "Es gibt auch einen medienhistorischen Punkt: Pop-Musik ist die Praxis, die aus der phonographischen Aufzeichnung ein Format ableitet, in dessen Mittelpunkt empirische, konkrete Personen stehen - zunächst repräsentiert durch die einmaligen Geräusche, die ihr Körper hervorbringt."
    Recording verschafft schwachen, bislang ausgeschlossenen Stimmen Gehör
    Diederichsen spricht vom "Indexikalischen" am Pop. Die Platte speichert das Individuelle des Sängers und Musikers, auch das Zufällige, nicht mehr Reproduzierbare, das Einzigartige - und verweist auf Haltungen, Bilder, ein Begehren schlechthin. Den besonderen Moment, in dem sich Offenheit ergibt, bezeichnet Diederichsen mit Roland Barthes als "Punctum". Unwillkürlich entstehen spezifische, affizierende Sounds, deren Wirkungen nicht planbar sind, die aber viel größere Bedeutung haben als etwa Melodiefolgen. Durch das Recording werden zudem schwache Stimmen, die bislang aus der Öffentlichkeit und der Kunst ausgeschlossen sind, vernehmbar.
    "Erst in der Pop-Musik ist aber das Verhältnis komplett umgedreht: Musik und Text werden zum Medium für die Form des Sounds und der Stimmindividualität -nicht des Stimmtalents, des Stimmkönnens wie in der Oper und anderen früheren Kunstformen. Die Dialektik dieser Entwicklung der Stimme besteht aber nun darin, dass ein zum Medium von Individualität degradierter Sinn dann, wenn er plötzlich verstanden wird, wenn auf ihn gezeigt wird, besonders zutreffend erscheint. Er kommt dann nämlich nicht aus dem Diskurs, in dem Einwände und Meinungen an der Tagesordnung sind, sondern aus dem Körper und von der Aura des Stars. Semantik wird so zum punktuellen Ereignis oder zur Offenbarung."
    Schwäche wird in Stärke verwandelt, indem das Authentische über ein Medium künstlich ausgestellt wird. Die Dimension der Stimme ist kaum zu überschätzen.
    "Diese Fixierung auf die Stimme, insbesondere die recorded Stimme, die zunächst durch keinerlei Ablenkungen anderer Körpergesten entgegengenommen und befragt werden kann, hat auch dazu geführt, dass in dem Gesamtkunstwerk ohne mediales Zentrum und ohne zentralisierende Medienarchitektur, als das sich die Pop-Musik meiner Auffassung nach darstellen lässt, der Stimme und dem Star am ehesten der Charakter eines Zentrums zukommt.
    Natürlich sind hier wie schon in den anderen Kapiteln mit 'Star' nicht nur die global bekannten Superstars gemeint, sondern jeder ehrgeizige kleine Kraucher, der sich der Pop-Musik bedienen möchte. Es ist keine Auszeichnung, sondern eine Berufsbezeichnung."
    Die Kapitel über Sounds und Stimmen gehören zu den bestechenden in Diederichsens Buch. Hier wird sehr genau herausgearbeitet, wie sich Pop-Musik von anderen Kunsttechniken unterscheidet, welche medialen Voraussetzungen sie hat und welche politische Dimension die Selbstermächtigung des Sängers haben kann. Die unerhörte Stimme als Lautsprecher in der Gesellschaft. Die Rolle, die er dem Musiker bzw. besser: dem Star zuerkennt, ist dabei eine höchst ambivalente, und gerade die Ambivalenz weiß der Fan zu goutieren: Ein immerwährendes Schwanken zwischen der Rolle, die der Star spielt, und einer realen Person. Ein Oszillieren zwischen Authentischem und Künstlichem, nur Gespieltem. Die aufgezeichnete Stimme und der Körper sind die Medien, über die diese Ambivalenz vermittelt wird.
    "An der Ideologie des Authentizismus - der das Nicht-Darstellen, Nicht-Lügen zum maßgeblichen Kriterium für gute Pop-Musik erhebt - wie an seinem zutiefst verwandten Gegenteil, Rock-Theater, scheitert Pop-Musik nicht nur regelmäßig, wird sie schlecht, nein, über sie gerät sie an eine bald langweilige, absolute Grenze, mit der zu spielen allerdings anfänglich attraktiv ist. Denn der Authentizismus ist zunächst ganz begreiflich: Der Index übermittelt ja tatsächlich authentische Spuren. Unmittelbarkeit ist das Versprechen der Pop-Musik, aber (diese) Unmittelbarkeit ist Ergebnis eines Mittels, ein Medieneffekt."
    Auch Vorläufer der Pop-Musik werden ausschweifend behandelt
    Unmittelbarkeit, allerdings weniger als Medieneffekt, gab es bereits bei den Vorläufern der Pop-Musik, denen Diederichsen ein ebenfalls interessantes und ausschweifendes Kapitel widmet. Darin geht es vor allem um den Jazz. Jazz begreift Diederichsen als eine Kunstform, die ihre Voraussetzungen "in der Demütigung" und in einer gespaltenen Artikulation finde - Jazz artikuliere immer die Stimme des sinnierenden, abgelenkten Subjekts in einer es kontrollierenden, verfolgenden Umwelt. Daraus folgert Diederichsen eine existenzielle Identität zwischen Performer und Performtem. Die Pop-Musik übernimmt zwar viele Elemente aus dem Jazz. Und doch gibt es einen großen Unterschied:
    "Die Pose ist nicht Symptom und Ergebnis einer bestimmten musikalisch-musikantischen Aneignung. Man sieht nicht so aus, wie man aussieht, weil man sich zuerst, ganz jenseits davon, irgendwie aussehen zu wollen, Klänge und Ausdrucksformen erobern wollte, sondern die Pose ist zuerst da. Pop-Musik erzeugt die narzisstische Fixierung darauf, so auszusehen, wie einer aussieht, der sich gerade etwas angeeignet hat; der, den Standard (die Familie, die Normalität, den Alltag, die Repression) im Blick, das Weite sucht. Dieses Heldentum durch Imitatio zu gewinnen, ist der Ausgangspunkt der Pop-Musik."
    Gelegentlich wurde von der Kritik nicht nur das Übergewicht theoretischer gegenüber am konkreten Material belegter Überlegungen bemängelt, sondern auch, dass Diederichsens Werk Züge von Narzissmus trage: Immerhin lasse er das Entstehen von Pop-Musik etwa mit seiner eigenen Geburt 1957 beginnen - und mit dem Abschluss seines Opus Magnum sei auch Pop an sein historisches Ende gekommen. Tatsächlich traut Diederichsen den neueren Entwicklungen in der von ihm so genannten postheroischen Phase der Pop-Musik keine allzu großen Inspirations- und Subversionspotentiale mehr zu, und eine größere Empirie hätte ihn vor diesem Urteil wohl kaum bewahrt. Möglicherweise sind die Varianten des Genres wirklich weitestgehend durchgespielt, ist die Offenheit - das Glücks- und Aufruhr-Versprechen, das Pop-Musik in der heroischen Phase der 60er- und 70er-Jahre noch gab - durch die Allverfügbarkeit von Pop-Musik ins Gegenteil gekippt. Pop lieferte seit den Sechzigern noch jeder Protestbewegung ihren Soundtrack. Heute ist schlechte Pop-Musik, die einem ja ebenso auf den Klos von Kaufhäusern entgegen schallt wie sie einen in den Telefon-Warteschleifen öffentlicher Ämter martert, die "zentrale Belästigung der Welt". Diederichsen stimmt tatsächlich einen Abgesang an. Pop-Musik mit ihren Ambivalenzen und Verheißungen könne allerhöchstens noch in kleinen Nischen überleben.
    "Schließlich waren alle so weit aufgeklärt, dass sie den Glauben an alle denkbaren inhärenten Verbindungen zwischen den spezifischen Formen der auf Pop-Musik bezogenen Gemeinschaftsbildung und benennbaren politischen Zielen verloren hatten. Umso massiver wurde der Phantomschmerz in den Zirkeln, die sich nach wie vor mit einem nun auch immer vielfältiger und gerade in den unübersehbar gewordenen Nischen der elektronischen Musik und anderer neuer Underground-Kulturen, oft in der sozialen Nähe von Bildender Kunst aufhielten. Die aus den Gegenkulturen und den Bohemes der 1950er und 1960er hervorgegangenen Ausdrucksmittel, deren immer weitere Verfeinerung, sowohl auf der rein musikalischen und technologischen Ebene wie auch als Musik der sozialen Skulptur, als Musik der gesellschaftlichen Ästhetik, konnte (sic!) unausgesprochen immer nur verstanden werden im Zusammenhang mit einem sozialen Korrelat, dessen Volumen, Dringlichkeit, Realität aber abnahm. Das Ergebnis: Die sozial-ästhetischen Techniken der Pop-Musik, die Routen und Breschen, die sie durch Kapitalismus, Urbanität, Sexualität, Erziehung geschlagen hat, hingen in der Luft. Wie ein Baum, dessen Wurzelwerk sich unausgesetzt weiter verzweigt, aber in keinem Erdreich mehr steckt."
    Es mag sein, dass ein paar Wurzeln doch wieder genügend Halt finden werden und man sich am dann erblühenden Bäumchen zumindest ein wenig festhalten kann. Eines steht jedenfalls fest: Wie nach Linné, um bei den Bäumen zu bleiben und ein bisschen zu übertreiben, die Biologie ihre Nomenklatur gefunden hatte und anders betrachtet werden musste, so ist in Zukunft die Pop-Musik nach Diederichsens Buch anders oder genauer oder weniger naiv zu hören. Etwas frustrierend und beglückend zugleich ist es zwar, dass einem bei der Fülle an Ideen und Verweisen zuweilen der Kopf zu platzen droht. Aber doch verbirgt sich in jedem Kapitel von Diedrich Diederichsens "Über Pop-Musik" ein zu bergender Schatz an Bedenkenswertem, Anregendem, Widersprüchlichem, auch Unausgegorenem, das weitergedacht werden kann. Es lässt sich sehr lange davon zehren.

    Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik
    Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2014
    468 Seiten. 39,90 Euro